Exzesse der Zärtlichkeit: Französische Militärfilme

Im November führte das Filmkollektiv Frankfurt einige Schätze aus Frankreichs Militärarchiv vor. Die Auftragsarbeiten interessieren sich nicht nur für ihren Auftrag, sondern für soldatischen Alltag, Greta Garbo und die Pflicht zur Tierliebe.

„Wie in einem Film von Rivette“, sagt eine Voice-over-Stimme in Raoul Coutards kurzer Dokumentation Le défilé du 14 Juillet 1977, „stehen wir dann erst einmal zwei Stunden in der Gegend herum und warten darauf, dass etwas passiert.“ „Wir“, das sind Rekruten, junge Staatsbürger in Uniform, die an einer Parade anlässlich des Jahrestags des Sturms auf die Bastille teilnehmen. Die Parade selbst ist der unwichtigste Teil des Films, da wird halt ein paarmal von links nach rechts durchs Bild marschiert; auch die Bezüge auf die Freiheitskämpfer des 18. Jahrhunderts, die immer wieder auf historischen Zeichnungen in den Film eindringen, bleiben im Ganzen Nebensache.

Voice-over als kollektiver Bewusstseinsstrom

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Weitaus mehr interessiert Coutard sich für den soldatischen Alltag neben dem Exerzierplatz. Es gibt Bilder, die zeigen, wie sich die jungen Männer mit ihren noch weichen, nicht ganz ausgeformten Gesichtern und den selbst beim Exerzieren etwas linkischen Bewegungen im Schlafsaal einfinden, wie sie sich ihre schlacksigen Beine waschen, wie sie ihre Uniformen, die so viel adretter sind als sie selbst, sorgfältig pflegen, wie sie sich zwischendurch auf dem Rummelplatz vergnügen oder einfach nur entspannt am Baum lehnend eine Zigarette rauchen. Und dann gibt es eben diesen Voice-over-Kommentar, der ganz und gar nicht eine Stimme-über ist, also kein den Bildern äußerlicher Kommentar, der erläuternd und sortierend auf die Dargestellten zugreifen würde – sie zum Beispiel zu den Ereignissen von 1789 in Beziehung setzte. (Man könnte das aus einer ideologiekritischen Perspektive ja erwarten: Auf welcher Seite wären sie damals wohl gestanden?)

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Stattdessen imaginiert dieses Voice-over eine Art kollektiven Bewusstseinsstrom der jungen Männer. Sogar die Frauenarbeit müssen wir hier bei der Armee selbst erledigen. Beim Marschieren kann man leicht außer Tritt geraten. Puh, gerade noch geschafft. Wir sind schon ein wenig stolz auf unser Regiment, aber die Musik ist scheiße. Und eben: Das ist ja wie bei Rivette. Ganz am Anfang gibt es schon ähnliche Seitenhiebe in Richtung Abel Gance und René Clair. Das Titeldesign wiederum ruft sofort die Filme Jean-Luc Godards auf, als dessen langjähriger Kameramann Coutard hauptsächlich bekannt geworden ist. Aber es geht dem Film nicht bloß um ein intellektuelles Spiel, um eine selbstreflexive Geste. Sondern um einen Tonfall der beschwingten Unverbindlichkeit, der das militärische Ritual an das Alltagsleben zurückbindet.

Staatliche Glanzstücke

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Dieser Tonfall – oder vielleicht eher die Tatsache, dass Coutard ihn so problemlos trifft und nicht ein einziges Mal in ein staatstragendes Pathos verfällt – überrascht umso mehr, als Le défilé du 14 Juillet 1977 nicht nur ein Film über das Militär ist, sondern ein Film des Militärs. Genauer gesagt wurde er vom ECPAD in Auftrag gegeben, dem „Établissement de communication et de production audiovisuelle de la Défense“. Das französische Verteidigungsministerium leistet sich schon seit dem Jahr 1915 eine Abteilung für Filmproduktion – mitsamt eigenem Filmarchiv, das den Output für die Nachwelt überliefert. Am 22. November war das Archiv zu Gast beim Filmkollektiv Frankfurt und präsentierte im Studierendenhaus auf dem Campus Bockenheim in zwei Programmen Glanzstücke der Sammlung.

Ich konnte die Filme leider nur hinterher auf meinem Laptop ansehen. Was schon deshalb schade ist, weil das Filmkollektiv zu den wenigen Kinoakteuren Deutschlands gehört, die nach wie vor auf Materialtreue Wert legen und auf die Projektion „digitaler Faksimile“ (Österreichisches Filmmuseum) verzichten. Eine Erkenntnis, die in der bildenden Kunst oder der Musik selbstverständlich ist, muss im Kino von enthusiastischen Amateuren am äußersten Rand der institutionalisierten Cinephilie eingefordert werden: Die materielle Basis ist in der Kunst nie nur Informationsträger, sondern selbst Information – „a difference that makes a difference“.

