Nobelpreisträger Gurnah :
Geschichten der Entwurzelung

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Wo Ilyas sich verdingt: Soldaten der deutschen Schutztruppe, sogenannte Askari, bei einer Parade in Daressalam in Deutsch-Ostafrika
Was deutscher und britischer Kolonialismus in Ostafrika für Einzelne bedeuteten: Der Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah erzählt in seinem Roman „Nachleben“ von der Wirkung des Krieges über Generationen hinweg.

Als Abdulrazak Gurnah im vorvergangenen Jahr der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, war keines seiner Bücher in deutscher Sprache lieferbar. Das hat sich in kurzer Zeit geändert. Innerhalb eines guten Jahres sind eine Reihe von neuen oder überarbeiteten Übersetzungen erschienen, darunter zuletzt sein jüngster Roman „Nachleben“, der 2020 erstmals im Original veröffentlicht und nun von Eva Bonné ins Deutsche übertragen wurde. Wer sich mit dem Nobelpreisträger schon vertraut machen konnte, wird in diesem Buch den Stil und die Themen von Abdulrazak Gurnah leicht wiedererkennen. Wieder geht es um das verhängnisvolle Zusammenspiel von Armut, verlorener Kindheit und Sklaverei. Wieder spielt das Geschehen in Ostafrika nach der Jahrhundertwende. Und natürlich verwickeln die kolonialen Mächte das Land und seine Leute wieder in Konflikte, die eigentlich nicht ihre sind, aber zu ihren werden und noch die Lebenswege ihrer Kinder und Enkel prägen.

„Nachleben“ ist ein Roman, der von den Nachwirkungen des Krieges über Generationen hinweg erzählt. Ein vertrautes Sujet aus der deutschen Nachkriegsliteratur, das Abdulrazak Gurnah an der ostafrikanischen Küste in einer nicht näher benannten Hafenstadt ansiedelt, in der die kleine Handelsfirma von Amur Biashara liegt. Der Kaufmann stirbt zwar schon bald. Aber sein Sohn übernimmt die Geschäfte und mit ihnen so etwas wie die Herzkammer des Buches, dessen Geschehen sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt und sich zu einem guten Teil in den Lagerhallen, der Schreinerei und dem nahe gelegenen Haus des Vorarbeiters abspielt.

Abdulrazak Gurnah: „Nachleben“. Roman.
Abdulrazak Gurnah: „Nachleben“. Roman.Penguin Random House Verlag

Dort kreuzen sich die Wege der Figuren. Selbst derer, die einander nie persönlich begegnen. Als Erinnerung und Sehnsucht bleiben alle gegenwärtig, auch jene, die den Ort verlassen – so wie Ilyas, der sich im Zuge des Ersten Weltkrieges der deutschen Schutztruppe anschließt und seine Schwester Afiya in den Händen seines Freundes, des Vorarbeiters Khalifa, zurücklässt. Khalifa war einst selbst aus Indien in die Hafenstadt gekommen. Er weiß, was es bedeutet, ein Fremder zu sein, kennt sich von Geschäfts wegen sowieso mit Fremden aus und gibt dem mittellosen, kriegsversehrten Hamza eine Chance, der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges vor den Toren der Handelsfirma auftaucht und um Arbeit bittet.

All diesen Figuren ist gemein, dass sie seltsam beiläufig auftauchen, gleichsam in die Stadt (und ins Buch) getragen von einem großen erzählerischen Zutrauen in den Lauf der Dinge. Abdulrazak Gurnah nimmt weitgehend die Perspektive seiner Figuren ein, die früh gelernt haben, für sich selbst zu kämpfen. Keiner besitzt ein tieferes Wissen über die politischen und historischen Hintergründe des kriegerischen Kolonialismus, dessen Wucht sie auf die ein oder andere Weise alle an Leib und Leben spüren. Nie lassen sich die wenigen Bemerkungen, die deutsche Offiziere im Laufe der Erzählung zur Politik abgeben, oder die dünnen Nachrichten in den Zeitungen zu einem größeren Bild zusammenfügen.

Eine Spur der Verwüstung

Dass der Erzähler sich zu einem Kommentar hinreißen lässt, wie zu den Askari, der afrikanischen Schutztruppe der Deutschen, bleibt selten: „Die Askari hinterließen ein verwüstetes Land, auf dem Hunderttausende Menschen hungerten und starben, während sie selbst immer weiter in blindem und mörderischem Eifer für eine Sache kämpften, deren Hintergrund sie nicht kannten, die vergeblich war und letztlich auf ihre eigene Unterdrückung hinwirkte.“

Die von Gurnah gewählte Perspektive rückt die Frage in den Mittelpunkt, was der deutsche und britische Kolonialismus in Ostafrika für den Einzelnen bedeutet. Und eine Antwort darauf lautet: Entwurzelung. In ihrem Überlebenskampf, auch in ihrer Suche nach Zugehörigkeit brechen Hamza und Ilyas zu langen Irrfahrten durch das Land auf. Ilyas zieht es zunächst in ein bitterarmes Dorf, wo er seine Eltern sucht und seine kleine Schwester Afiya findet, die von Nachbarn wie eine Arbeitssklavin gehalten wurde. Später schließt er sich freiwillig den Askari an. Genauso wie auch Hamza, der an der Seite der Deutschen erst eine Spur der Verwüstung durch das Land zieht, bevor er in der Mission eines deutschen Pastors gesund gepflegt wird und zum Abschied ein Buch von Schiller geschenkt bekommt, aus dem er Jahre später für Afiya ein Gedicht übersetzt.

Viele Fragen bleiben offen

Der Roman folgt erst dem einen, dann dem anderen. Von Zufall, Kriegsgeschehen und Schicksal getrieben, zieht er mit ihnen umher und macht Willkür und Grauen des Kolonialismus sichtbar, ohne dessen ideologischen Überbau auszubreiten. Auf diese Weise hält er das Geschehen in einer gewissen Distanz, die den Raum für allerlei Ambivalenzen öffnet: für die Überzeugung, mit der sich Ilyas freiwillig meldet, um an der Seite der Deutschen zu kämpfen. Für die Trauer des deutschen Offiziers, der sich von Hamza an seinen Bruder erinnert fühlt, der bei einem Brand in einer deutschen Kaserne ums Leben kam. Mit Bewertungen hält sich das Buch oft erstaunlich zurück. Auch stilistisch bleibt es unaufgeregt bis zuletzt, als sich das Geschehen von der ostafrikanischen Küste nach Deutschland verlagert.

Erst dort erhöht sich das Tempo für die wenigen Seiten, auf denen Gurnah erzählt, wie der erwachsene Sohn von Hamza und Afiya nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland reist. Seine Eltern haben diesen Sohn nach seinem verschollenen Onkel benannt – Ilyas. Doch was als liebevolle Ehrerbietung gemeint war, entpuppt sich für den Jungen als familiärer Fluch, den er zu bannen versucht, indem er den Onkel aufspürt. Das gelingt auch, aber es bedeutet nicht, dass die Geschichte gut ausgeht. Viele Fragen bleiben offen, manche Lebenswege brechen ab, einige Figuren verschwinden so unversehens aus der Erzählung, wie andere in ihr aufgetaucht sind. So ist „Nachleben“ ein Roman voller loser Enden, der eine Geschichte erzählt, die nicht vergeht.

Abdulrazak Gurnah: „Nachleben“. Roman. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin Random House, München 2022. 380 S., geb., 26 Euro.