Stigmatisierung psychisch Kranker – Vorurteile & Abwertung

Die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen hat zugenommen - trotz Aufklärung. Die Folgen der Ausgrenzung und Abwertung für Betroffene sind extrem: Sie finden schwerer einen Job, bekommen seltener eine Wohnung und werden sozial ausgegrenzt. Doch woran liegt das? Dieser Text soll Dir die Hintergründe & aktuellen Tatsachen erklären.

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Menschen mit psychischen Erkrankungen leiden nicht nur an ihren Symptomen,

sondern auch an stereotypen Vorurteilen und sozialer Diskriminierung.

Inhaltsangabe: Stigmatisierung

  • Angst vor psychisch kranken Menschen

  • Stigmatisierung & Stereotype

  • Ausgrenzung und Vorurteile gegen psychisch Kranke

  • Was bedeutet Stigmatisierung?

  • Soziale Stigmatisierung

  • Gründe: Unwissenheit & Fehlinformationen

  • Warum gilt Stigmatisierung als 2. Krankheit?

  • Folgen: Selbststigmatisierung

  • Ursachen der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen

    • Die Medien spielen eine Rolle

    • Stigma Depression durch Werbung

  • Aufklärung gegen Stigmatisierung

 

Stigmatisierung psychischer Krankheiten ist weit verbreitet

Die Stigmatisierung psychisch Kranker ist kein Generationsproblem. Sie ist ein gesellschaftliches Problem. Obwohl 4 von 5 Menschen mindestens einmal im Leben an einer psychischen Störung leiden (1), sagt kaum jemand: „Ich hatte schwere Panikattacken.“ Oder: „Ich hatte Depressionen“. Dafür ist das Thema psychische Krankheit, obwohl es bereits in die Öffentlichkeit gelangt ist, immer noch zu unverständlich, vorurteilsbehaftet und tabuisiert. (Vgl. auch Panikattacken – Was tun als Partner?)

 

Stigmatisierung greift weiter um sich

Bereits vor wenigen Jahren hieß es aus Fachkreisen:

„Es gibt immer wieder Versuche, den Krankheitsaspekt komplett wegzuleugnen, die Erklärungsversuche der modernen Medizin als unzureichend abzutun und den Menschen vorzuwerfen, selbst schuld an ihrer Erkrankung zu sein“ sagt Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psy­chia­trie und Psychotherapie der Charité Berlin und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

 

Angst vor psychisch kranken Menschen

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Das schlägt sich auch in Umfragen nieder: So zeigte sich beispielsweise bei einer Befragung von 3047 Erwachsenen in Kanada, dass

  • 45 % der Befragten Depressive für unberechenbar

  • und 20 % Depressive für gefährlich hielten.

Ein Forschungsteam an den Universitäten Wien und Leipzig kam kürzlich zu ähnlichen Ergebnissen.

Es befragte ostdeutsche Erwachsene und stellte fest, dass der Kenntnisstand zwar gestiegen war, aber dass der Wunsch, sich sozial von Menschen mit Depressionen oder Schizophrenien zu distanzieren, unverändert geblieben ist, ja sogar tendenziell zugenommen hat. (2)

 

Stigmatisierung aus Angst vor Stereotypen

Dass Menschen Angst vor dem Unbekannten haben, ist bekannt und typisch. Hier ist es so, dass sich viele Leute vor psychisch kranken Menschen fürchten, weil sie nicht wissen, wie sie diese einschätzen sollen und wie mit ihnen umzugehen ist.

“Distanz gegenüber Menschen mit psychiatrischen Krankheiten, häufig verbunden mit Angst vor psychisch Erkrankten ist immer noch ein substanzielles Problem in der AllgemeinbevölkerungDas war das Ergebnis einer Studie in Deutschland von 2015 (4).

