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Richard Greil ist Vorstand der Inneren Medizin III/Onkologie der Salzburger Universitätsklinik: "Patienten leben bis zuletzt und bis dahin muss das Leben Wert und Qualität haben"

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Palliativmedizin wird oftmals mit der Sterbebegleitung unheilbar Kranker gleichgesetzt. "Die Menschen kommen aber nicht zum Sterben hierher", entgegnet Richard Greil, Vorstand der Inneren Medizin III/Onkologie der Salzburger Universitätsklinik. Die Palliativstation des Landeskrankenhauses verfügt derzeit über sechs Betten und soll im nächsten Jahr auf zwölf aufgestockt werden. Weltweit sind Palliativstationen zu 80 Prozent von Krebspatienten belegt, in Salzburg sogar fast ausschließlich. Greil gibt im Interview mit dem Standard.at einen Einblick in die Betreuung unheilbar erkrankter Menschen.

derStandard.at: Kurz zusammengefasst ist Palliativmedizin die Betreuung Schwerstkranker, für die eine Heilung nicht mehr möglich ist. Viele Menschen setzen das mit Sterbebegleitung gleich. Warum liegen sie damit falsch?

Richard Greil: Palliativmedizin beginnt in der Onkologie mit der Diagnose. Man muss bei einem Krebspatienten von Anfang an alle Eventualitäten mit einplanen: mögliches Versagen von Heilungsversuchen, den Übergang von einem kurativen zu einem palliativen Behandlungsansatz, und von der metastasierten aber gut behandelbaren Situation zu einer Lage in der alle sinnvollen Maßnahmen zur Bekämpfung des Tumors erschöpft sind; Sterbeprozess und nahender Tod. Die Übergänge sind Herausforderungen an das Arzt-Patienten-Verhältnis. Optimismus, Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit müssen ausgewogen sein.

derStandard.at: Worin unterscheidet sich eine Palliativstation von einem Hospiz?

Richard Greil: Der Aufenthalt auf einer Palliativstation ist für Patienten meist eine Fortsetzung der Betreuung in gewohnter Umgebung, sie wechseln die Station aber nicht die Krankenanstalt. Dies verringert Angst und die noch immer vorhandene Stigmatisierung dieser Einrichtungen. Es ist ein hoher Spezialisierungsgrad von Ärzten, Pflege und Psychologen notwendig um die schweren körperlichen und seelischen Probleme der Patienten zu behandeln. Der Aufwand für Gespräche und Pflege ist hoch. Ziel der Behandlung ist es auch, dass der Patient wieder nach Hause gehen kann, Patienten werden oft mehrfach aufgenommen. Die Hospize wurden ursprünglich zur Pflege Sterbender auch und vor allem durch Verwandte gegründet, im Vordergrund steht die unmittelbare Sterbebegleitung der letzten Tage.

derStandard.at: Worin liegt die wichtigste Aufgabe der Palliativmedizin?

Richard Greil: In der Verbesserung der Symptome wie Durchfall und Erbrechen, seelische Erregungszustände, Atemnot, Schmerzen, Anfälle. Eine möglichst gute Lebensqualität stellt das oberste Behandlungsziel dar, dafür gibt es keine prinzipielle Beschränkung der Mittel. Wenn Chemotherapie oder Bestrahlung zur Symptomkontrolle wesentlich mit beitragen können, werden sie angewandt, auch wenn dies sehr selten ist. Ziel ist dabei aber nicht die Lebensverlängerung sondern Symptomverbesserung und die Erhaltung der Lebensqualität. Was immer dazu beitragen kann ist bei Berücksichtigung der geringen Belastbarkeit dieser fragilen Patienten willkommen.

derStandard.at: Wie sprechen Sie mit Patienten über das Bevorstehende, die Unheilbarkeit der Krankheit? Wie viel Wahrheit verträgt der Mensch?

