Debatte über Meinungsmache

Wenn Medienkritiker unkritisch werden

Das war so nicht geplant: Angela Merkel spricht in Rostock über Flüchtlingspolitik - da bricht ein Mädchen aus dem Libanon in tränen aus.
Bei einer Veranstaltung mit der Bundeskanzlerin brach ein Mädchen aus dem Libanon in Tränen aus: Reagierte Merkel wirklich hartherzig? © Steffen Kugler/Bundesregierung/dpa
Von Markus Reiter · 11.08.2015
Die Medienkritik in Deutschland sei oft parteiisch, findet der Journalist Markus Reiter. So jammerten Medienblogger und Medienjournalisten weniger über Recherche-Fehler als darüber, dass bestimmte Medien ihre politischen Ansichten nicht teilten.
Seit über zwei Jahrzehnten bin ich als Journalist und Publizist tätig. In dieser Zeit habe ich auf meine Artikel und Kommentare viele Reaktionen von Leserinnen und Lesern erhalten, früher per Post, heute im Internet und den sozialen Netzwerken.
Sie fallen fast alle in zwei Kategorien: Manche Leser loben mich. Sie fanden meinen Beitrag großartig – und im Übrigen seien Sie voll und ganz meiner Meinung. Andere beschimpfen mich. Mein Beitrag sei eine Schande für den ganzen Berufsstand des Journalismus. Diese Menschen sind stets anderer Meinung als ich.
Es gibt einzelne Fälle, in denen Leser meinen Beitrag loben, obwohl sie meine Ansicht nicht teilen. Man kann sie an den Fingern einer Hand abzählen. Noch nie aber hat sich irgendein Leser beschwert, mein Beitrag sei zwar ein mieses, manipulatives Stück Journalismus. Sie seien aber ganz meiner Meinung. Ich finde: Genau so ein dialektisches Urteil wäre richtig gute Medienkritik.
Fehlleistungen werden ignoriert, wenn der politische Tenor stimmt
Ich verlange es von keinem normalen Leser. Professionellen Medienkritikern aber stünde es wohl an. Was beobachten wir stattdessen? Medienblogger und Medienjournalisten jammern vorwiegend darüber, dass bestimmte Medien ihre politischen Ansichten nicht teilen. Und sie ignorieren Fehlleistungen, wenn die Beiträge ihrer eigenen politischen Meinung entsprechen.
Zwei Beispiele: Im ersten geht es um TTIP, das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA. Zeitungen, Zeitschriften, Internet-Medien und das öffentlich-rechtliche Programm quellen über von Beiträgen, die sich kritisch-ablehnend mit TTIP beschäftigen. Seltsamerweise hält das aber so gut wie kein linker oder rechter Medienkritiker für kritikwürdig. Das liegt daran, dass diese Medienkritiker TTIP nicht mögen.
Dabei stehen viele Argumente der Gegner auf wackligen Beinen. Im Bereich der Kultur zum Beispiel spricht vieles dafür, dass TTIP weder die Buchpreisbindung gefährden würde noch deutsche Stadttheater in Bedrängnis brächte. Mehr Kritik daran, wie unkritisch viele Journalisten angebliche Fakten von TTIP-Gegner ohne weitere Prüfung übernehmen, wäre also mehr als angemessen.
Das zweite Beispiel: Eher linksgerichtete Medienkritiker haben ausführlich kritisiert, dass die Redaktion der Talkshow von Günter Jauch ein Video eines Vortrags des damaligen griechischen Finanzministers Yannis Varoufakis arg verkürzt hatte. Dabei entstand der Eindruck, Varoufakis habe mitten in den Verhandlungen um ein Rettungspaket dem deutschen Volk den Stinkefinger gezeigt. Die Kritik an der journalistischen Bearbeitung des Videos war durchaus berechtigt.
Leider mögen Medienkritiker Angela Merkel nicht
Die gleichen Medienkritiker schwiegen jedoch, als ein zusammengekürztes Video des NDR auf Youtube und anderen sozialen Netzwerken für Aufregung sorgte. Der Zweieinhalb-Minuten-Zusammenschnitt zeigt, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Zusammentreffen mit einem weinenden Flüchtlingsmädchen scheinbar hartherzig und uneinsichtig reagiert.
Wer allerdings das zehn Minuten lange Gesamtvideo gesehen hat, vermag einen ganz anderen Eindruck zu gewinnen. Ein Fall also für die Medienkritik! Leider mögen die Medienkritiker Angela Merkel nicht.
Wir wissen aus der Psychologie, dass alle Menschen zur sogenannten "confirmation bias" neigen. Das heißt: Sie lassen sich am liebsten bestätigen, was sie ohnehin schon denken. Ein professioneller Medienkritiker sollte dieser allzu menschlichen Neigung bewusst entgegenarbeiten. Wer Merkel nicht ausstehen kann, sollte den Wahrheitsgehalt jedes journalistischen Beitrags prüfen, der Merkel schlecht aussehen lässt.
TTIP-Gegner sollten jeden Artikel unter die Lupe nehmen, der mit TTIP ins Gericht geht. Und wer die Russen im Ukraine-Konflikt für unschuldig hält, sollte besonders penibel mit journalistischen Beiträgen umgehen, die das auch so sehen. Und umgekehrt natürlich.
Eine faktenorientierte kritische Begleitung journalistischer Arbeit ist nämlich dringend nötig. Medienkritik ist zu wichtig, um sie zum Wurmfortsatz der Meinungsspalten zu machen.
Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de
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