Frontbericht

Die Verrohung des Krieges ist unübersehbar

(c) Peter Kufner.
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Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine verändert die Menschen. Der Kampf auf den Schlachtfeldern nimmt immer aggressivere Züge an. 

Der Übergang zwischen Krieg und Frieden ist ­fließend in der Ukraine. In der einen Minute sitzt man in einem modernen Café in Saporischschja im Süden der Ukraine und bekommt Avocado-Toast, ­pochierte Eier und peruanischen Kaffee mit Hafermilch serviert; in der anderen Minute sitzt man in einem Gefechtsstand der ukrainischen Nationalgarde und verfolgt über einen Bildschirm, wie eine ukrainische Drohne eine Sprenggranate auf einen russischen Soldaten in einem Schützengraben abwirft, während im Hintergrund die Artilleriegeschütze beider Seiten donnern. Die zeitliche Distanz zwischen Avocado-Toast und der Front: 50 Minuten. 

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Die Ukraine ist in einer schwierigen militärischen Lage. Zu wenig Munition, zu wenige Soldaten, und zu wenig ausgebaute Verteidigungsstellungen, um die nächsten russischen Angriffe entlang der jetzigen Frontlinie auf Dauer erfolgreich abwehren zu können. Diese Mängel machten sich bei meiner jüngsten Reise in die umkämpften Regionen des Landes vor einigen Tagen bemerkbar. Im Moment hält die Front. Die Moral unter den ukrainischen Soldaten ist auch nach wie vor hoch. Statt Angriff lautet die Devise aber aktive Verteidigung. Das bedeutet konkret, dass trotz russischer Überlegenheit kein Stück ukrainischer Boden aufgegeben wird. Ein zermürbender Kampf mit hohen Verlusten auf beiden Seiten ist die Folge. 

Die nüchterne Arithmetik des Krieges

Als Militäranalyst ist man bei einem Frontbesuch vorrangig mit den technischen Aspekten der Kriegsführung beschäftigt. So und so viele Granaten aus diesen und jenen Geschützen werden pro Tag verschossen, die jene Anzahl an Toten und Verwundeten verursachen, von denen dieser und jener Prozentsatz nach der Genesung wieder an die Front geschickt werden kann. Um dann mit Unterstützung von dieser und jener Anzahl an gepanzerten Fahrzeugen und anderem Gerät effektiv angreifen oder verteidigen zu können. Das ist die nüchterne Arithmetik des Krieges hinter einer grauenvollen Realität. 

Wie geht es den Soldaten?

Eine ordentliche militärische Analyse besteht aber aus mehr als dem Zählen von Panzern und Granaten. Neben den materiellen Faktoren ist es vor allem der moralische Faktor, der oft Rückschlüsse auf den Zustand einer Armee schließen lässt. Hier interessiert mich vor allem der Gemütszustand der Streitkräfte: Wie motiviert ist die Truppe, weiterzukämpfen? Wie ist ihre Stimmung? Und wie ist die mentale Verfassung der Soldaten? Zusammengefasst ist die Stimmung unter den ukrainischen Kämpfern und Kämpferinnen nach wie vor ausgezeichnet an der Front. Doch was mir diesmal stark auffiel, ist die langsame Verrohung Einzelner in diesem Krieg, die seit über zwei Jahren von Leid und Tod umgeben sind. 

»Eine ordentliche militärische Analyse besteht aber aus mehr als dem Zählen von Panzern und Granaten. Mich interessiert vor allem der Gemütszustand der Streitkräfte: Wie motiviert ist die Truppe, weiterzukämpfen? Wie ist ihre Stimmung? Und wie ist die mentale Verfassung der Soldaten? «

Franz-Stefan Gady

Ich bemerkte dies auch an dem Tag im Gefechtsstand der ukrainischen Drohneneinheit. Ein Kollege von mir stellte eine Standardfrage als Militäranalyst: „Welches Kaliber werft ihr hier auf die russischen Stellungen ab?“ Ein Ukrainer verschwand kurz und kam mit einer Anzahl verschiedener Spreng­granaten zurück. Eine zeigte er mit besonderem Stolz her. „Die haben wir selbst entwickelt!“ „Größere Sprengkraft und Fragmentierung?“, fragte mein Kollege. „Ja“, antwortete der Soldat. „Aber seht selbst!“ Der Soldat zog sein Smartphone aus seiner Tasche und zeigte uns einen Videomitschnitt eines Drohneneinsatzes seiner Einheit vor ein paar Tagen. 