 

Ausgrenzung & Vorurteile gegen psychisch Kranke

Psychische Krankheiten wie Depressionen, bipolare Störungen, Schizophrenien etc. sind schambehaftet. Erkrankte genieren sich mit ihrem ganzen Wesen dafür. Ich habe immer noch Probleme mich vor Ärzten und Bekannten zu outen.

Genau das sind die Ursachen dafür, dass kranke Menschen nicht nur mit den Symptomen ihrer Krankheit zu kämpfen haben, sondern auch noch mit vielen Vorurteilen gegen Depressionen, Manien & Co.

 

Was bedeutet Stigmatisierung?

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Wenn ein Mensch aufgrund einer psychischen Erkrankung abgewertet oder ausgegrenzt wird, dann spricht man von Stigmatisierung“, erklärt Heinz. 

Stigma wird definiert als das Zusammentreffen von Ignoranz (Unwissenheit und/oder Fehlinformation) und Vorurteilen (negativen Einstellungen, negative soziale Stereotype), was zu Ablehnung, diskriminierenden Handlungen und Ausschluss von Formen der sozialen Teilnahme führt.

 

Das Problem der Sigmatisierung von psychischen Krankheiten ist bekannt, sehr häufig und ziemlich weit verbreitet. Weltweit!

Zwar wissen die Menschen mittlerweile mehr über Geisteskrankheiten, die Einstellungen und Vorurteile gegenüber Depressionen, Manien und anderen psychischen Erkrankungen hat sich jedoch verschlechtert.

 

Vorurteile & Schuldvorwürfe führen zu sozialen Stigmatisierungen

Dank der Stigmatisierung suchen sich leider viele Menschen nie oder erst sehr spät Hilfe. Erkrankte wie ich haben höllische Schamgefühle und fühlen sich selbst schuldig für ihren elenden Zustand. Die stärkste Stigmatisierung erfahren Patienten mit

  • 1. Schizophrenie

  • 2. Alkoholismus

  • 3. Depressionen

 

Das Ganze ist sogar so heftig, dass die Psychologie die Stigmatisierung als 2. Krankheit betitelt, sobald die Angst vor Abwertung und Zurückweisung den gleichen Leidensdruck auslöst wie die Erkrankung an sich.

 

Unwissenheit und Fehlinformationen lassen sich besonders hinsichtlich der Ursachen von Depression finden.

  • Diese werden häufig mit einem Mangel an Willensstärke und Charakterschwäche in Verbindung gebracht.

  • Eine Studie zeigt, dass die Mehrheit der Befragten glaubt, eine falsche Lebensführung und/ oder fehlende Selbstdisziplin seien wichtige Ursachen von Depressionen.

  • Symptome der Depression wie beispielsweise Antriebsmangel und sozialer Rückzug, werden fehlinterpretiert als Desinteresse und/oder Gleichgültigkeit

  • während emotionale Sensibilität als überzogene Empfindlichkeit eingeordnet wird.

  • Gleichzeitig wird impliziert, dass Betroffene für ihren psychischen Zustand selbst schuld seien.

  • Immer wieder höre ich auch, dass Vitamin D Mangel die einzige Ursache sei (vgl. Ernährung bei Depressionen)

 

Warum gilt Stigmatisierung als 2. Krankheit?

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Weil sich nicht nur Menschen von Betroffenen abwenden, sondern auch die Lebenschancen stark eingeschränkt sind.

Als Mensch mit psychischer Erkrankung ist es nicht einfach einen Job oder eine Wohnung zu bekommen.

Stigmatisierung ist deswegen eine Art Krankheit, weil sie den Heilungsprozess behindert, traumatisiert und eine frühzeitige Diagnose & Behandlung vereitelt.

Vorurteile & Stigmata verhindern auch eine soziale Teilhabe von Betroffenen, die doch für die Genesung ein wesentlicher Faktor ist.


 

Ursachen der Stigmatisierung von psychisch Kranken

Die Medien spielen eine Rolle

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Die von Depressionskranken erlebte Stigmatisierung speist sich aus 2 Quellen: eigener Antizipation (Stelbststigmatisierung) und krankheitsbedingte Verzerrung sowie dem öffentlichen Stigma.

