Ingolstadt
Volksfest-Achterbahn mit DDR-Geschichte seit genau 50 Jahren in Betrieb

Volksfest-Achterbahn mit DDR-Geschichte seit genau 50 Jahren in Betrieb - Premiere 1969 in Ost-Berlin

02.10.2019 | Stand 23.09.2023, 8:50 Uhr
Achterbahnfan Thomas Enders (ganz rechts) fiel der Rock-&-Roller-Coaster von Lutz Vorlop (Porträtbild rechts) auf, der bis Sonntag auf dem Herbstvolksfest steht. Vor 50 Jahren hatte das Fahrgeschäft unter dem Namen Wildcat seine Premiere in einem Vergnügungspark in Ost-Berlin, fand er heraus. Bis in die 80er-Jahre hinein war es mit Wagen bestückt, die mit originalen Karosserieteilen des Audi F103 verkleidet waren. −Foto: Brandl/privat

Ingolstadt (DK) Fast wäre dieses Jubiläum an den Ingolstädtern vorbeigegangen: Die Achterbahn, die heuer auf dem Herbstvolksfest steht, ist am morgigen Freitag seit genau 50 Jahren in Betrieb.

Herausgefunden hat das der Ingolstädter Achterbahnfan Thomas Enders. Der Elektroingenieur mit einem Faible für rasante Fahrgeschäfte beschäftigt sich intensiv mit Achterbahnen, insbesondere mit Modellen des deutschen Herstellers Schwarzkopf.

Die Achterbahnschmiede mit Sitz im schwäbischen Münsterhausen entwickelte und baute unter dem Namen Schwarzkopf bis Anfang der 1980er-Jahre die Fahrgeschäfte für den gewissen Nervenkitzel, die neudeutsch auch als Coaster bezeichnet werden. Unter ihnen finden sich Klassiker wie etwa Alpenblitz, Loopingstar und Wildcat. Jene Bahn Wildcat war es auch, die am 4. Oktober 1969 bei der Eröffnung eines neuen Abschnitts des Spreeparks in Ost-Berlin in der ehemaligen DDR zu den Attraktionen zählte. Das ergaben die Recherchen von Enders. 1979 kam sie dann nach Westdeutschland. Sie gehört heute zum Gerätepark der Familie Vorlop, ein Schaustellerbetrieb in der siebten Generation. Der damalige Chef Willi Vorlop habe sie "nach langen und zähen Verhandlungen", wie es in der Familienchronik heißt, dem Volkseigenen Betrieb (VEB) abkaufen können, weil ein fehlendes Ersatzteil nicht beschafft werden konnte. Seither sei der 130-Tonnen-Koloss das Herzstück des über 50 Jahre alten Familienunternehmens. Bis Sonntag (und damit passenderweise über den heutigen Einheitstag) steht der Rock-&-Roller-Coaster, wie die Achterbahn seit der Jahrtausendwende heißt, noch auf dem Ingolstädter Herbstvolksfest.

Enders' Informationen zufolge sei die Achterbahn zunächst im Moskauer Gorki-Park auf einer Fachmesse zu sehen gewesen, bevor sie nach Ost-Berlin umzog. Der Ingolstädter ist Mitglied im European Coaster Club (ECC) und kommt durch sein Hobby weit in der Welt herum. Spektakuläre Achterbahnen hat er schon in vielen Ländern besucht und ist sie gefahren, darunter in den USA, in Südkorea, Mexiko und China.

Seine erste Fahrt unternahm er 1975 auf dem Volksfest in Ingolstadt. Da war es um den Buben geschehen. Heute gehe es ihm nicht rein ums Fahren, sondern um die Historie der Bahnen. "Viele Schausteller wissen gar nicht, wann ihre Achterbahn gebaut wurde", sagt Enders. Auf der morgendlichen Fahrt zur Arbeit habe er entdeckt, dass die Achterbahn auf dem Festplatz aufgebaut wird. "Ich habe sie sofort an der orangen Farbe erkannt und war begeistert", erzählt er. Als er sich mit unserer Zeitung zur Probefahrt trifft, erläutert er, was ihn gerade an dieser Bahn so fasziniert: "Sie fährt wie damals und ist top in Schuss. Heute verfügt sie natürlich über modernste Sicherheitsnormen", sagt er. Schwarzkopf-Bahnen seien für Langlebigkeit sowie ihre perfekte Spurlage und sanfte Fahrweise bekannt", weiß der Hobbyhistoriker. "Der Betreiber investiert entsprechend in das Fahrgeschäft, das finde ich super! ", so Enders.

Inhaber Lutz Vorlop bestätigt das. Die Bahn sei original. "Sie wurde mittlerweile aber immer wieder optisch und technisch erneuert", sagt er und zählt unter anderem Verschleißteile wie Schienen und Träger auf. In die Instandhaltung der Bahn investiere er jährlich einen sechsstelligen Betrag, so Vorlop. Laut seinen Informationen handelt es sich um die größte transportable Familienachterbahn mit Einzelwagen in Deutschland, vielleicht sogar in ganz Europa. Die Außenverkleidung der Wagen ist heute - gemäß dem Motto Rock & Roller - einem Cadillac nachempfunden. Früher waren es einmal Originalteile der Karosserie des Audi F103, der 1965 erstmals vom Band lief. Bis in die 1980er-Jahre hinein seien die Wagen in Audi-Optik in Betrieb gewesen, so Enders - also auch als die Bahn das Publikum in Ostberlin noch bespaßte.

Mit der Frage, wie es seinerzeit zu der Anbahnung zwischen Schwarzkopf und der Auto Union kam, beschäftigte sich Stephan Schaefer, Mitglied des Auto-Union-Veteranen-Clubs, unter anderem in einem umfangreichen Beitrag für die Klubzeitung zum 50-jährigen Bestehen des F103 im Jahr 2015. Demnach sei es "sehr wahrscheinlich", dass der Autobauer die Anbauteile zur Verfügung gestellt habe, um die damals noch wenig bekannte Marke auf den weltweit laufenden Achterbahnen zu präsentieren.

Michael Brandl