Regisseur Matthias Glasner :
Was lesen Sie?

Lesezeit: 2 Min.
Der Filmregisseur Matthias Glasner präsentiert auf der Berlinale seinen Film „Sterben“ im Wettbewerb
Jede Woche fragen wir Menschen aus dem Kulturbetrieb, was sie lesen und welches Buch in ihrem Schrank sie ganz bestimmt nicht lesen werden. Diesmal antwortet der Filmregisseur Matthias Glasner, dessen neuer Film jetzt im Wettbewerb der Berlinale gezeigt wird.

Was lesen Sie?

„Was ich sonst noch verpasst habe“. Stories von Lucia Berlin. In den Sechzigern kommt eine junge Frau zum Weihnachtsfest der Familie nach Mexico City, muss aber vorher noch schnell das Kind abtreiben, das in ihrem Bauch wächst. Mit einem Bus wird sie mit anderen werdenden Müttern, die meisten Teenager, zum illegalen Schwangerschaftsabbruch in die Wüste gekarrt. Als sie sich in letzter Minute dazu entscheidet, das Kind doch zu kriegen, fordert sie der genervte Arzt auf, ihm dann wenigstens bei den anderen Abtreibungen zu helfen. Dabei stirbt eines der jungen Mädchen unter ihren Händen. „Es wurde dann aber doch noch ein ganz schönes Weihnachtsfest“, schreibt die Erzählerin am Schluss. Lucia Berlin sah aus wie Liz Taylor, aber mit einem Buckel auf den Schultern. Sie bekam drei Kinder von Jazzmusikern, die sie allesamt sitzen ließen. Sie war Alkoholikerin, arbeitete als Krankenschwester, an der Supermarktkasse und als Putzfrau. Zu ihren Lebzeiten wollte niemand ihre Geschichten lesen. Sie erzählen von ihrem Leben so unbarmherzig, dass es einen erschauern und, ja: immer wieder furchtbar lachen lässt. Ich habe den Humor in ihren Geschichten noch nicht wirklich entschlüsseln können, und es macht mich wahnsinnig. Muss man lachen, gerade weil sie so ungeheuerlich sind? Vielleicht ist es die überraschende Melange aus ironischer Selbstdistanz und gleichzeitig bedingungsloser Empathie allen anderen, fehlerhaften Menschen gegenüber.

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