Das Eck des einspurigen Schlittens

Das Eck des einspurigen Schlittens

Der Velogemel ist seit über 100 Jahren die schlanke Alternative zum Schlitten.

Er lebt länger als die meisten seiner Besitzer, seine Konstruktion wurde seit über 100 Jahren kaum verändert und das Fahren ist schnell gelernt: Der Velogemel ist eine großartige schlanke Alternative zum Schlitten – und ein Stück Grindelwalder Geschichte.

Dass das natürliche Licht in der Werkstatt nicht ausreicht zum Fotografieren, das weiß er, der Markus Almer. Es ist nicht das erste Mal, dass der Velogemel-Bau-Projektleiter um ein Interview gebeten wird. „Letztes Jahr hatten wir sieben solcher Termine“, sagt er. Das Interesse am Holzfahrrad auf Kufen mit dem sympathischen Namen – „Velo“ steht für Fahrrad, „Gemel“ ist in der Schweiz ein umgangssprachlicher Ausdruck für Schlitten – scheint immer größer zu werden. Und das, obwohl es den einspurigen lenkbaren Lenksportschlitten, wie Erfinder Christian Bühlmann das Teil bei seiner Patentierung getauft hat, schon seit über 100 Jahren gibt. In Zeiten von Künstlicher Intelligenz, Nanotechnologie und selbstfahrenden Autos sind offenbar auch die einfachen Dinge wieder gefragt.

Im Jahr 2016 haben wir 32 Stück verkauft!

Die Werkstatt ist anders als man sich vielleicht vorstellen würde: eine große Halle mit viel Platz, moderne Geräte schneiden, sägen und hämmern. Das Unternehmen, Holzkreation Schmid (der Nachfolger von Rubi Holzbau, der Velogemel-Produktionsstätte bis 1994), produziert viel mehr als nur die Velogemel, für die Markus Almer zuständig ist – Fenster, Möbel, Küchen und alles, was sich sonst aus Holz machen lässt. Und eben hin und wieder einen der einspurigen Schlitten. „Im Jahr 2016 haben wir 32 Stück verkauft“, sagt er.

Wenn Not erfinderisch macht

Markus Almer ist keiner, der sich gerne fotografieren lässt. Dennoch merkt man, dass er Routine hat beim Abgelichtet-Werden im Velogemel-Eck, das sich im oberen Stock der Halle befindet. Dort steht eine große Werkbank, auf der die einzelnen Velogemel-Teile zusammengesetzt werden. Es sind nicht viele – und das System ist einfach. Wenn man im Velogemel-Eck die Ur-Modelle betrachtet, sieht man, dass sich seit dem Prototypen auch nur wenig geändert hat. Er entstand übrigens mehr aus einer Not als aus Freude am Basteln: Nachdem Erfinder Christian Bühlmann an Kinderlähmung erkrankt war, fiel ihm das Gehen schwer. Allerdings konnte er Fahrradfahren, und auf der Suche nach einem Fahrrad für den Winter wurde der Schreiner in seinem eigenen Kopf fündig: Dort entstand die Idee, ein Fahrrad aus Holz zu bauen, das sich durch Abstoßen mit den Füßen im Schnee fortbewegen ließ. Das Teil etablierte sich – und wurde nicht nur für Menschen mit eingeschränktem Gehvermögen zum beliebten Transport- und Fortbewegungsmittel.

Heute dient der Velogemel in erster Linie dem Spass

In Grindelwald gibt es mehrere „Schlittelpisten“, auf denen man kilometerlang mit dem Holzrad unterwegs sein kann. „Für einen Grindelwalder gehört ein Velogemel einfach zur Grundausstattung“, sagt Markus Almer, der selber auch gerne „schlittelt“: „Am schönsten finde ich die Strecke vom Faulhorn runter ins Tal – die längste Schlittelstrecke der Schweiz, bei der man über 1000 Höhenmeter zurücklegt.“ Der gelernte Schreiner hatte seinen ersten Kontakt mit dem Gefährt als kleiner Junge. Und als er seine Lehre machte, lernte er den Velogemel und seine Anatomie richtig kennen: das Schweizer Eschen- und Ahornholz, aus dem seine Bestandteile sind, die Art und Weise, in der die verschiedenen Teile geschliffen werden müssen, und das Feingefühl, das beim Verleimen des Gestells notwendig ist. Heute kümmern sich seine zwei Mitarbeiter Hans und Beat um diese Dinge.

Velogemel sehen fast alle gleich aus

Derzeit gibt es sie noch in zwei Ausführungen: für Erwachsene und Kinder. „Das Kindermodell lassen wir aber langsam auslaufen, weil ein Kind bald groß genug ist für ein Erwachsenenmodell und eigentlich nur die Erwachsenenmodelle von Generation zu Generation weitergegeben werden“, so Markus Almer. Das oft einzige Unterscheidungsmerkmal ist der eingravierte oder -gebrannte Schriftzug am Gestell, meistens der Name des zukünftigen Besitzers, manchmal auch Bezeichnungen wie Papamobil oder Opa’s Harley. „Sehr viele Velogemel sind Geschenke“, sagt Almer. Die Kunden seien hauptsächlich aus der Schweiz, „aber wir haben auch schon nach Amerika oder Norwegen versendet“, erzählt er. Nicht immer würden die Velogemel zum Fahren verwendet– manche hängen sie auch als Souvenir an die Wand.

Ein Velogemel kann man sein Leben lang verwenden – und darüber hinaus.

Es ist nicht darauf ausgelegt, sich abzunutzen und weggeworfen zu werden, wie so viele andere Dinge heutzutage. „Bei guter Pflege kann so ein Teil 100 Jahre lang verwendet werden.“ meint der Schreiner. Gute Pflege bedeutet, den Velogemel in einem warmen Raum in Ruhe trocknen zu lassen wenn er nass geworden ist und seine Kufen regelmäßig zu wachsen damit sie nicht rosten. „Und vorsichtig zu fahren“, ergänzt er. Manchmal bekomme er vom Verleih schlimm zugerichtete Exemplare zur Reparatur: „Da will ich gar nicht wissen, was dem Fahrer alles wehtut, wenn ich den Velogemel sehe“, sagt er.

Man darf etwas herstellen, das sonst niemand irgendwo herstellt. Das ist einfach etwas Schönes.

Auch wenn die Velogemel-Produktion nur einen kleinen Teil seiner Zeit in Anspruch nimmt, so ist es dennoch eine Zeit, die ihm Freude bereitet: „Der Velogemel gehört einfach hierher. Er gehört zu Grindelwald und ist ein wichtiger Teil des Ganzen. Wenn eine Bestellung reinkommt, versuche ich, den Velogemel zumindest selber zusammenzusetzen. Nur hinter dem PC zu sein, das ist nichts für mich“, so der Schreiner. Was für ihn den Velogemel zu etwas Besonderem macht? „Man darf etwas herstellen, das sonst niemand irgendwo herstellt. Das ist einfach etwas Schönes.“

Text: Martha Miklin / friendship.is
Fotos: Florian Lechner / friendship.is
Quelle: bestofthealps.com