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Ein Werwolf deckt auf

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Die Bilder führen einen tief in die Welt der Monster. Doch plötzlich wird Karens Nachbarin ermordet. Karen beschliesst, die Ermittlungen selbst in die Hand zu nehmen, und wagt sich raus auf die Strassen Chicagos.
Um die Graphic Novel von Emil Ferris, gezeichnet auf Notizblockpapier mit blauen Linien, brach letztes Jahr ein regelrechter Hype aus.
Die Geschichte von «Am liebsten mag ich Monster» dreht sich um einen gemobbten Teenager. Karen entflieht in die Welt des Horrorcomics und -films und wäre am liebsten ein Werwolf.

Wo beginnen bei der Sensation des amerikanischen Comic­jahres 2017, die nun auch in deutscher Übersetzung erscheint? Vielleicht nicht beim Buch selbst, sondern bei seiner Entstehungsgeschichte, die zu dem Hype beigetragen hat. Handelt es sich doch um das Debüt einer 55-Jährigen, die bis dahin kaum etwas mit der Welt der Neunten Kunst verband; Emil Ferris designte vor ihrer Karriere als Autorin und Zeichnerin unter anderem Spielzeug für McDonald's.

Dann 2001 der Schicksalsschlag: Durch einen Mückenstich steckt sich Ferris mit dem West-Nil-Fieber an und ist eine Zeit lang fast vollständig gelähmt. Während ihrer Rekonvaleszenz beschliesst sie, ihre rechte Hand durch Zeichnen zu trainieren und mithilfe eines Kurses in Creative Writing Ideen auszuarbeiten, die sie seit längerem beschäftigen. Jahre später erscheint das Ergebnis – beziehungsweise fast nicht, denn die chinesische Druckerei, die das Buch herstellt, macht bankrott, und das Schiff, auf dem sich die gesamte Auflage befindet, wird monatelang auf hoher See festgehalten.

Als die Graphic Novel schliesslich doch erscheint, erhält Ferris auf Anhieb zwei Ignatz Awards und den Oscar der Comicbranche, den Eisner Award. Stars wie Chris Ware und Alison Bechdel tun ihre Begeisterung kund, und kein Geringerer als Art Spiegelman erklärt, Ferris habe einen ganz neuen Rhythmus des Erzählens erfunden.

Eine neue Welt auf 400 Seiten

Dass «Am liebsten mag ich Monster» anders ist, merkt man bald. Da ist der schiere Umfang: 400 Seiten Grossformat. Und da ist die ungewöhnliche Seitenarchitektur: Es dominieren ganzseitige rahmenlose Bilder mit langen Erzähltexten, um die sich kurze Episoden anordnen. Dazu kommt die Irritation des Hintergrunds: Die zuweilen bunten, meist jedoch schwarzweissen Zeichnungen sind auf blau liniertes Papier gemalt, das im Falz wie bei einem Ringbuch gelocht und geriffelt ist.

Die Assoziationen mit be­liebten Kinderbuchreihen wie «Greg's Tagebuch» stellen sich da nicht von ungefähr ein. Haben wir es doch – so die erzählerische Prämisse – mit den Aufzeichnungen einer kindlichen Icherzählerin zu tun: Die zehnjährige Karen wohnt Ende der 60er-Jahre mit ihrer alleiner­ziehenden Mutter und ihrem kleinkriminellen erwachsenen Bruder Deeze in einem heruntergekommenen Apartmenthaus in Chicago.

Eigentlich beginnt das Buch als klassische Coming-of-Age-Geschichte – allerdings der etwas anderen Art. Denn Karen, die in der Schule gemobbte Aussenseiterin, wäre am liebsten ein Monster. Sie sieht aus wie ein pummeliger Junge, entdeckt erste lesbische Neigungen und flüchtet sich in ihrem Tagebuch in die Welt von Horrorcomics und -filmen, weswegen sie sich selbst konsequent als Werwolf auftreten lässt. Zu der Entwicklungs- tritt die Bildungsgeschichte. Unter seinen Ganzkörpertattoos schlägt Deezes gutes Herz nicht nur für seine Schwester, sondern auch für die Kunstgeschichte, mit deren Geheimnissen er Karen vertraut macht.

