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Ernährungskrise Agrarökonom Lakner: „Wir müssen an vielen Enden zusammenkratzen“

Die Ukraine hatte im Getreidebereich 2021/22 einen Weltmarktanteil von 14 Prozent.
Die Ukraine hatte im Getreidebereich 2021/22 einen Weltmarktanteil von 14 Prozent.
© IMAGO / YAY Images
Der Ukraine-Krieg hat Auswirkungen auf die Agrarversorgung. Sebastian Lakner, Agrarökonom an der Universität Rostock, erklärt, wie es um die Lagerbestände steht und was wir jetzt tun müssen

Die Sorge vor einer Welternährungskrise geht um. Führt der Ukraine-Krieg als Nächstes in eine globale Hungersnot? 

SEBASTIAN LAKNER: Die Lage ist ernst, aber nicht völlig aussichtslos, würde ich sagen. In den vergangenen 10 bis 15 Jahren hat sich die Ukraine zu einem signifikanten Lieferanten von Agrarprodukten auf dem Weltmarkt entwickelt. Die Ukraine hatte im Getreidebereich 2021/22 einen Weltmarktanteil von 14 Prozent. Damit ist sie neben Russland, Kanada und den USA einer der wichtigsten Lieferanten. Während der Anteil von Russland schwankt, war die Ukraine immer eine sichere Bank – bis zum Krieg. , sodass die Exportmengen wahrscheinlich wegbrechen werden. 

Über welche Agrarprodukte sprechen wir konkret?

Die Ukraine ist durch ihre Schwarzerde-Böden eine sehr fruchtbare Region. Bei den Herbstbestellungen geht es neben Gerste und Weizen auch um Winterraps, der ein wichtiger Grundbestandteil für Öle ist. Die Sommerbestellungen für Sommergetreide, Mais und Sonnenblumen machen einen kleineren Anteil aus, sind aber auch von Bedeutung. Aber die Bestellungen müssten jetzt im März und April stattfinden. In einer kriegerischen Auseinandersetzung wie jetzt ist daran nicht zu denken. Der Krieg ist ein Verbrechen an der Zivilbevölkerung, aber er ist auch ein Desaster für die gesamte ukrainische Landwirtschaft.

Was wissen wir über die aktuelle Lage vor Ort?

Im Moment können die Bauern weder düngen noch Pflanzenschutz durchführen. Den Betrieben fehlt der Treibstoff, weil die Bauern ihn entweder an die Armee abgeben oder er verbrannt wird, damit er den Russen nicht in die Hände fällt. Das führt dazu, dass die Betriebe nicht arbeiten können. Das ist dramatisch. Das Exportgeschäft ist zudem stark von Infrastruktur abhängig. Das russische Militär zerstört aber gezielt Brücken und Straßen. Ein Kollege beschrieb die Lage kürzlich mit den Worten, er wäre froh, wenn die Ukraine am Ende des Jahres so rauskomme, dass sie sich noch selbst versorgen kann.

Sebastian Lakner
Sebastian Lakner
© Universität Rostock

Gibt es noch Lagerhaltung vor Ort, die auf den Abtransport wartet und möglicherweise als Puffer für die eigene Bevölkerung dienen könnte?

Von der letzten Ernte im Spätsommer gibt es die tatsächlich noch. Es handelt sich um Mais-Lagerbestände, die in den Schwarzmeer-Häfen Odessa oder Mykolajiw liegen. Dort blockieren die Russen den Seeweg. Theoretisch gibt es noch Hoffnung, das über den Landweg – über Rumänien und die Donau – abzutransportieren, das wäre jedoch teurer.

Welche Rolle spielt Russland als Exporteur von Agrarprodukten für den Weltmarkt?

Russland hat mehr Landressourcen, aber nicht ganz so viele gute Standorte wie die Ukraine. Trotzdem liegt der Weltmarktanteil bei Getreide 2021/22 auch bei circa 10 Prozent. Der Anteil von Kasachstan beträgt 7,3 Prozent. 

