Er sei nicht einer, so schreibt der Dichter und Essayist Paul Valéry einmal, „der sich anstrengen würde, die verflossene Zeit wiederzufinden“. Dazu sei schon sein Gedächtnis zu schlecht. Die „verlorene Zeit“ zu suchen, so noch deutlicher an anderer Stelle, wäre ihm vertane Zeit. Und als er im Alter, 1940, noch einen Versuch mit der „Recherche“ macht, nimmt er gegenüber einem Vertrauten kein Blatt vor den Mund: „Welch ein Geschwafel! Wie das aus dem Leim geht! Und Goncourt fast überall.“ Valéry ist zwar ein besonderer Fall: Ein Dichter, der seit den zwanziger Jahren auf dem Weg zum Repräsentanten französischen Geistes ist, putzt einen Autor herunter, der zur selben Zeit von seinen Verehrern bereits als Meister von klassischer Statur gefeiert wird. Aber damit liegt Valéry zugleich auf der Linie der französischen Avantgarden, die es bis in die fünfziger Jahre hinein mit Proust durchaus nicht halten: Man lässt diesen Autor für seine Verehrer büßen – durch Schweigen oder mit Ironisierungen und Attacken. Man kann dabei auch sehen, wie schnell Proust zu einer Bezugsgröße wurde. Etwa bei einem jungen Belgier, Henri Michaux, der 1923 gerade erst in Paris angekommen ist – da sind die letzten beiden, posthum edierten Bände der „Recherche“ noch nicht erschienen – und mit dem Schreiben nicht lange zuvor begonnen hat, aber gleich mit richtigem Affekt gegen die Literatur der „Professionellen“. Zum Ruhm eines großen Außenseiters und doch auch, fast wider Willen, modernen Klassikers der französischen Literatur, ist es da natürlich noch lange Zeit hin. Dazu wird gehören, dass man sich einen Roman von diesem Autor schlichtweg nicht vorstellen kann. Und doch, in den zwanziger Jahren scheint er an einem zu schreiben. Nichts davon hat sich erhalten und so genau weiß man auch nicht, ob er’s nun ernst meinte oder bloß ironisch von einem Schreiben phantasierte, das ganz das Gegenteil seiner üblichen Arbeitsweise war. „Ich habe also mit einer rückhaltlosen Prosa begonnen, mit einer Prosa à la Marcel Proust, abends am 9. und 15. komme ich auf fünfzig Seiten, im August werde ich 500 Seiten haben. (...) Nichts hindert mich daran, in die Tausende zu gehen. Ich bin darüber äußerst zufrieden. (...) Das ist Romanstil. Das heißt, alles sagen, alles rund um die nebensächlichste Angelegenheit. Nennen werde ich das Buch einfach 120 Tage mit mir, oder 18 Wochen mit mir oder 8 Wochen, je nach der Zeit, die ich auf diesen ersten Band von 500 Seiten gewandt haben werde.“. Man kann bei Michaux nicht einmal ganz ausschließen, dass das wirklich sein Bild von Proust war. Und so absurd sich eine solche Einschätzung auch ausnimmt, sie knüpft doch an eine Wahrnehmung Prousts an, die bis in die Zeit der Verlagsssuche für die ersten Bände, die dann am 14. November 1913 bei Grasset erschienen, zurückreicht: Proust als gnadenlos langatmiger Salonschriftsteller, der sich in seinen eigenen und den Petitessen der mondänen Welt verfängt, das trübte schließlich schon André Gide den Blick, als er das Manuskript für den Verlag der „Nouvelle revue française“ prüfen sollte – wohl noch vor den stilistischen und grammatikalischen Entgleisungen, die er ja auch später noch, als er seinen Schnitzer längst eingesehen hatte, im „Journal“ notiert. Und die Bemerkung des ersten Lektors, der (bei Fasquelle) das Manuskript las, man habe es da mit einem „besonderen intellektuellen Fall“ zu tun, wird in abgründiger Weise wohl in dieselbe Richtung gewiesen haben. Auf naturgemäß offensivere Art spielt dann Louis-Ferdinand Céline diese Anti-Proust-Karte aus, die bereits 1919, als Proust den Prix Goncourt gegen einen Kriegsroman von Roland Dorgelès gewonnen hatte, auf linker Seite gezückt worden war. Zuerst, in der „Reise ans Ende der Nacht“, noch