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50 Jahre Hochhäuser WittigkofenWas die Berner Trabanten­siedlung zusammenhält

Wittigkofen ist als Betonwüste verschrien. Fünf Bewohner erzählen aber eine ganz andere Geschichte: Sie fühlen sich im Quartier frei und dennoch aufgehoben.

Für diese fünf Bewohnerinnen und Bewohner ist Wittigkofen ein Dorf. In diesem sind sie zum Teil seit Kindheit verwurzelt. 

Vogelgezwitscher und Autobahnrauschen – diese akustischen Kontraste prägen die Hochhaussiedlung Wittigkofen. Als die Lifttüren im «Hochhaus 5» schliessen, verstummt beides. Fünf Menschen wollen der Journalistin und dem Fotografen ihr Quartier von oben zeigen, vom 23. Stockwerk auf 70 Meter Höhe. «Liftlen war in meiner Kindheit ein Riesending», sagt Ayse Uyanik. Die junge Frau mit den braunen Locken unternahm hier als Siebenjährige die erste Fahrt.

Wenige Sekunden später scheint das Quartier im Osten der Stadt Bern nur noch eine Modellbaulandschaft zu sein: gigantische Betonklötze, zwischen Bäumen und Rasenfeldern verteilt.

Die weite Aussicht und die grossen Grünflächen sind ein Kontrast zu den grauen Fassaden der Hoch- und Kettenhäuser der Überbauung. 

Ankommen. Vor allem das bedeutete es für Ayse Uyanik, im Jahr 1994 mit ihrer Familie in die Berner Grossüberbauung zu ziehen. «Ich hatte einen Kulturschock, als ich als Kind politischer Flüchtlinge in die Schweiz kam», sagt sie. Hier in Wittigkofen habe sie sich erstmals wieder lebendig gefühlt und sich in der Gesellschaft eingefunden. «Es war dasselbe familiäre Gefühl wie in diesem kleinen Dorf in der Türkei.»

Ihr Blick streift über den Spielplatz hin zu den Schatten spendenden Bäumen. Das wohlige Gefühl habe sie begleitet: Wenn sie etwa mit ihrer jüngeren Schwester durch das Quartier streifte oder Plakate für ein Taschengeld von fünf Franken aufhängte.

«Wir sahen uns erst gar nicht nach einer Wohnung in einem anderen Quartier um.» 

Bewohnerin Ayse Uyanik

Dreimal musste Ayse Uyanik in ihren Jugendjahren die Wohnung aufgrund von Verkäufen und Renovationen wechseln. Trotzdem wohnt sie auch heute noch mit ihrer eigenen Familie hier, in einer 3½-Zimmer-Wohnung, für die sie eine Bruttomiete von 1700 Franken bezahlt. «Wir sahen uns erst gar nicht nach einer Wohnung in einem anderen Quartier um.» Bald, so freut sie sich, könne sie ihren Sohn hier in den «Kindernachmittag» bringen.

Nelly Puigventos, Hans Zurbriggen, Lies Munz, Matthias Lanz und Ayse Uyanik (v. l. n. r.) werfen einen Blick auf alte Bilder und Zeitungsartikel über ihre Grossüberbauung. 

Kindernachmittage, Neujahrsfeste, Quartierfeste, die Kultur-Arena: Solche Angebote hat die Generation von Lies Munz, Hans Zurbriggen und Nelly Puigventos aufgebaut. Die drei zählen sich selbst zum «Urgestein von Wittigkofen». Im Laufe der Jahre haben sie eine grosse Sammlung von alten Fotos, Zeitungsartikeln und Studien über ihr Quartier zusammengetragen. Vor der Fahrt auf das Hochhaus haben sie diese beim Restaurant des Quartierzentrums ausgebreitet. 

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«Wer von der Autobahn aus auf das Quartier schaut, sieht nur eine Betonwüste», sagt Lies Munz. «Ich fühle mich aber, als ob ich in einem Park wohne.» Bereits neun Monate nachdem die ersten Gebäude fertig gebaut waren, lebte Lies Munz in einer Eigentumswohnung an der Jupiterstrasse, die sich durch die Siedlung schlängelt. Ein kleiner Teil der Wohnungen wurde von Anfang an als Eigentum verkauft. Später wurden viele Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt.

