Bei komplementären Eingängen darf die Gleichtaktspannung bis über die Versorgungsspannungen hinausreichen, ohne dass es zu einer Phasenumkehr kommt. Die PMOS-FETs lassen in diesem Fall den Betrieb bis etwas unter die negative Versorgungsspannung zu, die NMOS-FETs dagegen erlauben den Betrieb bis etwas über die positive Versorgungsspannung hinaus.
Wenn die eingangsseitige Gleichtaktspannung von –UB ausgehend ansteigt, gehen die PMOS-FETs in den Sperrbereich und der Eingang wechselt zu den NMOS-FETs, mit denen der Betrieb bis über die positive Versorgungsspannung hinaus möglich ist. Bild 5 veranschaulicht, wie dieser Übergang vonstattengeht.
Der lineare Bereich des PMOS-FET-Paars am Eingang lässt sich mithilfe des zweiten Kirchhoffschen Gesetzes von der negativen Versorgungsspannung (–UB) zur Eingangsspannung (UE) und von der positiven Versorgungsspannung (+UB) zur Eingangsspannung (UE) berechnen. Gleichung 1 gibt den linearen Bereich des PMOS-FET-Paars wieder:
und
Auf die gleiche Weise wird der lineare Bereich des NMOS-FET-Paars berechnet:
und
Da die Eingangsstufe sowohl PMOS- als auch NMOS-FETs enthält, lässt sich durch Kombinieren von Gleichung 1 und Gleichung 2 der lineare Eingangs-Gleichtaktbereich des komplementären Eingangs berechnen:
und
Der Wechsel vom PMOS-FET-Paar zum NMOS-FET-Paar – Übergangsbereich genannt – hat eine Veränderung des Verhaltens zur Folge, da die Eigenschaften der PMOS-Transistoren nicht genau mit jenen der NMOS-Transistoren übereinstimmen.
Wenn sich die Eigenschaften der PMOS- und der NMOS-FETs stärker unterscheiden, sind die Spezifikationen des OPVs im oberen Teil des Gleichtaktbereichs deutlich schlechter als im unteren Teil. Derartige Operationsverstärker werden normalerweise nicht unter der Bezeichnung „Rail-to-Rail“ vermarktet, können aber dennoch Rail-to-Rail-Eingangssignale verarbeiten, ohne dass es zu einer Phasenumkehr kommt.
Zwei Beispiele für solche OPVs sind der OPA171 [1] (36 V) und der OPA376 [2] (5 V) von Texas Instruments. Der OPA171 wird als Verstärker für den Betrieb an einer unipolaren Versorgungsspannung angesehen, weil sein Gleichtaktbereich die negative Versorgungsspannung einschließt. Allerdings kann sich der Gleichtaktbereich in positiver Richtung nur bis auf etwa 2 V an die positive Versorgungsspannung annähern, bevor es zu einer deutlichen Verschlechterung der Spezifikationen kommt.
Wie sich die Offsetspannung in Abhängigkeit von der Gleichtaktspannung ändert, zeigt Bild 6 am Beispiel des OPA171. Zu beachten ist die dramatische Zunahme der Offsetspannung, wenn die Gleichtaktspannung vom PMOS- auf das NMOS-FET-Paar wechselt.
In der Tabelle werden weitere Parameter des OPA171 im PMOS- und im NMOS-Bereich miteinander verglichen. Die Leistungsfähigkeit des OPVs hinsichtlich seiner statischen und dynamischen Kenndaten verschlechtert sich in der NMOS-Region. Allerdings verhindern die NMOS-FETs dennoch, dass eine Phasenumkehr auftritt.
Einige Operationsverstärker wie etwa der TLV9062 [3] haben komplementäre Eingangsstufen, bei denen die NMOS- und PMOS-FET-Paare besser aufeinander abgestimmt sind. OPVs dieser Art werden mit der Bezeichnung Rail-to-Rail vermarktet. Bild 7 lässt die deutlich geringere Änderung der Offsetspannung zwischen den PMOS- und NMOS-FET-Paaren im Fall des TLV9062 erkennen – im Vergleich zu Bild 6.
Parameter wie der Versorgungsspannungsdurchgriff (PSRR), die Offsetspannung, die Offsetspannungsdrift und der Oberschwingungsgehalt (THD) verschlechtern sich im Übergangsbereich und während des Betriebs im NMOS-Bereich. Dennoch ist die Leistungsfähigkeit, verglichen mit dem PMOS-Paar, noch akzeptabel. Alle genannten Parameter werden für den gesamten Gleichtaktspannungsbereich im Datenblatt eines OPVs angegeben – mit Ausnahme der Gleichtaktunterdrückung (CMRR). Die typische CMRR-Angabe im gesamten Gleichtaktbereich reduziert sich nur um 16 dB gegenüber dem PMOS-Bereich.
