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Loslassen lernen – geht das überhaupt ...? 21 Antworten von Psycholog:innen

Loslassen lernen: Zwei Hände in schwarz-weiß halten aneinander fest
© KieferPix / Shutterstock
"Wenn du auf einem toten Pferd sitzt, dann steig ab", sagt ein indianisches Sprichwort. Heftig, aber einleuchtend. Nur was, wenn das gar nicht so einfach ist? Kann man loslassen lernen? 21 Antworten.

1. Loslassen lernen: Warum ist das oft so schwer?

Weil es bedeutet, sich innerlich von einem Wunsch zu verabschieden. Und was kommt dann: die große Leere? Die große Freiheit? "Loszulassen macht Angst, weil wir etwas unwiderruflich verlieren könnten", erklärt die Berliner Forscherin und Psychologin Dr. Ann Elisabeth Auhagen*. Und Verluste sind für die meisten Menschen nun mal etwas Negatives.

2. Klingt einleuchtend, wer verliert schon gern etwas ...

Manchmal aber geht es nicht anders. Gelegentlich ist es leider so, dass wir uns quälen und alles versuchen – doch das, was wir uns wünschen, klappt partout nicht. Das Glück lässt sich nun mal nicht zwingen. Aber in dieser Situation haben wir die Wahl: Wie reagieren wir darauf? Wie begegnen wir dem Schicksal? Klammern wir weiter, obwohl es wirklich keinen Sinn mehr macht? Wenn wir gezwungen sind, uns von einem Traum (oder sogar einem Lebenstraum), einer Idee, einer Liebe zu verabschieden, liegt es letztlich an uns, mit welcher inneren Haltung wir den Umständen begegnen.

3. Was aber, wenn das unser allergrößter Wunsch ist, z. B. der nach einem Kind. Kann man dann überhaupt loslassen lernen?

Viele Frauen beschreiben ungewollte Kinderlosigkeit als die schwerste Krise ihres Lebens. Andererseits betrachten Psychologen solche Ereignisse gelegentlich auch als Sollbruchstellen unserer Seele. Sich mit so einem Lebensthema ernsthaft zu beschäftigen, zu ergründen, warum einem der Verlust so weh tut und wie man dennoch damit weiterleben kann, lässt einen reifen. "Auch hier hilft eine etwas andere Betrachtungsweise", sagt Auhagen. In schweren Krisen sieht die Psychologin die Chance, das eigene Leben neu zu überdenken. Sie rät deshalb, sich Fragen zu stellen wie diese: "Ist es vielleicht nicht gut für mich, Kinder zu haben, zumindest jetzt nicht?" Oder: "Welchen Sinn hat mein Leben? Welche Rolle spielen Kinder darin? Wie könnte ich den Sinn des Lebens anders definieren?" Auch wenn es manchmal noch so unverständlich erscheint: Manche Dinge stellen sich im Nachhinein als positiv heraus. Oder zumindest schließt man seinen Frieden damit. Bei diesem Prozess hilft oft die Erinnerung an etwas anderes, das nicht geklappt hat, worüber man heute froh ist.

4. Wie kann man über etwas froh sein, das nicht geklappt hat?

Fast jede von uns hat schon einmal erlebt, dass sie sich in den falschen Mann verliebte. Oder dass sie sich einen Job gewünscht hat, den dann jemand anders bekam. Zunächst ein Grund, schier zu verzweifeln. Ein paar Jahre später lässt sich mit Distanz zurückschauen: Was wäre eigentlich geworden, wenn ich damals mit diesem Mann zusammengekommen wäre? Oft erscheint das Schicksal im Rückblick erstaunlich gnädig. Mitten in der Krise kann man deshalb die Fantasie auch mal wandern lassen:

  • Wie sieht mein Leben in fünf Jahren ohne Kind aus?
  • Welche Chancen habe ich, wenn ich diesen Mann ziehen lasse?
  • Wie kann ich mich entwickeln, wenn ich mich aus einer Jobsituation löse, die mir schon länger nicht guttut?

Es geht nicht darum, sofort etwas zu ändern. Sondern die Gedanken auf die Reise zu schicken, zu ergründen, was sonst noch möglich wäre.

