100 Jahre RadioWelten-Bau statt Welten-Trennung

Der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks

Viele bunte Stifte liegen auf einem grauen Hintergrund aufgefächert
Die Diversität der Gesellschaft abzubilden, ist eine der klar formulierten Aufgaben der Öffentlich-Rechtlichen (GR Stocks/unsplash)
Unzählige Stunden, Monate, Jahre hat mich das Radio in meinem Leben begleitet. Wie für viele Menschen ist es auch für mich fester Bestandteil meines Alltags, privat wie auch beruflich, als Medienkritikerin und langjährige Jurorin des Deutschen Radiopreises.
Viel hat sich getan, seit die erste Sendung über den Äther ging, und kontinuierlich hat sich das Radio im Lauf der Jahre fortentwickelt, als beständiger Formenwandler bewiesen. Und doch stehen wir im Jahr 2023 vor tief greifenden Veränderungen. Große geopolitische und kommunikative Umwälzungen stellen unser gesellschaftliches Zusammenleben auf den Prüfstand – und rücken damit auch Medien ins Zentrum einer intensiven Diskussion um Wahrheit und Werte, um Repräsentation und Realität. Diese oft als Zeitenwende bezeichnete Zäsur erfordert dabei gerade von Medien ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit und Aushandlung.

Hingeschaut: Der Programmauftrag von Deutschlandradio

Entlang von vier Dimensionen möchte ich hinterfragen, wie sich diese Zäsur auf Deutschlandradio und seinen Programmauftrag auswirkt.
Vertrauen. Ein Passus ist mir im Programmauftrag von Deutschlandradio besonders ins Auge gesprungen: „Die Angebote sollen eine freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung fördern.“ Hinter diesem Satz steht eine gewichtige, eine verantwortungsreiche Aufgabe. Es ist die Aufgabe der informationellen Daseinsvorsorge. Denn faktengeprüfte, verbindliche Informationen sind Grundlage für einen verbindenden Blick – sie eröffnen erst den Raum für eine gemeinsam erschaffene gesellschaftliche Realität. Allerdings lässt sich zunehmend beobachten, dass diese geteilte Realität, diese gemeinsame Erzählung der Welt systematisch attackiert wird, mit einer Hermeneutik des Verdachts belegt wird. Als ob Fakten auf einmal verhandelbar würden. – Meine Frage zum medialen Vertrauen: Welche Formate und Strategien entwickelt Deutschlandradio gegenüber jenen, die den öffentlichen Diskurs und das ihm zugrunde liegende Vertrauen (zer)stören wollen?
Vertrauen habe ich in einer Episode des Deutschlandfunk Politikpodcasts zur vergangenen Bundestagswahl gefunden: Da fanden in Echtzeit unterschiedlichste Menschen zusammen – Experten und Expertinnen wie Zuhörende – und redeten nicht aufeinander los, sondern miteinander. Das gelang, weil die Moderation exzellent war, die Diskussion angemessen facettenreich und die Auswahl der Sprechenden sinnvoll. Mit diesem Format schaffte Deutschlandradio einen sicheren Ort der Orientierung, an dem Fragen erwünscht waren und gemeinsam entwickelte Erkenntnis möglich.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist das zentrale Fundament einer freien und gleichen Gesellschaft.
Verantwortung und Verhältnismäßigkeit. Die Welt ist schnell geworden. Ereignisse geben den Takt und den Puls der Medien vor. Doch nicht alle Nachrichtenlagen, nicht alle gesellschaftlichen Gruppen und nicht alle Regionen in Deutschland, Europa und der Welt erhalten die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. – Meine Fragen zur medialen Verantwortung: Wie schafft Deutschlandradio eine zuverlässige Orientierung über das Geschehen in der Welt? Was und wem wird intern Nachrichtenwert zugemessen – und wer entscheidet das aus welcher Perspektive? Und wer erhält externen Gesprächspartner oder Expertinnen-Status, wem schenkt Deutschlandradio also eine Plattform und wer bleibt außen vor? – Und wie sieht es mit der medialen Verhältnismäßigkeit aus? Diese definiert sich auch durch aktives Weglassen: Wo wird dem Publikum Zeit zum Atmen gegeben, zum Innehalten, zum Verstehen? Und wie kann ein produktiver Umgang mit inhaltlichen Leerstellen aussehen, sprich: Wie lässt sich ein (Noch-)Nicht-Wissen transparent abbilden, um vorschnelle Schlüsse und Vorurteile zu vermeiden und stattdessen journalistische Sorgfalt zu garantieren?
Thematische Verantwortung und journalistische Verhältnismäßigkeit waren beispielhaft erkennbar bei der Deutschlandradio Denkfabrik 2022 zum Thema „Von der Hand in den Mund. Wenn Arbeit kaum zum Leben reicht“. Dieser Themenschwerpunkt bearbeitete eine der zentralen gesellschaftlichen Fragen: Ungleichheit und mit ihr verbundene Machtstrukturen. Das Publikum erhielt eine vielschichtige, multiperspektivische Adlersicht auf ein komplexes Themenfeld – unter Berücksichtigung von Stimmen, die man selten hört.
Portrait Nadia S. Zaboura
Portrait Nadia S. Zaboura (© Lars Weber/Goldene Atolle)
Nadia Zaboura. Kommunikationswissenschaftlerin und Linguistin. Sie arbeitet als selbstständige Politik- und Kommunikationsberaterin sowie als Fach-Moderation in den Themenfeldern Medien, Digitalisierung, Bildung und Demokratie. Sie ist Host von „quoted – der medienpodcast“ und langjährige Vorsitzende und Jurorin der Grimme-Jury des Deutschen Radiopreises.
Vielfalt. Wenn wir die Welt in ihrer realen Vielfalt hören und sehen, wenn wir Wirklichkeiten wahrnehmen, die nicht der unseren entsprechen, dann wird der Mensch vom „Du zum Ich“, wie es der Philosoph Martin Buber beschrieb. Wir erfahren und deuten uns durch die Begegnung mit anderen. Qualitätsjournalismus ist verantwortlich dafür, dass der Diskurs einer demokratischen Gesellschaft eben dieses Ziel verfolgt. Und doch kommen verschiedene gesellschaftliche Gruppen in Medien kaum selbst zur Sprache. – Meine Fragen zur medialen Vielfalt: Wem hören Deutschlandradio und seine drei Programme aktiv zu? Welchen Erfahrungswelten verleiht das Programm Gewicht? Und wie vielfältig sind die internen Strukturen aufgestellt, entlang aller Gewerke, gerade auch in Führungspositionen?
Eine Vielfalt im besten Sinne, die mich und die Jurykolleginnen und -kollegen des Deutschen Radiopreises beeindruckt und überzeugt hat, findet sich in der Deutschlandfunk Reportage „Heimat tut weh“ von Anh Tran. Für diese exzellente Ausleuchtung einer deutschen Realität der Vielen haben wir sie 2020 mit dem Deutschen Radiopreis in der Kategorie „Beste*r Newcomer*in“ ausgezeichnet.