Richard Greil: Wir versuchen auf schonende, feinfühlige und offene Weise Partner für Fragen zur medizinischen und sozialen Situation, zu Sinnkrise und Zukunft zu sein. Die Wahrheit gehört zum Behandlungsvertrag, ebenso wie die Fürsorge eine ärztliche Grundverpflichtung ist. Autonomie der Patientenentscheidungen erfordert Wahrheit, diese darf kein Gegensatz zur umfangenden Fürsorge sein. Beides muss harmonisch und glaubwürdig auf die persönliche Situation des Patienten und seine Bedürfnisse abgestimmt werden.

derStandard.at: Wie detailliert will ein Krebspatient wissen, was ihm bevorsteht, wie lange er noch am Leben bleiben wird?

Richard Greil: In Todesnähe reduzieren sich die Fragen der Patienten. Der Tod ist ein Tabu. Im politischen Sinne werden Tabus oft berechtigt als Verdrängung oder Verschwörung verstanden. Ein Tabu kann aber auch eine Schutzzone sein, in der man etwas besonders Gefährdetes, etwas worum man kämpft, etwas Intimes schützt. Mein Gefühl ist, dass die Patienten in dieser Lebensspanne sehr viel zurückgezogener und in sich gekehrter sind. Der Umgang mit Sterben und dem Tod ist meist ein vorsichtiger.

derStandard.at: Die Wenigsten fragen konkret, wie lange sie noch zu leben haben?

Richard Greil: Wenn Patienten erfahren, dass ihre Krankheit nicht heilbar, aber sinnvoll behandelbar ist, stellen sie fast nie Fragen nach Wochen oder Jahren. Es geht ihnen darum, die Hoffnung auf ein erfülltes Leben zu bewahren. Sie müssen sich im Übergang zwischen Gesundheit und dem Bewusstsein einer verminderten Lebensspanne neu orientieren. Ihr Gefühl von schnell und langsam, die Wertung von viel und wenig, wichtig und unbedeutend ordnet sich neu. Die ursprünglichen Erwartungen an das Leben werden bilanziert, und an die realen Situationen von Beruf und Familie angepasst. Das ist eine Herausforderung und die Patienten schützen sich bei allem Wissensbedarf davor, überrannt zu werden.

derStandard.at: Wir wollen uns also emotional vom Tod fernhalten?

Richard Greil: Wir fürchten nicht nur das Sterben, sondern auch den Tod als Nichtsein, als den Verlust lebenslang gewachsener Leistungen, Anerkennungen und Einbettungen in Beziehungssysteme. Man kämpft um die Hoffnung und worauf man Hoffnung haben kann. Wir führen ein scheinbar zeitlich unbegrenztes Leben. Der Tod ist weit weg, wir fühlen ihn nicht. Wir sind gesund, wenn der Tod nicht ständiger Begleiter der Gedanken ist. In dem Moment, in dem er als nahe empfunden werden muss, entsteht schon die Frage: Wie nahe? Die Empfindung von kurz und wenig ändert sich im Laufe der Krankheit dramatisch.

derStandard.at: Inwiefern?

Richard Greil: Gesunde finden für den Fall einer Krebserkrankung eine Chemotherapie wertvoll, wenn sie fünf Jahre Lebensvorteil verspricht. Krebskranke fordern drei bis sechs Monate, wenn eine Heilung nicht möglich ist. Das ist der Durchschnitt: Manche Patienten sagen, sie würden sich für eine Woche oder einen Tag eine Chemotherapie geben lassen. Die Entscheidungen müssen gemeinsam von Arzt und Patient getroffen werden. Das ist ein schwieriger und vertrauensvoller Prozess der Abschätzung von medizinischem Sinn und der Erreichbarkeit von Zielen. Eines darf man in der Kommunikation mit dem Patienten aber nie: "gnädig" lügen.

derStandard.at: Die Hoffnung stirbt also zuletzt?

Richard Greil: Gesunde Menschen würden sich eine Chemotherapie verabreichen lassen, wenn die Wahrscheinlichkeit auf Heilung bei 70 bis 80 Prozent liegt. Krebspatienten fordern ein Prozent. Dies erzeugt eine Spannung in der Beurteilung von Nutzen und Wert einer Behandlung zwischen Gesellschaft, Arzt, Partnern und Patienten. Für Menschen ist die Hoffnung lebenserhaltend und oft unabhängig von der Realisierbarkeit ihres Inhalts. Diese Situation ist eine der größten Herausforderungen zwischen Arzt und Patient. Die Menschen schwanken innerhalb weniger Stunden zwischen Verzweiflung, Erschöpfung, Selbstaufgabe, dem Lebenswillen und der Hoffnung, die sie fragen lässt: Gibt es noch etwas auf dieser Welt, das mir nützen könnte?

derStandard.at: Inwiefern spielt Spiritualität in der Palliativmedizin eine Rolle?

