Anne Heintze ist Expertin für Hochsensibilität und Hochsensitivität bei Erwachsenen. Sie kennt die typischen Merkmale, Stärken und Vorteile dieser Menschen.
EMOTION: Einfach nur feinfühlig oder doch hochsensibel – wie kann jemand erkennen, was er wirklich ist? Gibt es überhaupt typische Merkmale?
Anne Heintze: Feinfühligkeit und Hochsensibilität sind Begriffe, die oft gleich verwendet werden. Beides ist in unterschiedlichen Intensitäten in allen Menschen vorhanden. Wissenschaftliche Tests gibt es zur Hochsensibilität bisher leider nicht. Wesentliche Merkmale sind aber starke Geruchs- und Geschmacksintensivität, Geräusch- und Lichtempfindlichkeit, Reizüberflutung, Bilderdenken, hohe Empathie und vieles mehr.
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Sie schreiben in Ihrem Buch "Ich spüre was, was du nicht spürst", dass es verschiedene Bereiche gibt, in denen sich Hochsensibilität stärker bemerkbar macht. Welche Bereiche sind das?
Meiner Erfahrung nach ist es sehr sinnvoll, einen Unterschied zwischen Hochsensibilität und Hochsensitivität zu machen, zumal beide Personengruppen unterschiedliche Bedürfnisse haben. Wer hochsensibel ist, verfügt über feiner ausgeprägte fünf körperliche Sinne als andere. Er oder sie hört, sieht, schmeckt, fühlt und riecht differenzierter. Wer hochsensitiv ist, muss nicht unbedingt über diese Schärfung der fünf physischen Sinne und nicht über diese Empfindsamkeit verfügen. Stattdessen hat ein Mensch, der hochsensitiv ist, einen "sechsten" oder "siebten" Sinn. Hochsensitive sind das, was man hellsichtig oder hellfühlig nennt. Sie sind extrem empathisch, manchmal regelrecht medial.
Wahrscheinlich halten sich Frauen von Natur aus für sensibler als Männer. Ist dieses Gefühl richtig? Gibt es mehr hochsensible Frauen als Männer?
Nein, es gibt genauso viele hochsensible Männer wie Frauen, sie erkennen es nur viel seltener und zeigen es nicht so deutlich. Es ist für Männer heute wirklich schwierig, zu ihrer Feinsinnigkeit zu stehen. Weil es bereits kleinen Mädchen eher erlaubt ist, sensibel und empfindsam zu sein, fällt es Frauen wahrscheinlich grundsätzlich leichter, zu ihrer Hochsensibilität zu stehen.
Und wie ist das überhaupt mit dem Geschlecht? Existieren unterschiedliche Auswirkungen bei Männern und Frauen?
Während es für Frauen gesellschaftlich akzeptiert ist, feinsinnig und empfindsam zu sein, sind diese Eigenschaften bei Männern verpönt. Sie sollen immer noch eher cool, also unempfindlich sein. Stärke, Belastbarkeit und ein dickes Fell sind nach landläufiger Meinung wünschenswerte und "normale" Eigenschaften für einen Mann. Hochsensible Männer haben es oft schwer, bei ihren Geschlechtsgenossen zu bestehen. »Weichei«, »Memme« oder »Frauenversteher« sind noch die harmloseren Beschimpfungen für Männer, die nicht dem Klischee vom harten Kerl entsprechen.
Auch Frauen kommen nicht immer gut mit sensiblen Männern zurecht. Natürlich wünschen sich viele Frauen einen zärtlichen und einfühlsamen Mann. Trotzdem soll er doch irgendwie Beschützer sein.
Wird ein Mensch so sensibel geboren oder kann diese extreme Ausprägung auch mit der Zeit entstehen?
Es gibt Menschen, deren Hochsensibilität sich erst im Laufe des Lebens entwickelt hat. Je mehr stressbelastete Situationen oder traumatische Erlebnisse sie haben, umso feiner werden ihre Sinneskanäle. Ein zutiefst nützlicher Schutzmechanismus entsteht, dessen Auswirkungen ähnlich wie bei der angeborenen Hochsensibilität aussieht. Nach meiner Erfahrung gibt es wahrscheinlich genauso viel erworbene wie angeborene Hochsensibilität.
Was raten Sie diesen Menschen für Ihren Alltag?
Für alle hochsensiblen Menschen ist es wichtig, ihre Sinne zu schulen, denn das ist der Schlüssel zu mehr Lebensqualität. Ein ganz einfacher Vergleich: Jeder Handwerker wird ein Experte in seinem Fach, wenn er seine Werkzeuge virtuos beherrscht. Je besser er das kann, umso schöner die Ergebnisse seiner Arbeit. Mit unseren Sinnen ist es nicht anders: Je besser wir mit ihnen umgehen können, umso feiner können wir diese nutzen.
Mein Tipp, der für Hochsensible in allen Alltagssituationen hilfreich ist: Hör auf deine Intuition! Denn gerade die ist bei hochsensiblen Menschen gut entwickelt und kann sie wunderbar unterstützen, weil ihre Intuition absolut klar und unbestechlich ist.
In Ihrem Buch dreht sich ein Absatz um die Stärken hochsensibler Menschen. Was sind das für welche und ergeben sich daraus bestimmte Vorteile?
Oh ja, da gibt es viele wunderbare Stärken und damit Vorteile. Hochsensible reagieren intensiv auf alle Stimmungsschwankungen, ihre eigenen und die der Mitmenschen. Sie können sich sehr gut in andere hineinfühlen und sehr tief empfinden. So feinfühlige Menschen entdecken in der Umwelt Details, die anderen verborgen bleiben. Sie sind aufgrund ihrer Feinfühligkeit oft sehr kreativ.
Wer über ein feinfühliges Körpersystem verfügt, hat dadurch die Möglichkeit, Krankheiten zu vermeiden oder sie sehr frühzeitig zu behandeln. Mit zunehmendem Lebensalter sind die meisten hochsensiblen Menschen nachsichtiger mit den Reaktionen ihres Körpers und haben gelernt, gut mit ihm umzugehen.
Ein Vorteil der hohen körperlichen Empfänglichkeit ist es, dass viele hochsensible Menschen stärker auf Medikamente und ihre Wirkstoffe reagieren. Sie benötigen daher oft nur geringe Dosierungen und sprechen gut auf sanftere Methoden wie Homöopathie, Pflanzenheilkunde oder Akupunktur an.
Anne Heintze ist führende Expertin für Hochbegabung, Hochsensibilität und Hochsensitivität bei Erwachsenen in Deutschland. Sie arbeitet seit 25 Jahren mit Menschen als Heilpraktikerin, Coach und Ausbilderin. Als Gründerin und Inhaberin der Open Mind Akademie berät und unterstützt Anne Heintze Menschen mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen dabei, ihr Potential voll auszuschöpfen. Anne Heintze lebt und arbeitet in der Nähe von Frankfurt. Hier geht es zu Ihrer Website: anneheintze.com
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