Auch die Kunst hat ihren Weg nach Wittigkofen gefunden. Diese Skulptur dient auch Kindern als Klettergerüst.

Erdölkrise bremste Grossprojekt 

Mit einem Quartierzentrum, eigenen Einkaufsmöglichkeiten und einer Schulanlage wurde die Grossüberbauung in Wittigkofen zwar nach dem Vorbild einer Satellitenstadt geplant. «Die Siedlung war aber bereits einer der letzten Vertreter dieses Konzepts, mit dem die zunehmende Nachfrage nach Wohnraum gestillt werden sollte», sagt der Berner Denkmalpfleger Jean-Daniel Gross. Daher unterscheidet sich diese auch von Pionierprojekten wie dem Tscharnergut: «Bei der Planung von Wittigkofen versuchte man bereits die strengen geometrischen Strukturen aufzubrechen.»

Als diese Hochhäuser an der Jupiterstrasse in Wittigkofen gebaut wurden, war die Hochkonjunktur bereits vorbei. 

Nach dem Endausbau 1991 wohnten ungefähr 3000 Menschen in der Überbauung, heute sind es ein paar Hundert weniger. Wäre aber der ursprüngliche Plan aufgegangen, würde die Siedlung heute Platz für bis zu 15’000 Bewohnerinnen und Bewohner bieten. Der Entwurf, den der Basler Architekt Otto Senn an der Expo 64 präsentierte, sah auf 142 Hektaren zahlreiche Hochhäuser, ein Schwimm- und Hallenbad, Sportplätze sowie zwei Kirchen und einen Friedhof vor. Dann kam 1973 die Ölkrise, die Investoren fehlten. Fünf Hochhäuser und acht weitere Wohnblocks wurden noch realisiert. 

Die ersten Wohnungen der Überbauung Wittigkofen-Murifeld (Mitte) waren 1973 einzugsbereit. Wären die ursprünglichen Pläne aufgegangen, würde sich die Siedlung heute fast bis zum Ostermundigenberg (hinten rechts) erstrecken. 


«Allerdings hat sich auch die Wahrnehmung der Bevölkerung verändert. Die einheitlich geplanten und gebauten Grosssiedlungen erschienen den Menschen nun nicht mehr als Sinnbilder des modernen Lebens, sondern als anonym und massstabslos», fügt Denkmalschützer Gross an. Damit wurde auch das Konzept der Trabantensiedlungen selbst zunehmend infrage gestellt.

Der Quartierkern wird kleiner

Obwohl er erst seit drei Jahren in Wittigkofen wohnt, ist es auch Matthias Lanz wichtig, seinen Teil zum Quartierleben beizutragen. Was er bei einem Blick auf die alten Bilder erzählt, tönt aber weniger nostalgisch. «Wir sprechen von einer Jubilarin, die 50 wird. Und sie ist in die Jahre gekommen.» 

Grossinvestitionen stünden bevor. Doch die grosse Zahl von Stockwerkeigentümern erschwere die nötigen Entscheidungen. «Die Siedlung wurde als ein grosses Ganzes geplant, aber wo bleibt bei den Sanierungen das Gemeinsame?» Veränderungen seien per se nichts Schlechtes, aber sie müssten gemeinsam koordiniert und geplant sein. Die Überbauungsgenossenschaft Murifeld-Wittigkofen (UBG) zeigt sich weniger kritisch. Die Weisungen der UBG würden ausreichen, damit eine gewisse Einheitlichkeit gewahrt werde. 

Im Quartierzentrum gibt es einen Denner und eine Migros. Letztere Einkaufsgelegenheit wird aber schon bald schliessen. 