Vom Rückblick zum Ausblick

Vertrauen. Verantwortung und Verhältnismäßigkeit. Vielfalt. Unter diesen vier Prämissen ist Deutschlandradio mit seinen drei Programmen dem Publikum ein auditives Zuhause geworden, eine Heimat. Viele Menschen erkennen sich in den Angeboten wieder und nutzen die informationelle Daseinsvorsorge als mündige Bürgerinnen und Bürger.
In welchen Dimensionen sich Medien und speziell das öffentlich-rechtliche Radio nun in den nächsten 100 Jahren entwickeln, entfalten, verändern und wie spürbar weitere, diverse Zielgruppen aktiv eingebunden und für das gemeinsame Gespräch gewonnen werden können, das ist aufs Engste verbunden mit der Erfüllung als auch der stetigen Nachschärfung des Programmauftrags. Gerade in stürmischen Zeiten, in Zeiten der Unsicherheit und des Umbruchs: Das Ziel eines verantwortungsvoll informierenden wie inkludierenden Radios ist es, stets ein kollektives, kenntnisreiches und auf Verständigung ausgerichtetes Gespräch einer Gesellschaft der Vielen zu ermöglichen, dabei Unterschiedlichkeiten und Spannungen auszuhalten und versiert zu moderieren und: hierfür sichere Kommunikationsräume für alle Publika zu etablieren. Statt Welten-Trennung also Welten-Bau zu ermöglichen – inmitten der Gesellschaft, gemeinsam und auf Augenhöhe, jeden Tag.