Only the River Flows – Kritik

Existenzialistischer Krimi oder verschrobener Spaß? Shujun Weis Film um eine Mordserie und einen obsessiven Cop besteht aus den Zutaten eines klassischen Noir-Thrillers, entwickelt sich aber zunehmend zum surrealen Albtraum.

Zu Beginn zieht Ma (Zhu Yilong) mit seiner Abteilung der Kriminalpolizei in ein soeben geschlossenes Kino. Vor der Leinwand wird sich eingerichtet. Die Sitzreihen bleiben unberührt. Wie ein Schauspiel vor leeren Rängen sieht die Polizeiarbeit dann auch mehrmals aus. Und es deutet sich hier bereits an, wie porös die Realität des Films ist, wie sie von den Vorstellungen und Illusionen unserer Hauptfigur überlagert wird. So beobachtet Ma den Umzug aus dem Projektionsraum wie ein Vorführer den von ihm auf die Leinwand geworfenen Film. Das Fenster zum Zuschauerraum rahmt diesen Blick auf die Umzugsarbeiten, und Shujun Weis Only the River Flows (He bian de cuo wu) lässt umgehend eine ähnliche Einstellung folgen. Durch ein normales Fenster schauen wir nun auf den ländlichen Handlungsort. Dieses Bildfolge macht die Ausweitung der Projektion spürbar, die ganze Welt wird zum Produkt von Mas Blick.

Schummrige Bilder von menschlichen Abgründen

China Mitte der 1990er Jahre: Kurz nacheinander werden eine alte Frau und ein Mann mit einer Machete am Fluss erschlagen. Nach der zweiten Tat wird ein junger Mann mit geistiger Behinderung blutbeschmiert und mit der Mordwaffe in der Hand gestellt. Der Fall scheint klar, die Oberen drängen Ma zum schnellen Abschluss des Falls. Nur bleiben die Ungereimtheiten und auch die Mordserie hört nicht auf. Ma ermittelt also weiter. Sachlich dokumentiert die Kamera seine Arbeit, wie er sich durch eine trübe, matschige Stadt im Zwielicht bewegt. Wie er potenzielle Informationsquellen aufsucht, Zeugen vernimmt, wie er zwischen Revier, Tatorten und seinem Heim pendelt. Only the River Flows besteht also aus den Zutaten eines klassischen Noir-Thrillers, eines Procedurals der Suche nach einem Serienmörder.

Die schummrigen Bilder des auf 16mm gedrehten Films vermitteln dabei die Authentizität eines Chinas vor dem wirtschaftlichen Boom und der ungeschönten Arbeit an menschlichen Abgründen. Doch dieser Realitätseindruck ist doppelbödig, hintertückisch. Mas Träume sehen fast genauso aus wie die Realität, nur sind sie etwas hektischer. Und überhaupt dämmert einem zunehmend, wenn ins Klo geworfene Puzzleteile plötzlich wieder im vollendeten Puzzle stecken, wenn Leute erschossen werden und kurz darauf Ma konfrontieren, dass Mas Wahrnehmung nicht zu trauen ist. Dass wir uns, so nüchtern das alles wirkt, eher im surrealen Alptraum eines David Lynch befinden als in einem klassischen Noir.

Sinn nur durch Zufall

Dazu gehört, dass der Fall nie eine handfeste Spur findet. Die ermordete alte Frau kümmerte sich um den Tatverdächtigen wie um eine streunende Katze, doch ansonsten gibt es keine Verbindung zwischen den beiden. Am ersten Tatort findet sich eine Tasche und in dieser eine Musikkassette, deren zweite Seite aus mehreren gesprochenen Liebesbriefen an Hong, dem zweiten Opfer, besteht. Der Fall akkumuliert Beteiligte und Betroffene, Hinweise und Informationen. Doch diese Dinge scheinen lediglich durch den Zufall örtlicher und zeitlicher Nähe verbunden, nicht durch einen Sinnzusammenhang.

Only the River Flows funktioniert auf ähnliche Weise, aber gewissermaßen auf den Kopf gestellt. Assoziative Sinnzusammenhänge finden sich überall, nur findet sich keine harte, faktische Nähe. Ma ist wie besessen davon, den geistig Behinderten zu entlasten, gleichzeitig wird er aber (in seinen Fantasien und Träumen) von ihm verfolgt – während seine Frau schwanger ist und mit erhöhter Wahrscheinlichkeit ein behindertes Kind bekommen wird. Hier der Fall mit seinen Indizien, die nicht zusammenpassen, da das Puzzle von Mas Frau, das sie vielleicht nie beendet. Sich gleichende Motive – optisch wie inhaltlich – greifen einander wiederholt auf.

Diebische Freude

Es ist im Grunde klassische filmische Sinnstiftung, nur bleibt das Ergebnis unbestimmt und schummrig wie die Bilder. Bong Joon-hos ähnlich gelagerter, nur weniger surreale Memories of Murder (Salinui chueok, 2003) findet seinen Sinn gerade darin, dass am Ende Puzzleteile im Mordfall fehlen. Lynchs Lost Highway (1996) und Mulholland Drive (2000) verschieben hingegen Raum und Zeit zueinander, wodurch geradlinige Erzählungen entstehen, die doch einem kubistischen Puzzle gleichen. Was Only the River Flows von uns will? Only the river knows, gewissermaßen. Ein Krimi mit Tätersuche, ein existentialistisches Drama über die Ängste eines werdenden Vaters, ein symbolträchtiger Film über die Fesseln von Chinas Ein-Kind-Politik oder über Vorgesetzte, die nicht an der Wahrheit, sondern nur am persönlichen Erfolg interessiert sind. All das und mehr findet sich in Weis Film, aber auf etwas davon zwangsläufig hinauslaufen soll es sichtlich nicht.

Der Krimiplot lässt den Film nicht ins Beliebige auseinanderfließen. Dass wir jemandem zusehen, der seine Verbindung mit der Realität verliert, lädt den ruhigen Fluss des Geschehens sachte emotional auf. Und überhaupt ist die Atmosphäre zu dicht, um dieses Kino der Einzelteile in öde Langeweile auseinanderfallen zu lassen. Vor allem wird Only the River Flows nicht offen absurd, vermittelt aber doch durchgehend den Eindruck eines verschrobenen Spaßes. Der Vorgesetzte, der seine Mannschaft einschwört, während er Pingpong spielt; die Realität, die Ma und das, was er für wahr hält, zu verspotten scheint; die Odyssee des Puzzles von Mas Frau: Nie fühlt sich das alles bierernst und nachdrücklich bedeutungsvoll an. Stattdessen lässt Only the River Flows seinen Blick mit diebischer Freude schweifen.

Trailer zu „Only the River Flows“


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