Richard Greil: Spiritualität betrifft nicht nur den Glauben sondern auch andere Aspekte der Sinnerfüllung. Patienten klären in dieser Phase Zuwendung zur und Abkehr von der Religion, zum Teil auch sehr brüsk. Ähnliches gilt für familiäre Verhältnisse. Gute Beziehungen erfahren eine Vertiefung, Brüchigkeit führt zu Trennung.

Spiritualität verstehe ich auch dahingehend, welche Bedeutung man der Öffnung zur inneren Wahrheit gibt, der Möglichkeit mit sich und seinen Konflikten in Frieden zu kommen. Ob man sein Leben als gelungen empfindet, unwiederbringlich Verlorenes und nicht Gelebtes als persönlichen Weg fühlt und diesen nicht bereut. Auch, ob man in der Lage ist, die Bruchstellen der Beziehungen zu befrieden. Es geht um Scheitern von Lebensentwürfen wie Kinderlosigkeit, die Frage ob das eigene Leben wertvoll war, welche Bedeutung das "Hinterlassen einer Spur" haben kann. Es geht auch um den Abschluss und die Harmonisierung des Lebens und der Lebensumstände.

derStandard.at: Was verlangen Patienten in solchen Situationen?

Richard Greil: Sie wollen Kompetenz, Nähe und Humor, ein gemeinsames Lächeln. Sie verlangen, dass in einer Situation von Abhängigkeit, Angst und manchmal auch der Zerstörung des Körperbilds Würde durch den respektvollen Umgang mit ihrem Leben, ihrem Körper, ihrer Seele durch ihr Umfeld wieder hergestellt wird. Die Patienten wollen auch den letzten Teil des Lebens nicht als Leidensodyssee verstehen. Dies würde ihren Mut, ihre Kraft, ihren Lebenssinn kränken. Tatsächlich sind sie es oft, die die Familie trösten, vorbereiten und entlasten. Sie wollen Freundlichkeit, Zuwendung, körperlichen Kontakt und den möglichen Genuß am Leben. Sie warten nicht aufs Sterben, sie leben bis zuletzt und bis dahin muss das Leben Wert und Qualität haben.

derStandard.at: Wie gehen die Angehörigen mit dieser schwierigen Situation um?

Richard Greil: In den Augen vieler Verwandter sind die Geliebten schon tot so lange sie noch leben. Dies liegt wohl in der Maßlosigkeit des Gesundheitsanspruches den wir haben und den wir in bester Absicht auf Kranke übertragen. Ich wünsche mir Reflexion darüber, dass wir Kranken und Sterbenden nicht den Lebenswert absprechen dürfen.

derStandard.at: Was kritisieren Sie an der palliativmedizinischen Debatte in Österreich?

Richard Greil: Sie zielt immer auf die Frage der physischen Schmerztherapie ab, so berechtigt die Forderung nach Kompetenz auf diesem Gebiet ist. Die Paradoxie daran ist, dass der größte Schmerz des Menschen der existenzielle, der metaphysische, der Sinnlosigkeits-Schmerz ist. Und die Gesellschaft, die Journalisten, flüchten sich in genau das, was sie kritisieren, nämlich die technisierte Medizin. Die perfekt durchgeführte und notwendie Schmerztherapie ist eine klassisch medizinisch-technische Antwort auf einen sichtbaren und fassbaren Schmerzzustand. Der eigentliche Schmerz wird dramatisch verkannt: Das Gefühl am Ende zu sein, keinen Sinn zu haben, würdelos und nicht autonom zu sein. Darauf kann die Gesellschaft, darauf können viele Ärzte oft keine Antwort geben. (mak, derStandard.at, 03.06.2011)