Konkrete Zwecke, vergessene Zwecke

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Tatsächlich ist gerade eine Veranstaltung wie das ECPAD-Screening heute besonders wichtig; zeigt sie doch, dass Zelluloidfilm noch bis vor wenigen Jahren keine Spezialangelegenheit für elitäre Vintage-Retro-Cinephile war, sondern ein Gebrauchsmedium. Der Spielfilm, auf den die Filmgeschichte allzu oft reduziert wird, ist nur ein Sonderfall der Filmgeschichte, weitaus mehr Filmmaterial wurde für andere Produktionsformen verwendet, insbesondere für die sogenannten „ephemeral films“: Auftragsproduktionen, die sich nicht der Unterhaltung – und auch nicht der Kunst – verschreiben, sondern anderen, zumeist deutlich konkreteren Zwecken. Zum Beispiel kann man einen Film drehen, um vorzuführen, wie man Unfälle an Bord von Kriegsschiffen vermeidet (Des accidents a bord: Pourquoi?, Alfred Bier, 1971). Oder um ein neuartiges Schutzschild zu bewerben, das Soldaten auf dem Schlachtfeld Mobilität verschaffen soll (Les boucliers, anonym, 1916). Oder man kann eine sogar ziemlich aufwändige, am Genrekino geschulte episodische Miniatur drehen, um auf die Bedeutung von Verschwiegenheit in Kriegsfragen hinzuweisen (La guerre du silence, Claude Lelouch, 1957). Hier wird dem Zuschauer empfohlen, sich doch lieber die mysteriöse Greta Garbo als die zeigefreudige Brigitte Bardot zum Vorbild zu nehmen.

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Wobei man gleich dazu sagen muss: Ephemeral Films wie die des ECPAD zeichnen sich oft dadurch aus, dass der intendierte Zweck und das fertige Produkt nicht ganz zusammenfinden. Des accidents a bord: Pourquoi? verwendet zum Beispiel deutlich mehr Aufwand auf originelle (und blutige) Unfallszenarien als auf die pädagogische Botschaft. Les boucliers erhält zumindest in der Rückschau eine tragikomische Note: Die Erfindung ist offensichtlich nicht sonderlich ausgereift. Wenn die Soldaten mit dem Gefährt über das Schlachtfeld robben (und die Kamera sie dabei unvorteilhaft von hinten filmt), wirken sie wie hilflose Regenwürmer. Der Lelouch-Film wiederum erscheint eher wie eine Vorstudie zu den späteren kommerziellen Arbeiten des Regisseurs.

Der uniformierte Mensch und die geknechtete Kreatur

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Und dann gibt es Filme, die sich komplett von ihrem Zweck emanzipieren und jeden Zuschauer perplex zurücklassen. So einer ist Les animaux pendant la guerre (Robert Baudouin & Charles Blanc, 1917). Es geht vorderhand um die Rolle von Tieren im Krieg. Und tatsächlich gibt es ein paar Einstellungen, die Minensuchhunde zeigen, oder berittene Soldaten. Schon bei den Eseln, die nach den Pferden ins Bild gesetzt werden, offenbart der Film allerdings sein eigentliches Thema. Ja, stur sind sie, räumt ein Zwischentitel ein, aber: „Weil sie die Sorgen der Menschen teilen, haben sie ein Recht auf unser aller Zuneigung.“ Es folgt die Aufnahme eines Mannes, der sich an eine Eselschnauze kuschelt. Bald kommt es zu Überschreitungen: reitende Hunde; uniformierte Hunde. Und zu Exzessen der Zärtlichkeit: Soldaten, die Katzen streicheln. Ein Soldat, der eine Taube streichelt. Ein Schritt später drei Soldaten, die drei Tauben streicheln. Bald hat sich Les animaux pendant la guerre in eine einzige Feier der sentimentalen Verbrüderung von uniformiertem Mensch und geknechteter Kreatur verwandelt. Freilich schneidet der Film am Ende verdächtig früh weg, wenn ein junger Löwe (!) bei der Sache nicht so recht mitmachen möchte und nach dem Kopf des Soldaten zu schnappen beginnt, der ihn eben noch stolz der Kamera präsentiert hat.

Kommentare zu „Exzesse der Zärtlichkeit: Französische Militärfilme“


Leander

"Bald kommt es zu Überschreitungen" Haha, klasse Artikel. Die Filme hätt ich auch gern gesehen.






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