Zwei Russen im Niemandsland

Auf dem Video sehen wir zwei russische Soldaten, die im Niemandsland zwischen den Fronten, ein paar Kilometer von dem Gefechtsposten entfernt, regungslos am Boden liegen. Sie scheinen nicht mehr am Leben zu sein. Es ist Tag. Die russischen Soldaten stellen sich aber nur tot. Sie wollen den Schutz der Dunkelheit abwarten – nur wenige Drohnen verfügen über Infrarotkameras, die in der Nacht funktionieren –, um weiter vorzurücken. Der ukrainische Soldat meint, er habe schnell bemerkt, dass die Soldaten nicht gefallen waren. Er lenkte also eine Drohne, bewaffnet mit der neuen Sprenggranate, auf die Russen und drückte auf den Auslöser der Waffe. Im Video sehen wir, wie eine Granate neben einen der Russen fällt und explodiert. 

Horror auf dem Schlachtfeld

Der Russe wird wild herumgeschleudert. Die Explosion reißt ihm sein Bein weg. Dann geht es schnell. Ohne auf seine Verwundung zu schauen, greift der Soldat schmerzverzerrt nach seinem Gewehr, steckt die Mündung unter sein Kinn und drückt ab. Kopfschuss. Leblos liegt er nun in Embryostellung da. „Wir erzielen gute Resultate mit der Munition“, sagt der Ukrainer nüchtern. Den Horror, den wir da gerade am Bildschirm gesehen haben, thematisiert er nicht. Von der strategischen Ebene aus gesehen eine belanglose Episode in diesem Abnutzungskrieg. Doch zeigt sie gut die menschliche Verrohung, die der Krieg mit sich bringt, und die sich vor allem in der Gleichgültigkeit des Leides anderer zeigt. 

Nach unzähligen dieser Reisen in den vergangenen zwei Jahren fällt mir auf, dass beide Seiten nicht nur gleichgültiger, sondern auch erbarmungsloser geworden sind, wie sie diesen Krieg führen. Russen und Ukrainer sind hier aber nur schwer vergleichbar. An allen Sektoren der Front, die mein Team und ich bereisten, wurde uns mitgeteilt, dass russische Offiziere, teilweise sogar Unteroffiziere, jeden Befehlsverweigerer oder angeblichen Drückeberger auf der Stelle erschießen. Nur wer schwer verwundet ist, darf sich nach einem misslungenen Angriff auf die eigene Seite zurückziehen. Daher stellten sich die beiden verwundeten Russen im Niemandsland auch tot. Wären sie in diesem Zustand zurück zu den eigenen Linien gekrochen, wären sie auf der Stelle exekutiert worden. 

Auf der ukrainischen Seite wäre dies undenkbar. 

Die Schüsse knallen

Doch auch hier ist eine wachsende Erbarmungslosigkeit festzustellen. Russische Einheiten werden oft bis zum letzten Mann mit Artilleriegranaten und Kamikazedrohnen niedergemacht. Unter anderem, weil viele Russen sich nicht ergeben. Auch dazu sah ich einiges an Videomaterial. Es gibt aber keine Evidenz von standrechtlichen Erschießungen oder systematischen Kriegsverbrechen der Ukraine. 

Videos von nach der Gefangennahme exekutierten ukrainischen Soldaten, aufgezeichnet durch ukrainische Drohnen, kamen mir aber immer wieder unter. Ein Video zeigt, wie zwei ukrainische Soldaten aus einem Schützengraben getrieben werden. Beide sind bereits verwundet. Sie scheinen zu wissen, was sie erwartet, als die Russen ihre Gewehre auf sie richten. Einer der beiden taumelt im Gelände. Der andere fängt ihn auf und stützt seinen Unterarm, wie einem stolpernden Passanten, dem man zufällig bei einem Parkspaziergang begegnet und hilft. Die Schüsse knallen, und beide Leiber fallen stumm zu Boden. Die Drohnenkamera hat eine kleine menschliche Geste in den finalen Momenten eines Menschenlebens festgehalten. Langsam kommt die noch verbleibende Menschlichkeit in diesem Krieg aber abhanden.

E-Mails bitte an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Franz-Stefan Gady (*1982) ist unabhängiger Militärexperte und Politikanalyst. Der gebürtige Steirer hat lange Zeit in den USA gelebt und ist seit Ausbruch des Ukraine-Krieges international gefragter Militärexperte. Er ist Kolumnist beim „Foreign Policy Magazine“.

Franz-Stefan Gady.
Franz-Stefan Gady. Katharina Maria Zimmermann.

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