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Rente mit 63 „Der klassische Frührentner ist ein Facharbeiter aus Ostdeutschland“

Ein Rentner am Palmenstrand in Kroatien
Für die Frührente mit 63 braucht man ein gutes Haushaltsnettoeinkommen
© picture alliance / Rolf Haid | Rolf Haid
Immer mehr Arbeitnehmende entscheiden sich für die Rente mit 63. Doch leisten können sich das nur Gutverdiener, sagt IW-Rentenexpertin Ruth Schüler. Die junge Generation müsse ohnehin bis 70 arbeiten

Capital: Frau Schüler, viele Arbeitnehmende machen nur noch Dienst nach Vorschrift, auf Englisch Quiet Quitting genannt. Immer mehr ältere Berufstätige kündigen aber tatsächlich und verabschieden sich in den vorzeitigen Ruhestand. Warum?
RUTH MARIA SCHÜLER: Die Präferenz für Freizeit ist sehr groß und die Anreize weiterzuarbeiten sind sehr gering. So lässt es sich mit der ökonomischen Theorie begründen. Seit Januar entfällt die Hinzuverdienstgrenze bei vorgezogenen Altersrenten, Frührentner können also beliebig viel hinzuverdienen, ohne dass ihnen die Rente gekürzt wird. Aber ob das mehr Menschen dazu motiviert, länger zu arbeiten, muss sich erst zeigen. Wir hatten schon während der Corona-Pandemie großzügige Regelungen beim Hinzuverdienst und trotzdem haben das nur wenige Menschen in Anspruch genommen. Ein Grund dürfte sein, dass sich diese Mehrarbeit am Ende nicht immer steuerlich lohnt.

Ruth Maria Schüler ist Ökonomin am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Sie forscht in der Abteilung für Soziale Sicherung und Verteilung zu den Themen Altersvorsorge, Pflege, Steuern- und Finanzpolitik sowie Verteilungsfragen.

Wer kann es sich leisten, mit 63 in Rente zu gehen?
Auf jeden Fall kaum jemand, der sich ein Leben lang für eine kleine Rente abgearbeitet hat. Die sogenannte Rente mit 63 beantragen vor allem Personen, die eine ausreichende gesetzliche Rente in Ausblick und weiteres Einkommen durch private und betriebliche Altersvorsorge oder Geldanlagen haben. Besonders häufig wird die Option zur Frührente von denjenigen in Anspruch genommen, die über ein mittleres Haushaltseinkommen zwischen 20.000 und 26.000 Euro netto im Jahr verfügen. Von den Menschen aus der untersten Einkommensschicht kann fast niemand die Rente mit 63 in Anspruch nehmen. Ihr Einkommen reicht auch, wenn sie 45 Versicherungsjahre erfüllt haben, nicht aus, um vorzeitig in den Ruhestand zu gehen.

Wer ist also der typische Frührentner?
Zugespitzt gesagt ist der klassische Frührentner ein Facharbeiter aus Ostdeutschland, der nach 45 Versicherungsjahren abschlagsfrei in Rente geht. Diese Möglichkeit nehmen generell mehr Männer als Frauen wahr und Frührentnerinnen und -rentner haben oft keinen akademischen Abschluss. Je höher der Bildungsabschluss, desto eher arbeiten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über die Regelaltersgrenze hinaus. Das zeigen die Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) und der deutschen Rentenversicherung, die ich 2022 zum ersten Mal so verknüpfen und auswerten konnte, dass sie diese Rückschlüsse zulassen. Das SOEP ist eine riesige Befragung, die schon seit 1984 läuft und Haushalte in Deutschland repräsentativ zu sozioökonomischen Themen befragt.

Können wir uns so viele Frührentnerinnen und -rentner überhaupt leisten? 
Nein, und wir sollten sie uns nicht leisten. Es ist eine extreme Belastung für das Rentensystem, allein im Juli 2021 hat die Rentenkasse 3,4 Mrd. Euro an Menschen ausgezahlt, die vorzeitig abschlagsfrei in Rente gegangen sind. Weil unser Rentensystem auf die Produktivität der Bevölkerung setzt, ist es zwar keineswegs verloren, das will ich ganz klar sagen. Aber die Lebenserwartung steigt und mit ihr die Zeit, in der wir die Rente von Frührentnerinnen und -rentnern zahlen müssen. Schon vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist die Rente mit 63 eine schlechte Idee.