Dieser Teil ist nicht sanktioniert, bleibt dem Weltmarkt damit erhalten …

Hier wird es in der Tat kompliziert: Es gibt Stimmen, die den Wegfall der Exportmenge Russlands gleich mit einpreisen. Wenn wir die Ukraine, Russland und Kasachstan zusammenzählen, sind wir bei 25 Prozent Weltmarktanteil bei Getreide und Mais. Ich wäre aber zurückhaltend, was den Exportanteil Russlands angeht. Denn bei den Swift-Sanktionen sind momentan medizinische Produkte und Agrargüter ausgenommen. Zwar ist es so, dass Agrarhändler in westlichen Industriestaaten Ärger mit der US-Regierung droht, wenn sie mit Russland Handel treiben. Etablierte Händler werden Russland-Geschäfte also meiden. Aber es gibt zahlreiche Länder, die die Sanktionen nicht mittragen und Händler, die keine Geschäfte mit den USA oder der EU machen, hier könnten russische Exporte gekauft werden. Diese müssten dann über den Landweg oder das Kaspische Meer gehen, das wäre teurer. Insofern kann man eine endgültige Rechnung noch nicht aufmachen. Wir müssen die Lage genau beobachten. Auch hier hängt viel davon ab, wie lange der Krieg dauert.

Wie wird sich die Versorgungskrise auf Europa und speziell auf Deutschland auswirken? 

Grundsätzlich muss man zwei Dinge sagen: In vielen Bereichen der EU sind wir zunächst Selbstversorger. In Deutschland liegen wir im Getreidebereich bei einem Selbstversorgungsgrad von etwas über 100 Prozent. Das Gleiche gilt auch für andere EU-Staaten. Beim Schweinefleisch liegen wir in der EU sogar bei 130 Prozent. Das heißt, die Fleischindustrie exportiert recht erfolgreich, was in der aktuellen Situation zum Problem wird. Gerade bei den Futtermitteln drückt im Moment der Schuh. Hier geht es in der Debatte mehr um die Versorgung mit preiswerten Futtermitteln und weniger um die Gefahr einer Welternährungskrise, aber Letzteres sollte uns Sorge machen. Da gibt es also eine gewisse Schieflage in der Debatte. Hier und da wird es in der EU Engpässe geben, aber Europa ist insgesamt wohlhabend genug, sodass es nicht zu einer Versorgungskrise kommt. Gleichwohl könnten Haushalte mit niedrigen Einkommen aufgrund der steigenden Lebensmittelpreise unter Druck geraten, was jedoch über die Sozialpolitik abgefedert werden kann.

Welche Länder wird die Versorgungskrise denn am schlimmsten treffen?

Die Ukraine hat in den vergangenen Jahren viel an den Nahen Osten, an die Maghreb- und ostafrikanische Staaten wie Eritrea und Äthiopien geliefert. Das Welternährungsprogramm ist ebenfalls aus der Ukraine beliefert worden. Diese Länder sind – anders als die EU – extrem importabhängig. Das ist der Teil der Krise, den wir sehr ernst nehmen sollten und wo wir schauen sollten, welche Optionen wir haben. 

Wie hoch sind die weltweiten Reserven, von denen Menschen zehren könnten?

Es gibt Lagerbestände in der EU. Das sind bei Weizen zum Beispiel 65 Prozent der fehlenden Exportmenge der Ukraine. Es gibt aber auch in anderen Ländern Lagerbestände. Wir wissen jedoch nicht genau, wie viel davon mobilisierbar sind.

Und wie lange reichen dann diese Vorräte?

Die globalen Lager für Getreide und Mais werden insgesamt auf 28,4 Prozent des Verbrauchs geschätzt. Anders formuliert würde das bedeuten, dass wir die Weltbevölkerung 103 Tage aus den vorhandenen Beständen ernähren könnten. Diese Zahlen sind jedoch Schätzungen des US-Agrarministeriums und wenig verlässlich, da wir die Lagerbestände zum Beispiel in China nicht nachprüfen können. Die Lagerbestände können die Krise etwas abpuffern, aber das alleine wird nicht reichen, insofern brauchen wir eine Reaktion auf Angebotsseite. 

