Die Politik drängt zu Impfungen für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren. Von der STIKO gibt es bisher keine Empfehlung. Was sagen eigentlich die Pädiater dazu?
Die Meinungen gehen auseinander, die Stimmung ist gereizt: Die Frage, wie sinnvoll und dringend COVID-19-Impfungen für junge Menschen sind, entzweit die Ärzteschaft und Politik zur Zeit. Die Debatte wird durch aktuelle Meldungen aus den USA verschäft. Hier mehren sich bedingt durch die Delta-Variante Fälle von schweren Corona-Krankheitsverläufen bei Kindern.
Weil es noch keine Empfehlung von der Ständigen Impfkommission (STIKO) gibt, wollen Bund und Länder jetzt Fakten schaffen und allen Zwölf- bis 17-Jährigen Impfungen gegen COVID-19 anbieten. Was sagen Pädiater dazu? DocCheck hat sich dazu bei Experten umgehört.
Bisher haben nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) 22,5 Prozent der Altersgruppe von zwölf bis 17 Jahren die Impfung erhalten. Aber nicht alle Kinder- und Jugendärzte impfen zur Zeit. Das heißt, Eltern müssen teilweise hartnäckig sein, um einen Impftermin für ihr Kind zu bekommen.
Eine Online-Umfrage von DocCheck Insights unter 100 niedergelassenen Pädiatern liefert aktuelle Daten zur Stimmung in der Berufsgruppe. Für die Impfung von über 12-Jährigen spricht sich noch eine deutliche Mehrheit aus: 63 Prozent halten eine COVID-19-Impfung bei Kindern in dieser Altersgruppe für (sehr) sinnvoll, während 18 Prozent die Spritze für diese Gruppe eher oder ganz ablehnt. 19 Prozent der befragten Pädiater gab an, unentschlossen zu sein
Anders ist die Stimmung im Hinblick auf die Impfung bei unter 12-Jährigen. Hier halten aktuell nur 31 Prozent die Impfung für sinnvoll, 46 Prozent stehen der Impfung in dieser Altersgruppe kritisch gegenüber. Pädiater die sich für die Impfung aussprechen, sehen in dem möglichen Auftreten von Long Covid und psychischen Folgen einer Quarantäne und dauerndem Homeschooling höhere Risiken als in der Impfung. Auf der Kontra-Seite ärgumentieren die Ärzte vor allem mit der fehlenden STIKO-Empfehlung.
Eine Vielzahl von Pädiatern stärkt der Kommission aktuell den Rücken. Dazu gehört auch Johannes Hübner, Professor für Kinderheilkunde an der Uniklinik München und Ex-Chef der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie.
„Die Mitglieder der STIKO sind die einzigen, die einen kühlen Kopf bewahren. Ihre Entscheidung ist völlig richtig“, sagt Hübner gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das Risiko für Kinder, an COVID-19 zu erkranken, sei viel geringer als bei Erwachsenen. Eine Impfempfehlung sei nur geboten, wenn die Gefahr der Nebenwirkungen noch geringer sei.
„Vermutlich ist das so, und vermutlich ist das Impfen deshalb sinnvoll“, so Hübner. Aber: Die Daten der Hersteller-Studien reichen für ihn bisher für eine generelle Empfehlung nicht. „Die Zahl der Testpersonen war so niedrig, dass man seltenere Verläufe gar nicht darstellen konnte. Für verlässliche wissenschaftliche Aussagen reicht das nicht aus.“
Er sieht mit Blick auf die Inzidenzen und Hospitalisierungsquoten in Deutschland aktuell „überhaupt keinen Grund, die Kinderimpfung übers Knie zu brechen.“
Wie häufig es tatsächlich zu schweren Fällen unter Kindern kommt, zeigen aktuelle Daten: Im Juli 2021 wurden der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) zufolge bundesweit lediglich fünf Krankenhauseinweisungen von Kindern und Jugendlichen gemeldet. Davon musste kein Patient intensivmedizinisch behandelt werden. Im August wurden 77 Kinder hospitalisiert, davon 15 Aufnahmen auf einer Intensivstation.
Mehr Druck als viele seiner Kollgen macht Dr. Thomas Fischbach, Chef der Kinder- und Jugendärzte. Er fordert jetzt eine klare Ansage seitens der STIKO. Nur so wüssten Eltern, wie es weitergeht und ob sie ihr Kind impfen lassen sollen. Einen weiteren Lockdown käme für ihn einem „körperlichen und seelischen Kollateralschäden“ für die Heranwachsenden gleich.
Das Risiko von Nebenwirkungen durch die Impfung wertet er als extrem gering. „Es gibt inzwischen zahlreiche Studien, die die Impfung positiv bewerten. Der Corona-Berater der israelischen Regierung und Leiter der größten Kinderklinik des Landes Itai Pessach etwa hat betont, die zugelassenen Vakzinen für ab 12-Jährige seien sicher und gut verträglich. Die Evidenzlage wird breiter“, erklärt er.
Derweil schlägt die „American Academy of Pediatrics” (AAP), der Berufsverband für 67.000 Kinderärzte in den Vereinigten Staaten, Alarm. Übereinstimmend melden leitende Ärzte in Kinder-Kliniken in US-Medien, dass sie binnen weniger Wochen deutlich mehr jungen Patienten behandeln mussten.
Die pädiatrischen COVID-19-Fälle sind in den letzten Wochen rasant in die Höhe geschnellt: Nach den letzten verfügbaren Daten der Pädiatrischen Akademie wurden in der Woche vom 22. Juli 38.654 pädiatrische Covid-Fälle gemeldet. Innerhalb einer Woche, am 29. Juli, stieg diese Zahl um 85 Prozent auf 71.726.
Jetzt haben es die US-Pädiater eilig: In einem Brief appelieren sie an die Arzneimittelbehörde FDA, den Impfstoff Covid für Kinder zwischen 5 und 11 Jahren vorab zuzulassen. Hintergrund ist, dass die Studien zu den Kinderimpfungen sich länger hinziehen als geplant, weil die Zahl der Teilnehmer vergrößert wurde, um bessere Daten zu generieren. „Die Delta-Variante hat ein neues und dringendes Risiko für Kinder und Jugendliche in diesem Land geschaffen“, heißt es in dem Schreiben.
Pfizer erwartet im September Daten zu Kindern im Alter von 5 bis 11 Jahren und bald darauf Daten zu Kleinkindern bis zum Alter von 4 Jahren. Von Moderna soll es wahrscheinlich im Spätherbst oder frühen Winter Daten geben. Die FDA hat vier bis sechs Monate an Sicherheitsdaten aus den klinischen Studien für Kinder angefordert – im Vergleich zu zwei Monaten an Nachbeobachtungsdaten, die für die Impfstoffstudien für Erwachsene erforderlich sind.
Für die AAP gibt es jetzt aber keine Zeit mehr zu verlieren. Sie plädiert dafür, die Nachbeobachtungsdauer auf zwei Monate zu verkürzen, um das Vakzin möglichst schnell zulassen zu können. Das Warten auf eine sechsmonatige Nachuntersuchung wäre in den Augen der Akademie eine „riskante Verzögerung“.
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