„Jede und jeder muss in anderer Form privat oder betrieblich vorsorgen“

Aber was wollen Sie machen, wenn die Menschen nun mal früher in den Ruhestand gehen wollen?
Sowohl auf politischer als auch auf unternehmerischer Ebene muss die Flexibilität erhöht werden. Wenn mir eine Mitarbeiterin sagt, sie sei nach ihrem Renteneintritt bereit, zehn Stunden weiterzuarbeiten, muss das möglich sein. Solche Personen müssen sinnvoll eingesetzt werden. Eine gute Personalpolitik ist wichtig. Die Rahmenbedingungen müssen so sein, dass die Person ihre Arbeit gut mit allem anderen vereinbaren kann, was sie sich für den Ruhestand vorgenommen hat. Es klingt banal, aber viel Potential liegt darin, nicht vollzeitbeschäftigte Menschen so einzuplanen, dass alle zufrieden sind und es einen Mehrwert liefert.

Wenn der typische Frührentner meist männlich ist – woran liegt es, dass weniger Frauen in Frührente gehen?
Frauen kommen bisher seltener über die Grenze von 45 Versicherungsjahren, die für eine abschlagsfreie Frührente nötig sind. Doch das ist der Status quo. Gerade die junge Frauengeneration der Unter-45-Jährigen wird längere Versicherungszeiten erreichen als Frauen, die heute in Rente gehen. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man über Altersarmut von Frauen spricht, die für viele derzeitige oder baldige Rentnerinnen ein Thema ist. Die Auszeiten für Erziehung sind über die Jahre bereits kürzer geworden. Das ist eine gute Absicherung fürs Alter. Aus meinen Auswertungen zeigt sich außerdem, dass Frauen inzwischen auch dann weiterarbeiten, wenn ihr Partner in den Ruhestand geht. Das war lange anders.

Das klingt ja hoffnungsvoll.
Ja, ich glaube, dass viele Frauen verstanden haben, wie wichtig es ist, die Nähe zum Arbeitsmarkt zu halten. Je länger und je mehr sie einzahlen, desto mehr Rente gibt es. Ich habe die Hoffnung, dass die jüngere Frauengeneration die Rentenlücke zu den Männern langsam schließen kann. Klar ist aber, dass nur die gesetzliche Rente allein keine ausreichende Absicherung für das Alter ist. Jede und jeder muss in anderer Form privat oder betrieblich vorsorgen. Frauen sollten wegen der Geburt eines Kindes deshalb keinesfalls aus der betrieblichen Altersvorsorge aussteigen. Das passiert weiterhin und das ist ein Grund zur Sorge.

Hat die Generation Z einen gesünderen Begriff von Arbeit als viele Ältere, weil sie eben nicht mehr nur das große Geld verdienen, sondern etwas Sinnvolles tun wollen?
Man investiert sicherlich gut, wenn man als Arbeitgeber auf dieses Mindset eingeht, besonders um Personen über die Regelaltersgrenze hinaus am Arbeitsmarkt zu halten. Wenn Arbeit mehr ist als das reine Einkommen, das man verdient, wird das generell mehr Leute dazu motivieren, länger zu arbeiten.

Wie lange wird die junge Generation mal arbeiten müssen?
Wenn man Beitragssatz und Rentenniveau einigermaßen stabil halten will, auf jeden Fall bis 70. Ich habe das Gefühl, dass die Jungen das auch sehr realistisch einschätzen. Das Thema Rentenalter birgt großes Konfliktpotenzial für die Generationen und die Politik muss aufpassen, vor allem bei ihren Überlegungen zur kapitalgedeckten Rente. Dafür sollen jetzt in einem ersten Schritt 10 Mrd. Euro am Kapitalmarkt angelegt werden. Diese Summe wird über Schulden finanziert, womit das Risiko vor allem von der jungen Generation getragen werden muss. Auch alle weiteren Ausgaben für die Frührente zahlen die Menschen, die jetzt jung sind.

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