Die Gründe für die Stigmatisierung der Depression sind vielseitig. Ein Aspekt: der Idealtyp des aktiven, gesunden Menschen.

Eine Diskursanalyse (4) zeigte, dass depressive Erkrankungen in den Medien häufig als negatives Spiegelbild dargestellt werden.

 

Stereotype Abbildungen zeichnen ein Bild der Betroffenen als homogene Gruppe, die sich beispielsweise durch Traurigkeit, Schwäche und Isolation von der „normalen Welt“ abheben.

Dabei fördern diese Darstellungen negative Assoziationen mit der Depression und verbreiten oftmals ein auf Mangel an Wissen basierendes unvollständiges und/oder falsches Bild dieser Krankheit.

 
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Der Fokus auf die Symptome erzeugt eine Diskrepanz zum tatsächlichen Leidensdruck der Betroffenen, der in der Darstellung oft fehlt.

Mediendarstellungen der Depression tragen somit einerseits zu einem falschen und/oder verschleierten Bild der Erkrankung bei, andererseits fördern sie ein Bild von Normalität, das der Erkrankung entgegengesetzt ist

 

“Zunehmend wird durch die Medien die neoliberale Norm eines glücklichen Individuums verbreitet, das sich durch seine energetische, motivierte, soziale und starke Persönlichkeit auszeichnet”(4)

Fachbereiche wie Positive Psychologie sowie Bücher, Magazine und Dokus befassen sich immer mehr mit dieser Norm des Daseins.

Anpassungsfähig, produktiv, effizient und erfolgreich – das sind die Eigenschaften von glücklichen Menschen. Diejenigen, die diese Attribute nicht verkörpern, wie zum Beispiel depressive Menschen, gelten als von der Norm abweichend, andersartig und werden aufgrund dessen häufig als minderwertigklassifiziert und folglich diskriminiert” - so die Autoren einer großangelegten Studie (4).

 
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Stigmatisierung der Depression durch Werbung

Die Werbung zeigt: Trägheit, Müdigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten werden häufig auf schlechte Ernährung oder auf Mangel an Bewegung zurückgeführt. Veränderte Lebensstandards sowie pflanzliche und synthetische Medikamente sollen Besserung versprechen.

Dadurch wird suggeriert, dass jede Person solche Befindlichkeiten überwältigen kann, insofern sie aktiv daran arbeitet.

Es gilt ,„sich zusammenzureißen“, die Symptome zu bekämpfen und entsprechend des geltenden Wertekanons zu leben.

 

Auf psychische Erkrankungen wird in diesem Kontext jedoch wenig hingewiesen. Dies unterstreicht die Sicht, dass Depressionen und ihre Symptome selbst verschuldete Zustände sind, die Betroffene aus eigener Willenskraft heraus ändern können.

 

“So fördern Medien, die das glückliche Individuum als normativ darstellen und die Überwindung negativer Zustände dem Individuum selbst zuschreiben, implizit, dass Betroffene der Norm nicht entsprechen. “

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Durch die verstärkte Assoziation der Depression mit Traurigkeit, Schwäche, Kraftlosigkeit, Einsamkeit und Mangel an Motivation wird ein vereinfachtes Bild einer komplexen psychischen Erkrankung gezeichnet.

Auf diese Weise wird das vorherrschende Miss- und Unverständnis bzgl. depressiver Krankheiten weiter angetrieben. Was sich deutlich in der Allgemeinbevölkerung Deutschlands wiederspiegel, wie die erwähnten Studien belegen [4].

 

Aufklärung gegen Stigmatisierung

(Mental Health Awareness)

Irgendwie scheint die Vorstellung von Gewalttätigkeit/Gefährlichkeit von psychisch Kranken tief verwurzelt zu sein. Bereits seit dem Mittelalter gelten kranke Menschen als unheimlich, nicht gesellschaftsfähig und animalisch – sie wurden komplett von der Gesellschaft ausgegrenzt und in der Kunst entsprechend dargestellt.