5. Und dann den Verlust positiv deuten? Wie soll das denn gehen?

"Ob etwas ein Verlust ist oder nicht, bestimmen wir selbst durch unser Denken und Fühlen", so Auhagen. Aber wir brauchen erst mal gar nichts zu bewerten, viel wichtiger ist zunächst, wie wir reagieren. Widerstand, Gespanntheit, Hysterie machen viele Dinge nur noch schlimmer. Im Aikido, der japanischen Kunst der Selbstverteidigung, lernen die Schüler, dass ihr Handeln umso wirkungsvoller ist, je weniger Widerstand sie leisten. So schlagen sie ihre Gegner mit ihren eigenen Waffen. Das Prinzip gilt auch für innere Kämpfe:

  • Wer aufhört, sich zu wehren, ist flexibler. Wer nicht mehr kämpft, sammelt neue Kraft.
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6. Vielleicht würde es sich aber doch lohnen, zu kämpfen ...

Wenn der Traum noch eine Chance hat, wenn es noch Hoffnung gibt, warum nicht? Los geht's! Aber viele kämpfen auch dann krampfhaft weiter, wenn es längst Zeit wäre, sich von ihrem Traum zu verabschieden, weil sie sich selbst innerlich damit fesseln.

7. Wie erkenne ich denn den Moment, in dem es Zeit wird, etwas ziehen zu lassen?

"Loslassen ist eine Frage der individuellen Ökonomie", sagt die Psychotherapeutin Irmtraud Tarr**. Wie viel ist man zu investieren bereit, und was bringt es? Das muss jeder für sich entscheiden. Aber grundsätzlich gilt: Wir sollten ziehen lassen, was uns lähmt und uns auf Dauer nicht guttut.

8. Warum hat Festhalten eigentlich so einen schlechten Ruf?

Weil es verhindert, dass wir uns innerlich weiterentwickeln. Dahinter steckt die Vorstellung, alles bliebe immer, wie es ist. Aber das Leben ist ein dauernder Wandel. Im Buddhismus beispielsweise lehren die Mönche, dass die menschliche Existenz "veränderlich und unvollkommen" ist. Da ist was dran: Genau betrachtet, zieht sich durch unser ganzes Leben ein ständiges Loslassen von Menschen, Orten, Gewohnheiten. Nichts bleibt für immer. Insofern ist Festhalten einfach keine besonders schlaue Überlebenstaktik.

9. Aber manchmal schadet es auch nichts. Nehmen wir zum Beispiel den Traum, sich selbstständig zu machen ...

Dann stellt sich die Frage, warum man nur davon träumt. Wenn es wirklich so ein großer Wunsch ist, sollte man ihn sich auch erfüllen. Mit einer Idee, Beharrlichkeit und Planung könnte das vermutlich jeder hinkriegen. Wenn der Wunsch allerdings ewig ein Luftschloss bleibt, ist Zweifel berechtigt: Ist der Traum wirklich so groß? Oder hängt man nur aus alter Gewohnheit noch dran. Dann wäre es höchste Zeit, ihn ziehen zu lassen.

10. Oft hat man schon ziemlich viel investiert. Dann kommt einem Loslassen wie ein riesiges Versagen vor ...

In der Wirtschaftswissenschaft gibt es dafür eine treffende Beschreibung: die Eskalation des Engagements. Heißt, weniger elegant: gigantische Fehlinvestition. Weil schon Unmengen Geld in einem Projekt verpulvert wurden, klammert man sich an die einmal gesteckten Ziele, auch wenn sie aussichtslos sind – aus Furcht, zugeben zu müssen, dass man sich geirrt hat. Das gibt's auch im Leben, zum Beispiel in der Liebe: Anfangs war es schön, dann kommen Jahre, in denen sich das Paar eigentlich nur noch streitet. Und irgendwann ist man an dem Punkt, an dem man überlegt zu gehen, aber innerlich aufwiegt: "Jetzt haben wir es schon so lange miteinander ausgehalten" oder "Wir haben doch das gemeinsame Leben: die Wohnung, die Kinder ..."

11. Aber ist es nicht eher Resignation, wenn man alles hinschmeißt?

Nein, darum geht es nicht. Viele Menschen denken, loslassen bedeute, das Schicksal stoisch zu akzeptieren. Das aber lässt keinen Protest, keine Rebellion, keine Neugier offen – und keine anderen Wege. Wer resigniert, macht sich klein. Reines Aufgeben ist lebensfeindlich, emotionslos. Wer im guten Sinne loslässt, geht zwar auf Abstand, aber nicht ohne Gefühle. Er bleibt weiter bei sich, hält die Augen offen und weitet sich innerlich, um neue Lösungen zu finden. Etwa in der Liebe: Loslassen kann bedeuten, sich zu trennen. Es kann aber auch heißen, sich von seinen festgefahrenen Vorstellungen von Beziehungen zu lösen, einen anderen Weg zu gehen, vielleicht eine Paartherapie zu beginnen. Oder sich mehr um sich selbst zu kümmern und nicht das ganze Leben auf die Partnerschaft zu beziehen.