Um über den gesamten Gleichtaktspannungsbereich hinweg auf eine optimale Leistungsfähigkeit zu kommen, verfügen einige Operationsverstärker über abgeglichene PMOS- und NMOS-FETs im Eingang. Im OPA191 [4] zum Beispiel werden die FETs abgeglichen, um eine genauere Anpassung der beiden komplementären Paare zu erreichen (Bild 8).
Zwar gibt es auch bei diesen Bauelementen noch einen Übergangsbereich, aber die Leistungsfähigkeit des PMOS- wie auch des NMOS-FET-Paars ist nach erfolgter Trimmung ausgezeichnet, wie Bild 9 zeigt.
Obwohl sich die Leistungsfähigkeit mit Blick auf Spezifikationen wie die Gleichtaktunterdrückung nach wie vor verschlechtert, ist sie deutlich besser als bei nicht abgeglichenen FET-Paaren. Zum Beispiel beträgt der typische CMRR-Wert in der PMOS-Region 140 dB, geht aber in der NMOS-Region nur auf 120 dB zurück.
Die Bezeichnung »Rail-to-Rail-Eingang« kann gelegentlich zu Missverständnissen führen. Viele Entwickler verstehen hierunter Operationsverstärker, bei denen die Leistungsfähigkeit über den gesamten Eingangs-Gleichtaktspannungsbereich hinweg gleich bleibt. OPVs wie der OPA171 aber sind an ihren Eingängen mit komplementären FET-Paaren bestückt, bei denen die Leistungsfähigkeit des NMOS-FET-Paars hinter jener des PMOS-FET-Paars zurückbleibt. Zwar kommt es bei diesen OPVs zu keiner Phasenumkehr, aber in der Nähe der positiven Versorgungsspannung tritt gleichwohl eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit auf.
Operationsverstärker mit einer besseren Abstimmung zwischen PMOS- und NMOS-FET-Paar, zu denen der TLV9062 gehört, werden als OPVs mit Rail-to-Rail-Eingang beworben und weisen dementsprechend eine geringere Veränderung ihrer Leistungsfähigkeit über den gesamten Gleichtaktbereich auf.
Abgeglichene Eingangs-FET-Paare, wie sie der OPA191 hat, bieten in beiden Arbeitsbereichen eine insgesamt bessere Leistungsfähigkeit, obwohl es auch bei ihnen noch einen Übergangsbereich gibt. Entwicklern wird empfohlen, die Datenblätter genau zu studieren, um sich zu vergewissern, dass der ausgewählte Operationsverstärker in sämtlichen Zonen des Gleichtaktbereichs wie gewünscht arbeitet.
Literatur
[1] OPAx171 36-V, Single-Supply, SOT-553, General-Purpose Operational Ampli- fiers. Texas Instruments, Datenblatt, April 2018, www.ti.com/lit/ds/symlink/opa171.pdf.
[2] OPAx376 Low-Noise, Low Quiescent Current, Precision Operational Amplifier e-trim Series. Texas Instruments, Datenblatt, Dezember 2015, www.ti.com/lit/ds/symlink/opa376.pdf.
[3] TLV906xS 10-MHz, RRIO, CMOS Operational Amplifiers for Cost-Sensitive Systems. Texas Instruments, Datenblatt, Mai 2019, www.ti.com/lit/ds/symlink/tlv9062.pdf.
[4] OPAx191 36-V, Low Power, Precision, CMOS, Rail-to-Rail Input/Output, Low Offset Voltage, Low Input Bias Current Op Amp. Texas Instruments, Datenblatt, April 2016, www.ti.com/lit/ds/symlink/opa191.pdf.
[5] Op Amps to innovate & differentiate design. Texas Instruments, www.ti.com/amplifier-circuit/op-amps/overview.html.
Die Autoren
Pete Semig, M. Sc.
ist Manager für analoge Anwendungen bei Texas Instruments. Er hat sich die meiste Zeit seiner Karriere Operationsverstärkern, Differenzverstärkern und Instrumenten-verstärkern gewidmet. Seine Expertise zum linearen Betriebsbereich von Instrumenten-verstärkern und zur allgemeinen Strommessung findet sich in Beiträgen zu »Precision Designs« und »Precision Lab« von Texas Instruments sowie im Analog Engineer‘s Circuit Cookbook.
Bevor Semig 2007 zu TI kam, erwarb er seinen Bachelor und Master of Science in Elektrotechnik an der Michigan State University in East Lansing, USA. Von 2001–2007 war Semig an der Fakultät der Michigan State University im Fachbereich Elektrotechnik und Informatik tätig und lehrte in einer Vielzahl von Kursen und Labors.
asktexas@ti.com
Tim Claycomb, B. Sc.
ist Applikationsingenieur bei Texas Instruments in der Produktlinie Verstärker und betreut Audioverstärker sowie CMOS-Verstärker. Er hat einen Bachelor of Science in Elektrotechnik von der Michigan State University, East Lansing, USA.
asktexas@ti.com