halbwegs gesittet, wenn Proust als „Halbgespenst“ auftritt, das sich den Riten und Prozeduren der mondänen Welt gewidmet habe, also den „Leuten der Leere, Gespenstern des Begehrens, unentschlossenen Lüstlingen, die ewig auf ihren Watteau warten, die ohne Schwung unwahrscheinliche Cytheren suchen“. (Den wenig originellen Hieb auf Prousts vermeintlichen Snobismus beiseite gesetzt, verblüfft da natürlich am ehesten das Adjektiv „unentschlossen“.) Dann freilich gerät die Polemik zunehmend heftiger und vermischt sich mit Célines antisemitischen Tiraden und sexuell-skatologisch konnotierten Ausfällen. An seiner grundsätzlichen Ablehnung des gefühlskalten Klassizisten mit den endlos verschlungenen Sätzen ändert schließlich auch der Umstand nichts, dass Céline sich in den fünfziger Jahren wieder etwas beherrscht, weil er jetzt schließlich selbst bei Gallimard erscheint und Aussicht auf die Weihen einer Ausgabe in der Bibliothèque de la Pléiade hat. Célines Heftigkeit sticht hervor, aber das Urteil über den Homosexuellen und Bourgeois kann in einem anderen Register nicht weniger entschieden und politisch ganz korrekt ausfallen. Jean-Paul Sartre hatte schon Ende der dreißiger Jahre Proust als Kontrastfolie herangezogen, um herauszustellen, wozu er sich durch Husserls Phänomenologie befreit fühlte, nämlich zu einer einfachen Wahrheit, die „unsere Raffinierten“ verkennen würden: „Wenn wir eine Frau lieben, dann weil sie liebenswert ist. So sind wir also von Proust befreit.“ Nach dem Krieg wird diese denkwürdige Variante des phänomenologischen Appells, zu den Sachen selbst zurückzukehren, gegen Proust ausbuchstabiert. Proust habe geglaubt, so schreibt Sartre 1947, sich seiner homosexuellen Erfahrung für die Schilderung der Liebe von Swann für Odette bedienen zu können; und als Bourgeois stellte er dieses Gefühl eines reichen und müßiggängerischen Bourgeois für eine ausgehaltene Frau auch noch als Prototyp der Liebe hin; weil Proust nämlich an die Existenz allgemeingültiger Leidenschaften glaubte. Womit der Urteilsspruch vor dem existentialistischen Gerichtshof fallen kann: „Proust hat sich als Bourgeois gewählt und zum Komplizen der bourgeoisen Propaganda gemacht, denn sein Werk trägt dazu bei, den Mythos von der menschlichen Natur zu verbreiten.“. Wie sanft und undogmatisch dagegen die Bemerkung, die Albert Camus im unvollendeten autobiographischen Roman „Der erste Mensch“ seinem Alter ego Jacques im Gespräch mit der Mutter beilegt: „Die verlorene Zeit findet sich nur bei den Reichen wieder. Für die Armen markiert sie lediglich die undeutlichen Spuren des Weges zum Tod.“. Seit den fünfziger Jahren sollte es aber wieder aufwärts gehen, Autoren wie Georges Bataille, Roland Barthes und Gilles Deleuze bereiten bald den Weg zum modernen und mit allen avantgardistischen Wassern gewaschenen Proust vor, die universitäre Kanonisierung – bis dahin außerhalb Frankreichs, nicht zuletzt auch in Deutschland vorbereitet – folgte. Und unter den Autoren des Noveau Roman erhob ihn einer, Claude Simon, mit Nachdruck zur immer wieder zu lesenden Patenfigur: Denn an Proust sei zu sehen, wie sich die Literatur von der Erzählung löse, nämlich durch deren Auflösung in Beschreibung; in den Beschreibungen stecke bei Proust schon alles. Das sei eben, was Valéry offenbar nicht verstanden habe, als er die von André Breton im ersten „Surrealistischen Manifest“ kolportierte Bemerkung machte, er würde niemals einen Satz niederschreiben wie „Die Marquise ging um fünf Uhr aus.“ Eine Bemerkung, die Simon, wie wohl viele Leser Prousts, ganz direkt auf die „Recherche“ bezog, um eine Berichtigung anzubringen: „Proust schrieb, dass Madame Swann um fünf Uhr ausging und das ist großartig; das ist der Unterschied ums Ganze.“.