Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

noch immer sehr falsche Vorstellungen macht: eine Einleitung, in der Carlyle,
der so sehr verschriene Romantiker, einen scharfen staatsmännischen Blick ver¬
räth. Aber die andern vier Bände behandeln nur die Regierungszeit Fried¬
rich Wilhelms I., die doch an Thatsachen nicht sehr ausgiebig war. Wie die
Breite der Darstellung zu Stande kommt, wird man aus einem einzelnen
Beispiel ersehn. Bei der berühmten Reise, auf welcher der unglückliche Flucht¬
versuch des Kronprinzen stattfand, findet Carlyle in seinen Quellen über die
Umstände wenig Data; er ergänzt sie aber dadurch, daß er die Karte zur
Hand nimmt, sich unterrichtet, wer auf allen Stationen wohnte, was sich für
historische Erinnerungen daran knüpfen und nun sich in die Seele der einzel¬
nen Reisenden versetzt und sich ihre Betrachtungen darüber zu versinnlichen
sucht. Für den streng historischen Stil ist ein solches .an die Novelle erinnern¬
des Verfahren freilich nicht geeignet, aber es thut doch seine Wirkung. Mau
wird dadurch nicht blos im Allgemeinen angenehm unterhalten und belehrt,
sondern der Verfasser hat auch so viel künstlerischen Instinct, daß durch dies
episodische Beiwerk die dramatische Spannung des Ereignisses bedeutend er¬
höht wird. Wenn der pragmatische Geschichtschreiber seinem Ziel aus dem
geradesten Wege entgegeneile, so hat Carlyle ein Auge für alles. Ihm ent¬
geht aus dem ganzen Wege keine ausfallende Erscheinung, und doch kann
man nicht sagen, daß ihn diese allseitige Aufmerksamkeit zerstreut; denn in
seiner Seele lebt zugleich mächtig die Idee, die das charakteristische Bild des
Ganzen immer von neuem wieder auffrischt.

Wir Deutsche haben eigentlich Carlyle viel zu' danken. Wir haben im
-Ausland keinen wärmeren Freund, keinen unermüdlicheren Vertreter, und was
noch mehr sagen will, seine Liebe zu uns wird zugleich durch eine scharfe
und zuweilen tiefe Einsicht in unser Wesen getragen, und doch sind wir nicht
selten undankbar gewesen, ja wir wollen gestehn, es ist schwer, sich ihm gegen¬
über einer gewissen Undankbarkeit zu erwehren. Von der Unordnung und
Verwilderung unseres Stils, die sich von unsern Philosophen, unsern Roman¬
tikern, unsern Germanisten herschreibt, und der jeder einzelne Schriftsteller sich
erst mit schwerer Anstrengung entwinden muß, pflegen wir Trost bei den Eng¬
ländern zu suchen, die bis aus das letzte Jahrzehnt hin im Durchschnitt einen
gesunden Mutterwitz und ein natürliches, durch die Reflexion noch nicht zerfresse¬
nes Gefühl zeigen, das uns die Empfindung der Gesundheit einflößt. In
Carlyles Sprache dagegen finden wir unsre eignen Unarten im verstärkten
Maß wieder, und das wirkt um so unangenehmer, da wir uns des beschä¬
menden Gefühls nicht erwehren können, daß er sie uns abgelernt hat. Viele
seiner Wendungen kann nur ein Deutscher verstehn, so entschieden widerspricht
seine Satzbildung, ja seine Wortbildung dem Genius der englischen Sprache.
Die Gewaltthätigkeiten, die wir uns, namentlich seit dem Vorgang Jean


Grenzboten IV. 1858. 37

noch immer sehr falsche Vorstellungen macht: eine Einleitung, in der Carlyle,
der so sehr verschriene Romantiker, einen scharfen staatsmännischen Blick ver¬
räth. Aber die andern vier Bände behandeln nur die Regierungszeit Fried¬
rich Wilhelms I., die doch an Thatsachen nicht sehr ausgiebig war. Wie die
Breite der Darstellung zu Stande kommt, wird man aus einem einzelnen
Beispiel ersehn. Bei der berühmten Reise, auf welcher der unglückliche Flucht¬
versuch des Kronprinzen stattfand, findet Carlyle in seinen Quellen über die
Umstände wenig Data; er ergänzt sie aber dadurch, daß er die Karte zur
Hand nimmt, sich unterrichtet, wer auf allen Stationen wohnte, was sich für
historische Erinnerungen daran knüpfen und nun sich in die Seele der einzel¬
nen Reisenden versetzt und sich ihre Betrachtungen darüber zu versinnlichen
sucht. Für den streng historischen Stil ist ein solches .an die Novelle erinnern¬
des Verfahren freilich nicht geeignet, aber es thut doch seine Wirkung. Mau
wird dadurch nicht blos im Allgemeinen angenehm unterhalten und belehrt,
sondern der Verfasser hat auch so viel künstlerischen Instinct, daß durch dies
episodische Beiwerk die dramatische Spannung des Ereignisses bedeutend er¬
höht wird. Wenn der pragmatische Geschichtschreiber seinem Ziel aus dem
geradesten Wege entgegeneile, so hat Carlyle ein Auge für alles. Ihm ent¬
geht aus dem ganzen Wege keine ausfallende Erscheinung, und doch kann
man nicht sagen, daß ihn diese allseitige Aufmerksamkeit zerstreut; denn in
seiner Seele lebt zugleich mächtig die Idee, die das charakteristische Bild des
Ganzen immer von neuem wieder auffrischt.