Damit sind wir bei den Steuerungsmechanismen der Politik. Was gibt es für Lösungen?

Die Industriestaaten leisten es sich im Augenblick immer noch, dass wir dem Benzin Biokraftstoffe beimischen. Technologisch und energiepolitisch ist das kein Zukunftsmodell, weil wir mittelfristig aus dieser Art der Verbrennung aussteigen. Das löst unsere Energieprobleme nicht. Wir sprechen hier über wirklich substanzielle Mengen. In den USA wird die Hälfte der Maisernte für Bioethanol verwendet, auch in der EU werden Weizen oder Zuckerrüben für Bioethanol verwendet. Man könnte die Beimischungspflicht zeitnah aussetzt und damit gewisse Mengen an Getreiden zurückgewinnen. Wir müssen insgesamt an vielen Enden "zusammenkratzen", um auf die fehlenden Mengen zu kommen. Es ist die Aufgabe der Ministerien, sich international zu koordinieren und Maßnahmen zu ergreifen.

Apropos zusammenkratzen. Es gibt auch laute Forderungen, zu diesem Zweck Umweltauflagen auf den Prüfstand zu stellen oder weitgehend zurückzufahren ...

Das hat der Bauernverband nicht erst in den letzten Wochen, sondern immer wieder gefordert. Ab 2023 gilt eine Verpflichtung, vier Prozent des Ackerlandes aus Umwelt- und Klimaschutzgründen stillzulegen. Das ist zunächst aus umweltpolitischer Sicht eine sinnvolle Maßnahme, die jedoch für die Ernte 2022 keine Rolle spielt. Das Problem ist aber: Man kann auf diesen Flächen so nicht produzieren. Es ist durchaus denkbar, dass die EU bei dieser Brache-Verpflichtung 2023 nur mit 2,5 Prozent einsteigt und erst schrittweise erhöht. Aber dazu muss man auch wissen: Diese Bracheflächen – aktuell sind es EU-weit circa 2 Prozent – sind nicht die besten Standorte, auf denen keineswegs überall Qualitätsweizen produziert werden kann. Die Bracheflächen werden die Gesamtkrise keineswegs alleine lösen und der Verzicht auf Brachflächen hat ökologische Folgekosten. Neben der Ukraine-Krise gehen die Klima- und Biodiversitätskrisen unvermindert weiter, wir nehmen sie nur gerade nicht wahr. So gesehen wäre es also ziemlich kurz gesprungen. Der Bauernverband hat gute Verbindungen zu den Futtermittelerzeugern. Man argumentiert mit Ernährungskrise, meint aber den Nachschub mit preiswerten Futtermitteln. Diese Argumentation ist nicht redlich und auch nicht sachorientiert.

Wann sollte die Politik denn beginnen, Maßnahmen zu ergreifen?

In Berlin und Brüssel werden Debatten bereits seit einigen Tagen geführt, aber leider gibt es eine Parallele zur Corona-Krise: Wir diskutieren nicht die richtigen Maßnahmen. Das Hauptthema in Brüssel ist genau diese vom Bauernverband geforderte Beendigung von Umweltmaßnahmen. Aber das löst nicht die Nachfrageprobleme am Weltmarkt. Was wir diskutieren sollten, ist, ob es sinnvoll ist, dass wir in dieser Situation als Gesellschaft unseren Fleischkonsum und unsere Fleischexporte so aufrechterhalten wollen und ob wir uns fragwürdige Beimischungspflichten beim Benzin trotz der Nahrungsmittelknappheit leisten können. Wir können immer noch im Mai oder Juni die temporäre Freigabe der Brachen beschließen. Es kann jetzt nicht darum gehen, die Agrarumweltpolitik grundsätzlich infrage zu stellen, sondern wie wir die fehlenden Exportmenge der Ukraine ersetzen.

Der Beitrag ist zuerst auf ntv.de erschienen.

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