Den Bewohnerinnen und Bewohnern bereitet aber eine andere Baustelle Sorgen: Die Migros-Filiale wird aufgrund von Sanierungsbedarf und fehlenden Renditen schliessen. «Bei diesem Entscheid wurde nicht berücksichtigt, dass viele Menschen hier auf eine nahe Einkaufsgelegenheit angewiesen sind», so Matthias Lanz. Seine vier Nachbarinnen und Nachbarn nicken zustimmend. Schliesslich seien 37 Wohnungen extra für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen konzipiert. Ihnen bietet sich schon bald nur noch der Denner an.

Die Privera AG ist für die Vermarktung dieser Fläche beauftragt. Man sei daran, eine Nachfolgelösung zu finden, betont diese. Ist die Filialenschliessung aber dennoch ein Vorzeichen, dass der Quartierkern zu verschwinden droht?

Trabantensiedlung mit Potenzial

Anruf beim Berner Stadtplaner Mark Werren. «Auch heute ist die Herausforderung gross, eine hohe Nachfrage nach städtischem und günstigem Wohnraum zu stillen», sagt er. Die Umsetzung habe sich aber grundlegend geändert. Auf einem Quadratmeter Bauland entsteht heute in der Stadt Bern rund doppelt so viel Wohnfläche wie damals bei Überbauungen wie jener in Wittigkofen. 

Eine Visualisierung der geplanten Hochhaussiedlung in Ausserholligen zeigt: Die Gebäude stehen dichter. Dafür sollen auch Gesellschaftsräume, Arbeitsplätze und Cafés in diesen integriert sein. 

Dies wird laut Mark Werren aber nicht primär durch den Hochhausbau erreicht, sondern dadurch, dass die Häuser dichter stehen und kompakter konzipiert sind. Die Überbauung auf dem Viererfeld werde beispielsweise nur sechs bis sieben Stockwerke, aber auch mehr Gärten haben. «Bei geplanten Hochhäusern wie jenen in Ausserholligen oder Wankdorf ist es wichtig, dass diese auch gemeinschaftliche und publikumsorientierte Funktionen erfüllen und unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ansprechen», sagt der Stadtplaner.

Obwohl das Modell der Satellitenstadt ein Relikt der Vergangenheit ist: Auch in Wittigkofen wird die Zeit nicht stehen bleiben. Mit dem Projekt Bypass Bern-Ost soll die A6 unterirdisch werden. «Damit entsteht eine neue Quartierqualität», betont Mark Werren. «Wenn die A6 zur Stadtstrasse wird, rücken Wittigkofen und die angrenzenden Quartiere, wie der Thoracker, zusammen.» Entlang der Tramlinie 8 ergebe sich somit eine neue, urbane Mitte.

Wie das Quartier wohl beim nächsten Jubiläum aussehen wird? Auf 70 Meter Höhe wagen Matthias Lanz, Nelly Puigventos, Hans Zurbriggen, Ayse Uyanik und Lies Munz (v. l. n. r.) einen Blick in die Zukunft. 

Zurück auf der Dachterrasse in luftigen Höhen: Die Grossbausiedlung soll in Zukunft also mit ihrer Umgebung verschmelzen. Bisher zeigten sich die Bewohnerinnen und Bewohner solchen Plänen gegenüber kritisch. Für sie gilt es momentan aber sowieso, das Quartier so zu feiern, wie es heute leibt und lebt. Eines der Highlights des Jubiläumsfests: eine Slackline, die zwischen die Hochhäuser gespannt wird.

Damit die Vorbereitungen für das Wochenende vorangehen können, geht die Liftfahrt wieder nach unten in das Erdgeschoss. Oder doch nicht? Nelly Puigventos hat aus Reflex die Nummer eins gedrückt, schliesslich wohnt sie auf diesem Stockwerk. Auch der zweite Versuch klappt nicht, jemand aus der Tiefgarage hat den Liftknopf zuerst erwischt. Nach einer weiteren Fahrt wieder nach oben ist das Ziel schliesslich erreicht: Stockwerk null.

Vom 24. bis zum 30. Juni feiert Wittigkofen das 50-Jahr-Jubiläum. Das Festprogramm ist auf der Internetseite des Quartiervereins Wittigkofen ersichtlich. 

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