Wir Deutsche haben eigentlich Carlyle viel zu' danken. Wir haben im
-Ausland keinen wärmeren Freund, keinen unermüdlicheren Vertreter, und was
noch mehr sagen will, seine Liebe zu uns wird zugleich durch eine scharfe
und zuweilen tiefe Einsicht in unser Wesen getragen, und doch sind wir nicht
selten undankbar gewesen, ja wir wollen gestehn, es ist schwer, sich ihm gegen¬
über einer gewissen Undankbarkeit zu erwehren. Von der Unordnung und
Verwilderung unseres Stils, die sich von unsern Philosophen, unsern Roman¬
tikern, unsern Germanisten herschreibt, und der jeder einzelne Schriftsteller sich
erst mit schwerer Anstrengung entwinden muß, pflegen wir Trost bei den Eng¬
ländern zu suchen, die bis aus das letzte Jahrzehnt hin im Durchschnitt einen
gesunden Mutterwitz und ein natürliches, durch die Reflexion noch nicht zerfresse¬
nes Gefühl zeigen, das uns die Empfindung der Gesundheit einflößt. In
Carlyles Sprache dagegen finden wir unsre eignen Unarten im verstärkten
Maß wieder, und das wirkt um so unangenehmer, da wir uns des beschä¬
menden Gefühls nicht erwehren können, daß er sie uns abgelernt hat. Viele
seiner Wendungen kann nur ein Deutscher verstehn, so entschieden widerspricht
seine Satzbildung, ja seine Wortbildung dem Genius der englischen Sprache.
Die Gewaltthätigkeiten, die wir uns, namentlich seit dem Vorgang Jean