Ist da also was dran? Nö, sagt unser Fachmann Dr. Heinz (und der muss es wissen!). Wissensvermittlung ist immer ein guter Schritt, um Vorurteile und falsche Annahmen zu bekämpfen.

 

Aber bringt es echt was, wenn ich andere über die biologischen Faktoren meiner Depression aufkläre?

Auch hierzu gibt’s Studien, die zeigen aber nichts Gutes: Die Toleranz steigt mit dem Wissen nicht (2). Dr. Heinz meint: Aufklärung reicht nicht. Auch Integration, Kontakt und direkte Kommunikation seien nötig, damit man Kranke in ihrem Mensch-sein erlebe.

 

Wie Stigmatisierung von psychisch kranken Menschen besiegen?

So können wir Stigmata abbauen

Entstigmatisierung funktioniert über einen offeneren Umgang mit Geisteskrankheiten. Nur so kann Verständnis entstehen und nur so können Erkrankte den Mut aufbringen, darüber zu sprechen.

Die schreckliche Scham, die mich und andere Betroffene so klein und gefangen hält, würde abnehmen. Leute würden sich früher Hilfe holen, ehe es zu spät ist. Außerdem wären weit weniger Patienten von Arbeitslosigkeit, sozialer Ausgrenzung und Obdachlosigkeit bedroht.

Und auch eine Psychotherapie wäre so normal wie eine OP nach einem Beinbruch.

Vgl. auch: Volkskrankheit Depression – Bedeutung von Politik & Gesellschaft

Vgl. auch Grenzüberschreitungen in der Psychotherapie


Quellen

1) William Copeland et. al.: Cumulative prevalence of psychiatric disorders by young adulthood: a prospective cohort analysis from the Great Smoky Mountains Study
2) Marion Sonnenmoser: Laienkonzepte von psychischen Erkrankungen – Toleranz steigt nicht (Ärzteblatt)
3) Einstellungen zur psychiatrischen Behandlung und zu Menschen mit psychischen Erkrankungen: Veränderungen über zwei Jahrzehnte
4) Nadja Baer et. al: Das Stigma Depression – eine Interaktion zwischen öffentlichem Diskurs und Erfahrungsberichten Betroffener
5) Wolfgang Gaebel: Psychisch Kranke: Stigma erschwert Behandlung und Integration (Ärzteblatt)
6) Aktionsbündnis Seelische Gesundheit: Stigmatisierung
7) Dr. Christine Amrhein: Stigmatisierung psychisch kranker Menschen. Ausgrenzung und Diskreminierung: immer noch ein eher zunehmendes Problem
8) Steffen Conrad von Heydendorff und Harald Dreißig: Mediale Stigmatisierung psychisch Kranker im Zuge der „Germanwings“-Katastrophe
9) Thomas Ihde-Scholl: «Die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen ist leider ein weltweites Phänomen.» (Interview auf spectra-online.ch)
10) Jana Hauschild: Psychisch Kranke oft stigmatisiert: Viele verlieren den Arbeitsplatz, manche ihr Leben
11) Bundesärztekammer Beschlussprotokoll “Aktive Bekämpfung der Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen”
12) Ernst von Kardorff: Stigmatisierung, Diskriminierung und Exklusion psychisch kranker Menschen – Soziologische Anmerkungen zu einer ärgerlichen gesellschaftlichen Tatsache und einem fortlaufenden Skandal
13) Stiftung Gesundheitswissen: Selbst schuld? Stigmatisierung von Krankheiten
14) Neurologen und Psychiater im Netz: Das Stigma psychischer Erkrankungen in der Gesellschaft

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hey, ich bin Tamara, studierte Germanistin, Philosophin (M. A.) & freie Journalistin. Hier blogge ich über meine Erfahrungen mit Depressionen & Angst sowie über Philosophie & soziale Ungleichheit.

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