Fürsorgliche Zwangsmassnahmen
Wegen unsittlichen Verhaltens in Psychiatrie oder Anstalt eingewiesen: Bis zu 6000 Personen in Basel betroffen

Der Regierungsrat beantragt 600'000 Franken, um die fürsorglichen Zwangsmassnahmen, die es in der Schweiz bis in die 80er-Jahre gab, aufzuarbeiten. Im Vergleich zu anderen Kantonen weiss man in Basel noch wenig darüber.

Zara Zatti
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Anstalt Friedmatt zu Beginn der 50er-Jahre: 1976 wurden hier mehr als 300 Personen durch den damaligen Basler Gerichtsarzt zwangseingewiesen.

Anstalt Friedmatt zu Beginn der 50er-Jahre: 1976 wurden hier mehr als 300 Personen durch den damaligen Basler Gerichtsarzt zwangseingewiesen.

Bild: Staatsarchiv BS

Stellen Sie sich vor, Sie müssten vor dem Basler Regierungsrat erscheinen, weil Ihnen vorgeworfen wird, Sie hätten sich «unsittlich» verhalten und würden durch «Liederlichkeit» auffallen. Die Regierung schickt sie dann zur Besserung für ein halbes Jahr in eine Arbeitsanstalt.

Was heute unvorstellbar ist, war in der Schweiz noch bis ins späte 20. Jahrhundert möglich. Unter dem Namen «fürsorgerische Zwangsmassnahmen» wurden Menschen bis in die 1980er-Jahre in Anstalten oder die Psychiatrie eingewiesen, Kinder wurden ihren Eltern weggenommen, Menschen sterilisiert oder zu Medikamententests gezwungen. Die Aufarbeitung des dunklen Kapitels Schweizer Geschichte läuft seit einigen Jahren, 2016 wurde ein entsprechendes Bundesgesetz verabschiedet. Dieses sieht neben finanzieller Entschädigung auch die wissenschaftliche Aufarbeitung vor.

Lehren aus der Vergangenheit ziehen

Genau das will die Basler Regierung nun in Angriff nehmen und beantragt dem Grossen Rat 600'000 Franken für ein entsprechendes Projekt. Mit diesem sollen «Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden, um zu verhindern, dass Fürsorge und Unterstützung wieder zu Massnahmen führen, die von den betroffenen Personen als Zwang empfunden werden», heisst es im Ausgabenbericht.

Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Aufarbeitung sollen als Buch publiziert werden. Das Basler Staatsarchiv hat bereits eine Vorstudie zum Projekt erarbeitet. Diese zeigt, dass die Situation von zwangsversorgten Erwachsenen und älteren Jugendlichen in Basel im schweizweiten Vergleich wenig erforscht ist. So fehlt etwa eine genaue Anzahl der betroffenen Personen im Kanton. Der Fokus des geplanten Projekts soll auf den Jahre zwischen 1930 und 1980 liegen. Nach ersten Schätzungen der Vorstudie waren 5000 bis 6000 Personen in Basel-Stadt in dieser Zeit von Einweisungen in Anstalten oder die Psychiatrie und anderen Zwangsmassnahmen betroffen.

1976: 300 Personen in die Friedmatt eingewiesen

Damit jemandem Zwangsmassnahmen auferlegt werden konnten, musste die Person zuerst bevormundet werden. Dies war laut Schweizer Gesetzgebung möglich «infolge Geisteskrankheit oder Geistesschwäche», aber auch bei «Verschwendung, Trunksucht, lasterhaftem Lebenswandel» oder bei Gefahr der Verarmung. Kantonal stützte sich die Praxis auf die Gesetze «betreffend Versorgung in Arbeits- oder Besserungsanstalten» (1854), «betreffend Versorgung in Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten» (1901) und «betreffend die Versorgung von Gewohnheitstrinkern» (1901).

Gemäss Vorstudie wurden allein im Jahr 1976 mehr als 300 Personen durch den damaligen Basler Gerichtsarzt zwangsweise in die psychiatrische Anstalt Friedmatt eingewiesen. Die geplante Untersuchung soll etwa klären, welche Akteure und Akteurinnen in die Einweisungsverfahren involviert waren oder welche Möglichkeiten Betroffenen hatten, um sich gegen Zwangseinweisungen zu wehren.