Grenzboten IV. 1858. 37
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0297" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/266106"/>
          <p xml:id="ID_795" prev="#ID_794"> noch immer sehr falsche Vorstellungen macht: eine Einleitung, in der Carlyle,<lb/>
der so sehr verschriene Romantiker, einen scharfen staatsmännischen Blick ver¬<lb/>
räth. Aber die andern vier Bände behandeln nur die Regierungszeit Fried¬<lb/>
rich Wilhelms I., die doch an Thatsachen nicht sehr ausgiebig war. Wie die<lb/>
Breite der Darstellung zu Stande kommt, wird man aus einem einzelnen<lb/>
Beispiel ersehn. Bei der berühmten Reise, auf welcher der unglückliche Flucht¬<lb/>
versuch des Kronprinzen stattfand, findet Carlyle in seinen Quellen über die<lb/>
Umstände wenig Data; er ergänzt sie aber dadurch, daß er die Karte zur<lb/>
Hand nimmt, sich unterrichtet, wer auf allen Stationen wohnte, was sich für<lb/>
historische Erinnerungen daran knüpfen und nun sich in die Seele der einzel¬<lb/>
nen Reisenden versetzt und sich ihre Betrachtungen darüber zu versinnlichen<lb/>
sucht. Für den streng historischen Stil ist ein solches .an die Novelle erinnern¬<lb/>
des Verfahren freilich nicht geeignet, aber es thut doch seine Wirkung. Mau<lb/>
wird dadurch nicht blos im Allgemeinen angenehm unterhalten und belehrt,<lb/>
sondern der Verfasser hat auch so viel künstlerischen Instinct, daß durch dies<lb/>
episodische Beiwerk die dramatische Spannung des Ereignisses bedeutend er¬<lb/>
höht wird. Wenn der pragmatische Geschichtschreiber seinem Ziel aus dem<lb/>
geradesten Wege entgegeneile, so hat Carlyle ein Auge für alles. Ihm ent¬<lb/>
geht aus dem ganzen Wege keine ausfallende Erscheinung, und doch kann<lb/>
man nicht sagen, daß ihn diese allseitige Aufmerksamkeit zerstreut; denn in<lb/>
seiner Seele lebt zugleich mächtig die Idee, die das charakteristische Bild des<lb/>
Ganzen immer von neuem wieder auffrischt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_796" next="#ID_797"> Wir Deutsche haben eigentlich Carlyle viel zu' danken. Wir haben im<lb/>
-Ausland keinen wärmeren Freund, keinen unermüdlicheren Vertreter, und was<lb/>
noch mehr sagen will, seine Liebe zu uns wird zugleich durch eine scharfe<lb/>
und zuweilen tiefe Einsicht in unser Wesen getragen, und doch sind wir nicht<lb/>
selten undankbar gewesen, ja wir wollen gestehn, es ist schwer, sich ihm gegen¬<lb/>
über einer gewissen Undankbarkeit zu erwehren. Von der Unordnung und<lb/>
Verwilderung unseres Stils, die sich von unsern Philosophen, unsern Roman¬<lb/>
tikern, unsern Germanisten herschreibt, und der jeder einzelne Schriftsteller sich<lb/>
erst mit schwerer Anstrengung entwinden muß, pflegen wir Trost bei den Eng¬<lb/>
ländern zu suchen, die bis aus das letzte Jahrzehnt hin im Durchschnitt einen<lb/>
gesunden Mutterwitz und ein natürliches, durch die Reflexion noch nicht zerfresse¬<lb/>
nes Gefühl zeigen, das uns die Empfindung der Gesundheit einflößt. In<lb/>
Carlyles Sprache dagegen finden wir unsre eignen Unarten im verstärkten<lb/>
Maß wieder, und das wirkt um so unangenehmer, da wir uns des beschä¬<lb/>
menden Gefühls nicht erwehren können, daß er sie uns abgelernt hat. Viele<lb/>
seiner Wendungen kann nur ein Deutscher verstehn, so entschieden widerspricht<lb/>
seine Satzbildung, ja seine Wortbildung dem Genius der englischen Sprache.<lb/>
Die Gewaltthätigkeiten, die wir uns, namentlich seit dem Vorgang Jean</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1858. 37</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0297] noch immer sehr falsche Vorstellungen macht: eine Einleitung, in der Carlyle, der so sehr verschriene Romantiker, einen scharfen staatsmännischen Blick ver¬ räth. Aber die andern vier Bände behandeln nur die Regierungszeit Fried¬ rich Wilhelms I., die doch an Thatsachen nicht sehr ausgiebig war. Wie die Breite der Darstellung zu Stande kommt, wird man aus einem einzelnen Beispiel ersehn. Bei der berühmten Reise, auf welcher der unglückliche Flucht¬ versuch des Kronprinzen stattfand, findet Carlyle in seinen Quellen über die Umstände wenig Data; er ergänzt sie aber dadurch, daß er die Karte zur Hand nimmt, sich unterrichtet, wer auf allen Stationen wohnte, was sich für historische Erinnerungen daran knüpfen und nun sich in die Seele der einzel¬ nen Reisenden versetzt und sich ihre Betrachtungen darüber zu versinnlichen sucht. Für den streng historischen Stil ist ein solches .an die Novelle erinnern¬ des Verfahren freilich nicht geeignet, aber es thut doch seine Wirkung. Mau wird dadurch nicht blos im Allgemeinen angenehm unterhalten und belehrt, sondern der Verfasser hat auch so viel künstlerischen Instinct, daß durch dies episodische Beiwerk die dramatische Spannung des Ereignisses bedeutend er¬ höht wird. Wenn der pragmatische Geschichtschreiber seinem Ziel aus dem geradesten Wege entgegeneile, so hat Carlyle ein Auge für alles. Ihm ent¬ geht aus dem ganzen Wege keine ausfallende Erscheinung, und doch kann man nicht sagen, daß ihn diese allseitige Aufmerksamkeit zerstreut; denn in seiner Seele lebt zugleich mächtig die Idee, die das charakteristische Bild des Ganzen immer von neuem wieder auffrischt. Wir Deutsche haben eigentlich Carlyle viel zu' danken. Wir haben im -Ausland keinen wärmeren Freund, keinen unermüdlicheren Vertreter, und was noch mehr sagen will, seine Liebe zu uns wird zugleich durch eine scharfe und zuweilen tiefe Einsicht in unser Wesen getragen, und doch sind wir nicht selten undankbar gewesen, ja wir wollen gestehn, es ist schwer, sich ihm gegen¬ über einer gewissen Undankbarkeit zu erwehren. Von der Unordnung und Verwilderung unseres Stils, die sich von unsern Philosophen, unsern Roman¬ tikern, unsern Germanisten herschreibt, und der jeder einzelne Schriftsteller sich erst mit schwerer Anstrengung entwinden muß, pflegen wir Trost bei den Eng¬ ländern zu suchen, die bis aus das letzte Jahrzehnt hin im Durchschnitt einen gesunden Mutterwitz und ein natürliches, durch die Reflexion noch nicht zerfresse¬ nes Gefühl zeigen, das uns die Empfindung der Gesundheit einflößt. In Carlyles Sprache dagegen finden wir unsre eignen Unarten im verstärkten Maß wieder, und das wirkt um so unangenehmer, da wir uns des beschä¬ menden Gefühls nicht erwehren können, daß er sie uns abgelernt hat. Viele seiner Wendungen kann nur ein Deutscher verstehn, so entschieden widerspricht seine Satzbildung, ja seine Wortbildung dem Genius der englischen Sprache. Die Gewaltthätigkeiten, die wir uns, namentlich seit dem Vorgang Jean Grenzboten IV. 1858. 37

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/297
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/297>, abgerufen am 14.05.2024.