12. Trotzdem scheint uns – egal bei welchem Thema – Festhalten näher zu liegen als loszulassen. Wieso eigentlich?

Weil Beharrlichkeit in unserer Kultur tief verankert ist. Wir werden von klein auf darauf getrimmt, uns durchzubeißen, auch wenn es weh tut. Die meisten Menschen lernen schon als Kinder, sich noch mehr anzustrengen, wenn etwas nicht klappt. Einfach mal zu sagen "Tut mir leid, funktioniert nicht" oder "Ich kann nicht mehr" haben wir nicht im psychischen Programm.

13. Wie komme ich von dem Gedanken los, mich immer weiter bemühen zu müssen?

Auf keinen Fall hilft es, wenn die Umgebung gut gemeint auf einen einredet: "Lass es sein, es hat keinen Sinn." Wir selbst müssen die Entscheidung treffen, etwas innerlich zu beenden. Das zu wollen ist wahnsinnig schwierig, weil wir ja meist innerlich noch an dem Wunsch hängen. Um etwas loszulassen, muss man sich den Gefühlen der Trauer und des Verlustes stellen. Das kann dauern. "Das Herz braucht dazu manchmal etwas länger als der Kopf", sagt Ann Elisabeth Auhagen. Erst recht, wenn der Verlust groß ist. Sich schnell zu trösten – zum Beispiel nach einer verlorenen Liebe gleich in die nächste Partnerschaft zu taumeln – bringt gar nichts. Erst muss das Erlebte innerlich abgeschlossen sein. Dann kann man loslassen.

14. Und oft klappt es ja dann merkwürdigerweise doch noch. Frauen mit Kinderwunsch zum Beispiel werden ja angeblich meistens schwanger, wenn sie schon gar nicht mehr daran glauben ...

Purer Zufall. Von der Vorstellung, man müsse nur locker lassen, dann würde es auch mit dem Baby klappen, hält Dr. Tewese Wischmann, psychologischer Psychotherapeut am Universitätsklinikum Heidelberg, gar nichts: "Das wird absolut überschätzt." Die Psyche kann eine Schwangerschaft nicht verhindern. Und mit dem Loslassen des großen Traums erhöht sich nicht die Wahrscheinlichkeit, dass er doch noch in Erfüllung geht.

15. Loslassen lernen: Wie kann ein erster Schritt aussehen?

Dass wir zum Beispiel versuchen, mehr im Jetzt zu leben. Ein irisches Sprichwort sagt:

  • Lieber eine gute Sache, die gerade ist, als zwei gute Sachen, die waren, oder drei gute Sachen, die niemals sein werden.

Ein schlauer Gedanke: All das, was wir tun oder fühlen, worüber wir verzweifelt oder glücklich sind – es geschieht in der Gegenwart. Dennoch leben viele Menschen gedanklich in der Zukunft, träumen von Babys, Jobs, Weltreisen und der Traumfrau. Sie geraten so unter einen inneren Erfolgsdruck. Und vergessen darüber ganz, die Gegenwart zu genießen. Kaum sind die Wünsche erfüllt, tauchen wieder neue auf.

Im Buddhismus heißt dieses Konzept "Anhaften". Wir kleben an unseren eigenen Wünschen und Hoffnungen, wir wollen dauernd etwas vom Schicksal be-kommen, anstatt zu akzeptieren, was ist. Für östliche Philosophen ist es deshalb eine wichtige Lebensaufgabe, sich vom Streben nach immer Neuem, vor allem materiellem Glück zu befreien. Für sie ist das der Königsweg zum Glück und zur inneren Gelassenheit. Und damit zu der Fähigkeit loszulassen.

16. Tun sich einige Menschen leichter mit dem Loslassen lernen als andere?

Ganz bestimmt sogar. Ein bisschen liegt es an unseren Eigenschaften, ein bisschen an unseren Erfahrungen. Großzügigen Menschen zum Beispiel fällt Loslassen oft nicht so schwer: "Großzügigkeit ist eine der schönsten Spielarten des Loslassens", schreibt Expertin Tarr. Deshalb ist auch jeder Akt der Großzügigkeit – sei es Schenken von Zeit, Interesse, Verständnis, Zuwendung, Loyalität, Solidarität – Ausdruck der Fähigkeit loszulassen. Das lässt sich prima üben.