Zombies, Pointillismus – und ein Mord

Gerade in dem Moment, als man sich fragt, wohin all diese Referenzen von trashigen Zombies bis zu Seurats Pointillismus führen sollen, geschieht ein Mord. Karens Nachbarin, die ebenso schöne wie mysteriöse Mrs. Silverberg, wird erschossen in ihrem Bett aufgefunden. Weil an der offiziellen Erklärung, sie habe sich umgebracht, vieles nicht zu stimmen scheint, beschliesst Karen, auf eigene Faust zu ermitteln. Fortan zieht sie in Schlapphut und Trenchcoat durch die Strassen Chicagos, in denen es (es ist die Zeit nach dem Tod Martin Luther Kings) zu gären beginnt. Bald geraten die Dinge ausser Kontrolle: Die Hobbydetektivin stösst auf Kassetten, die Mrs. Silverberg mit ihren Erinnerungen besprochen hat. Sie handeln davon, wie sie ihre Kindheit im Berlin der 30er-Jahre in einem Pädophilenring verbrachte und schliesslich den Holocaust überlebte. Zugleich wird ausgerechnet Deeze zum Hauptverdächtigen, als Karen erfährt, dass er eine Affäre mit der Ermordeten hatte. Und als wäre all das nicht genug, erkrankt Karens Mutter auch noch an Krebs und müssen sich die beiden Kinder mit ihrem kriminellen Vater herumschlagen, der sie mit Versicherungsbetrug erpressen will.

Keine Frage, bei dieser Coming-of-Age- und Coming-out- und Detektiv- und Holocaust- und Krankheitsgeschichte, die auch noch ein Porträt der USA der späten 1960er sein will, wird einem als Leser schnell schwindlig. Wie so oft in Debüts hat sich die Autorin vorgenommen, alles, was sie je beschäftigte oder ihr wichtig erschien, in ihr erstes Buch zu packen. Das misslingt besonders bei der Autobiografie von Mrs. Silverberg, die Kindesmissbrauch, Judenverfolgung und eine Rettung à la Schindler auf Biegen und Brechen zusammenbringt. Und es ist auch nicht sonderlich glaubwürdig, dass all die Texte und Zeichnungen zwischen den Buchdeckeln von einer Zehnjährigen stammen sollen.

Satirischer Realismus à la George Grosz

Warum aber ist man nach der Lektüre geneigt, auf die meisten dieser Einwände mit einem Achselzucken zu reagieren? Vor allem wegen der Brillanz der Bleistift- und Kugelschreiberzeichnungen von Emil Ferris, die in ihrem satirischen Realismus an George Grosz oder Otto Dix erinnern. Auch auf der erzählerischen Ebene sind die Momente, die nach textreichen Passagen direkt ins Herz treffen, zahlreich. Etwa wenn Deeze vor dem Spiegel seine Schwester dazu bringen will, sich endlich als die zu akzeptieren, die sie ist, und wir das einzige Mal im Comic ihr Gesicht sehen, keinen Werwolf in Bogart-Montur, sondern ein verletzliches, ängstliches Mädchen.

Das Masslose dieser Graphic Novel mag erschlagend wirken; formal und inhaltlich hat es jedoch schon lange kein Werk mehr gegeben, dass derart unbekümmert die ungeschriebenen Gesetze des Genres neu dachte. Vielleicht verhält es sich ja wie immer bei (guten) Monstern: Nach dem ersten Schock beginnt die Faszination. Und die Vorfreude auf den abschliessenden zweiten Band, der noch dieses Jahr in den USA erscheint.

Emil Ferris: Am liebsten mag ich Monster. Aus dem amerikanischen Englisch von Torsten Hempelt. Panini-Verlag, Stuttgart 2018. 420 S., ca. 55 Fr.