Ein Höhepunkt der WLB-Spielzeit: „Woyzeck“ mit Florian Stamm in der Titelrolle (hinten, mit Antonio Lallo als Tambourmajor).Foto: Patrick Pfeiffer Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen - Die Esslinger Landesbühne (WLB) hat die 100 000er-Marke geknackt. So gab es das Theater kürzlich bekannt. 100 000 Zuschauer haben in der Saison 2014/15 WLB-Vorstellungen in Esslingen und bei den obligatorischen Gastspielen im Land gesehen, allein in Esslingen ist ein Besucherplus von zehn Prozent zu verzeichnen. Eine stolze Erfolgsbilanz - aber es war ja auch keine x-beliebige Spielzeit, sondern eine Premiere von beinahe theatergeschichtlichem Format. Stehen doch alle freudigen Plus-Werte, alle nach oben weisenden Daumen im Zeichen der wohl außergewöhnlichsten Karriere, die ein großer Theatermann in der deutschsprachigen Bühnenlandschaft zumindest seit sechs oder sieben Jahrzehnten hingelegt hat: im Zeichen der Rückkehr Friedrich Schirmers. Als eine Art Quergänger im Liga-System des deutschen Theaters hat er in seiner ersten und längst legendären Esslinger Zeit von 1985 bis 1989 die Startrampe für den eigenen Erfolg errichtet, zog über Freiburg als Chef ans Stuttgarter Staatsschauspiel, wo er zwölf Jahre lang starkes und vielfältiges Theater machte, katapultierte sich damit ans Deutsche Schauspielhaus in Hamburg, eine der ersten Renommierbühnen der Republik - und kehrte nun, 63 Jahre alt, an die vergleichsweise kleine WLB zurück. Was Mut und zweifellos auch eine gesunde Portion Selbst- und Sendungsbewusstsein fordert. Und was Neu- wie Altgier gleichermaßen weckt, skeptische „Kann er’s noch?“-Fragen ebenso wie mehr oder weniger nostalgische Hoffnungen der Esslinger und Stuttgarter Schirmer-Fanclubs à la „Spiel’s noch einmal, Friedel“. Alles zusammen ist super fürs Geschäft, lockt die Leute (übrigens auch aus der Landeshauptstadt) - und beantwortet vielleicht die Frage nach den Zahlen, nicht aber die nach der „Kunschd“, nach der künstlerischen Qualität an einer schwäbischen Landesbühne, die von ihrem wiedergekehrten Intendanten konsequent auf Regionalkurs gesteuert wird.

Er kann’s noch

Deshalb klipp und klar die Antwort: Ja, er kann’s noch. Und vor allem: Der Heimkehrer brachte nicht den Gestus des vom Olymp Herabgestiegenen mit, der den Esslingern zeigt, wohin der Theaterhase läuft. Vielmehr hat Schirmer mit neuem, altem Schwung ein maßgeschneidertes Landesbühnenprogramm entwickelt, dessen Raffinement neben besagter Regionalisierung durchaus auch mit Retro-Charme kokettiert. So entpuppte sich die theatralische Wiederbelebung der 80er-Jahre-Hörspielserie vom „Frauenarzt von Bischofsbrück“ als satirischer Publikumsknaller - eine brillante Idee, witzig inszeniert von Christine Gnann, die auch in Hermann Essigs Dorfkomödie „Die Glückskuh“ die prä-Brecht’sche Modellhaftigkeit herausarbeitete (nur mit dem Dialekt haperte es in der ins Schwäbische übertragenen Fassung). Essigs Stück stammt von 1911, es zählt zur Fern- und zugleich zur Nahwirkung der Retro-Spektion, denn seine jüngere Bühnenpräsenz verdankt es seiner Wiederentdeckung in den 70er-Jahren. Damit steht es neben anderen Theatertexten in Schirmers Spielplan, die ebenfalls in vergangenen Jahrzehnten Konjunktur hatten. Dass gleichwohl ihr Haltbarkeitsdatum nicht abgelaufen ist, zeigt sich einem theatererfahrenen Blick, der nicht nur auf Moden und Novitäten fixiert ist. Für solch kundige Recherche steht Schirmer, umgekehrt geht er auf vorsichtige Distanz zum Klassiker-Handwerk seines Vorgängers Manuel Soubeyrand, der sich schon auch mal an den Schwergewichten überhob. Jedenfalls erwies in der vergangenen WLB-Saison die 1973 uraufgeführte „Bauernoper“ von Yaak Karsunke auch ohne den Polit-Sog aufmüpfiger Nach-Apo-Zeiten ihre kritische Brisanz und Relevanz - dank der Regie Pavel Mikulastiks kamen die Szenen aus dem schwäbischen Bauernkrieg in leichtfüßig-spielerischer Rhythmik und ohne didaktische Schwerfälligkeit daher.