17. Welchen Menschen fällt Loslassen lernen besonders schwer?

Vor allem Perfektionisten. Menschen, die immer alles richtig machen wollen, haben häufig weniger inneren Spielraum für neue Lösun-gen. Sie haben Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Und sind dann natürlich besonders unglücklich, wenn etwas nicht klappt.

18. Ich bin aber nun einmal so. Ich kann ja schlecht von einem Tag auf den anderen meine innere Haltung ändern.

Nicht sofort – aber auf lange Sicht. Und zwar, indem man im besten Sinne selbstbewusst wird: immer mal wieder darüber nachdenkt, was einen in bestimmte Situationen treibt. Menschen, denen das besonders schwerfällt, könnten es mal mit Meditation versuchen. Die Sicht verändert sich ganz allmählich. Und irgendwann kommt der Punkt, ab dem man sich nicht mehr über jedes Missgeschick aufregt, ab dem man einen Wunsch tatsächlich leichteren Herzens ziehen lassen kann. Dann hat man geschafft, ein wenig gelassener zu sein. (Wie du dein Selbstbewusstsein stärken und mehr Selbstliebe lernen kannst, verraten wir dir in unseren Artikeln. Und eine Methode zum Selbstwertgefühl stärken, erklären wir hier.)

19. Gelassenheit klingt gut. Aber augenblicklich kann ich nur mit Sorge und Angst reagieren.

Dann hilft es vielleicht, darüber nachzudenken, was wir uns selbst damit antun.

Wir sind, was wir denken. Mit unseren Gedanken formen wir die Welt. 

sagt der Dalai Lama. Und das ist unser Karma. Dahinter steckt eine ziemlich einfache Logik: Alles, was ich tue, hat eine Wirkung. Jede Handlung bedingt eine andere und lässt mich zu dem werden, was ich bin. Immer wenn ich auf eine bestimmte Art und Weise reagiere, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ich es beim nächsten Mal genauso tue.

Ein einfaches Beispiel: Jemand tendiert dazu, in Stresszeiten Wutanfälle zu bekommen. Für die Umgebung ist er irgendwann ein Choleriker, der eben dauernd rumbrüllt. Weil aber dieser Mensch sich selbst auch immer häufiger wütend erlebt, hat er das Gefühl, gar keine anderen Handlungsalternativen mehr zu kennen. Er denkt über sich selbst: "Ich bin eben jemand, der schnell aus der Haut fährt." Die westliche Hirnforschung hat die östliche Weisheit inzwischen sogar bestätigt. Neurologen stellten fest, dass häufig gleiches Verhalten in unserem Gehirn für immer stabilere Verschaltungen sorgt. Unsere Reaktionen graben sich als Handlungsmuster ein. Und je öfter wir einen Gedanken oder eine Tat ausführen, umso dominanter wird dieses Muster in uns.

20. Wie komme ich aus diesem Teufelskreis heraus?

Indem ich die Wahrnehmung für das eigene Empfinden schule.

  • Wie fühlt es sich an, wenn ich unglücklich bin?
  • Wie klopft mein Herz?
  • Was spielt sich in meinem Magen ab?

Oft hilft es, sich das einfach nur bewusst zu machen, die Muskeln anzuspannen, wieder locker zu lassen: tief ein- und ausatmen und versuchen, sich zu beruhigen. Wer auf eigene Gefühle achtet, im besten Sinne also achtsam ist, kommt leichter immer wieder in die Gegenwart zurück. Das hilft auch dabei, sich nicht von Gedanken und Emotionen überrollen zu lassen oder in die Endlos-grübeln-Schleife zu geraten. (Tipps, wie du deine Gefühle verstehen kannst, bekommst du übrigens hier.)

21. Dann kann also jeder Mensch loslassen lernen?

Jeder, der es wirklich will. Wer loslässt, hat die Hände frei. Selbst wenn man nur ein kleines Stückchen Freiheit gewinnt: Man entdeckt wieder, dass man die Wahl hat, wie man sein Leben gestaltet.

BRIGITTE BALANCE Heft 01/08 Text: Anne Bärbel Köhle

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