Ein Wort zum Sonntag

Besinnliches zum Krisenjahr

Armin Thurnher
Versendet am 14.01.2024

Verlachte wehrlose Demokraten als Esel: Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels (im Hintergrund Hermann Göring). (Foto: Bundesarchiv, Bild 102-10547 / CC-BY-SA 3.0)

Ein schönes neues Jahr! Für 2024 kann das nur ironisch gemeint sein. Am Beginn des sogenannten Superwahljahrs lässt sich eine gestiegene allgemeine Nervosität feststellen. Gute Vorsätze, zumindest so viel hat man im Lauf eines eine gewisse Zeit dauernden Lebens gelernt, pflastern vielleicht nicht den sprichwörtlichen Weg zur Hölle, aber sie sind sinnlos. Warum versucht man dennoch immer wieder, solche Vorsätze zu fassen? Als Journalist habe ich eine einfache Antwort: weil man zwar um die Nutzlosigkeit für einen selbst weiß, aber hofft, dass sich vielleicht sonst jemand daranhält.

Was könnten das für gute Vorsätze sein, im Angesicht von Kriegen und Krisen? Im Angesicht der größten Krise von allen, jener der Demokratie insgesamt? Im Angesicht einer möglichen Wende in neue, autoritäre Zeiten? Oder einer Zeitenwende, die uns doch einen neuen, faireren Gesellschaftsvertrag beschert, weil sich die Demokratien doch nicht nur als zäh, sondern sogar als erneuerungsfähig erweisen?

Das sind die sogenannten großen Fragen, die sich stellen, während uns rechte Demagogen fast überall in einen Strudel reißen, dessen Muster uns seltsam bekannt vorkommen. Weltweit geht die Zahl der Menschen zurück, die in demokratischen Systemen leben, und auch die ökonomische Kraft dieser Systeme wird bald von jener der Autokratien übertroffen. Liefert am Ende die Demokratie diesen Verführern jene Mittel, mit der diese sie erledigen wollen? Der deutsche Journalist Heribert Prantl hat kürzlich eine diesbezügliche Äußerung des Nazi-Propagandaministers Joseph Goebbels zitiert, der die wehrlosen Demokraten als Esel verlachte. Sind wir Journalisten, die wir aufgeregt über die Missetaten der Rechten, ihre Verführungen, Desinformationen, Aufhetzungen berichten, am Ende dann Mittäter?

Man bemerkt steigende Verunsicherung und Empörung über falsche Proportionen in der Öffentlichkeit. Die Verfälschung dieser Proportionen ist auch Teil des demagogischen Handwerks. Die Rechte betreibt es ebenso systematisch, wie sie weltweit ihre Parolen verbreitet, als spräche sie mit einer Zunge. Ihre Führer, die autoritäre Verhältnisse anstreben, reden von Befreiung. Je näher sie vermeintlich der Macht kommen, desto klarer artikulieren sie ihre Ziele. Wie sie es immer getan haben.

Ich denke, man muss zuerst versuchen, immer die Proportionen zu wahren. 70 Prozent der Bevölkerung wollen kein autoritäres System. Zugleich ist das demokratische System sichtbar erschöpft; es ist nicht mehr der noch einigermaßen faire Sozialstaat der 1970er-Jahre; es ist der vom digitalen Finanzkapitalismus in Geiselhaft genommene Nationalstaat, der seine Souveränität an übergeordnete Verbände abtritt, „zu Hause“ aber am liebsten noch immer nationales Kasperltheater spielt.

Die Proportionen zu wahren bedeutet auch, dieses allseits geschwächte demokratische System nicht blind zu verteidigen, nur weil diejenigen, die es durch Schlimmeres ersetzen wollen, in ihrer Kritik zwar insgesamt nicht recht haben, aber die richtigen wunden Punkte ansprechen.

Es bedeutet weiters, sich als Publizist selbst klarzumachen, dass in einer veränderten demokratischen Kommunikation, die jeden von uns zum Publizisten macht, die Neuordnung dieser Kommunikation die Verzerrung der Proportionen geradezu systematisch beinhaltet. Der Vorsatz, (selbst)kritisch Maß zu halten, wäre also das Gebot der Stunde. Käme einem nicht bereits im Augenblick, da man das ausspricht, das Maß abhanden. Weil man schon die anderen rufen hört: dein Maß kannst du vergessen, unseres ist das einzig richtige! Wenn Demokratie funktionieren soll, hört sie in diesem Augenblick nicht auf, sondern beginnt erst. Klingt kompliziert, ist nicht einfach.

Versuchen wir es trotzdem!

Ihr Armin Thurnher


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