Schwäbische Mentalitätserkundung

Auch Franz Xaver Otts „Hoimetaberau“ von 1994, in den späteren 90er-Jahren von Schirmer auf seinen Stuttgarter Staatstheater-Spielplan gesetzt, kam jetzt als älteres Stück, aber nicht als olle Kamelle an die WLB: Christine Gnanns Inszenierung der „schwäbischen Tüftlersonate“ verbindet Mentalitätserkundung mit absurdem Witz und landestypischen Bruddler-Ressentiments - komödiantisch und gegenwartserkenntlich zugleich. Grandios authentisch die beiden Darsteller Reinhold Ohngemach und Marcus Michalski - wie überhaupt Schirmer für sein Ensemble eine interessante Mischung aus Neu- und Wiederengagements sowie aktivierten Schauspielerkontakten seiner früheren Jahre in der Region zusammengestellt hat.

Mit Jérôme Savarys „Weihnachten an der Front“ weitet sich die Retro- zur historischen Perspektive: ebenfalls eine Ausgrabung aus der jüngeren Theatergeschichte (das Stück wurde 1981 uraufgeführt), zugleich ein Beitrag zu jener epochalen Rückschau, die Schirmer als „Vergegenwärtigung von Geschichte“ zu einer Klammer des Spielplans machte: Des vor 100 Jahren ausgebrochenen Ersten Weltkriegs wird hier, in diesem Stück über eine weihnachtliche Verbrüderung feindlicher Kämpfer, auf denkbar menschlichste Weise gedacht. Regisseur Klaus Hemmerle vermied den Fehler, Savarys Revuestil allzu champagnerkorkenknallend nachzustellen, er rückte das Geschehen gekonnt und beklemmend in Beckett-Nähe.

Freilich gab es auch schwächere Produktionen: Im „Untertan“ nach Heinrich Mann - ebenfalls ausgerichtet aufs große Weltkriegsgedenken, genauer: auf die Gesinnungsgeschichte, die den Krieg ermöglichte - kam Regisseur Christof Küster gegen die Problematik einer Romandramatisierung nicht so richtig an, das „Postmichel“-Freilichtspiel scheiterte an Felix Hubys und Jürgen Popigs blasser Textfassung der Esslinger Lieblingssage. Dafür gelang mit Marcel Kellers Inszenierung von Büchners „Woyzeck“ (in der Fassung von Robert Wilson mit den Songs von Tom Waits) ein Höhepunkt der Saison: Mit dem hervorragenden Hauptdarsteller Florian Stamm bekam das soziale Drama eine Vielschichtigkeit und eine Intensität, wie sie so unmittelbar nur auf dem Theater möglich ist - zweifellos eine der besten Aufführungen nicht nur an der WLB. Spielerisch virtuos schließlich Marc Günthers „Faust I“-Kondensat mit den großen alten Schauspieldamen Elke Twiesselmann und Monika Barth, die zu zweit das Welttheater durchmessen, ohne dass Wesentliches fehlt.

Dass Schirmer von der Retro-Tour künftig stärker auch in die Jetztzeit einbiegen wird, fand erste Wegweiser mit der Uraufführung von Beate Faßnachts „Obwohl“ im Mai bei den Ruhrfestspielen (ab Herbst in Esslingen), aber auch mit Simon Stephens’ Autisten-Stück „Supergute Tage“ nach dem Roman von Mark Haddon, inszeniert von Simone Sterr in Zusammenarbeit mit der Jungen WLB und ihrem engagierten Leiter Marco Süß. Kurzum: Es ist Leben in der Bude, und es wird nach dem geglückten Start hoch interessant, Schirmers Landesbühnenkonzept weiter zu verfolgen. Beste Aussichten für ein Theater.

In unserer Serie ziehen wir eine Bilanz der vergangenen Spielzeit an den wichtigsten Theatern der Region.