Retrospektive von Flatz in München :
Das Selbst am Fleischerhaken

Von Jörg Seewald
Lesezeit: 4 Min.
Der Tod ist ein: „Dandy“, von Flatz 2018 als Pigmentdruck auf Leinwand im monumentalen Format von 212 mal 136 Zentimeter ausgeführt
Der eigene Körper als Material: Münchens Pinakothek der Moderne widmet dem Künstler Flatz eine Werkschau.

Satte 15 Minuten hatte Bernhard Maaz vor tausend Gästen in der Pinakothek der Moderne über die Provokation in der Kunst philosophiert. Dabei hatte er alle Säulenheiligen aufgerufen von Kippenberger über Bosch und Goya bis Balthus. „Der Zweifel an der Kunst bringt sie hervor“, zitiert er Rainer Malkowski, um die Flatz-Retrospektive geschichtlich einzubetten: „Flatz steckt voller Ungewissheiten über Gewissheiten.“ Zu diesem Zeitpunkt weiß Maaz, dass er dem Publikum gleich eine Gewissheit nehmen wird: „Die angekündigte Auktion entfällt mit gutem Grund. Ein Sammler hat sich vor wenigen Stunden entschieden, die gesamte Arbeit mit dem Titel „Die Haut zu Markte tragen“ en bloc zu erwerben, und damit haben wir nun Aktion statt Auktion.“

Die Haut des Künstlers wird auch nach dessen Tod zu sehen sein

Die Versteigerung von zwölf Tattoos, die nach dem Tod des Künstlers präpariert hinter Glas den erfolgreichen Bietern zugestellt werden, war damit vom Tisch. Nicht aber der unverstellte Blick auf Wolfgang Flatz’ einundsiebzigjährigen Körper, der sich nun leibhaftig stehend stumm auf einer Scheibe drehte und dem gerade noch plappernden Pu­blikum ernste Stille abnötigte. Reglos starrte er – ausnahmsweise ungeschützt von seiner Brille – zurück auf die Menschen, die ihn, den nun Verwundbaren, durch das immer häufigere Hervorholen der filmenden Smartphones einmal mehr verwundeten. Der nahezu perfekte Auftakt zur zwanzigteiligen Lebenswerkschau, deren Exponate zum überwiegenden Teil unter erheblichem körperlichem Einsatz und viel Schmerz entstanden.

Flatz gibt der menschlichen Verletzlichkeit Bilder und wirkt der Teilnahmslosigkeit entgegen. Zudem verlangt er von den Besuchern seiner beiden Ausstellungssäle vollen Körpereinsatz, denn „Bodycheck“, sein Beitrag für die Documenta IX im Jahr 1992, aus 26 genau 60 Kilo schweren Boxsäcken, versperrt den Eingang. Wer sich durchkämpft, wird im Uhrzeigersinn von der sechsteiligen Fotoserie „Körper im Raum“ begrüßt. Eine frühe Übung, die ihn mit seinem nackten liegenden Körper einen grünen Raum vermessen lässt. Ganz links leuchtet ein zwei Meter hoher Flatz im Anzug mit Bombe im Arm („Teacher“, 2001) und der simplen Botschaft, dass die scheinbaren Biedermänner oft die größten Brandstifter seien.

Russische Folter des 19. Jahrhunderts, leider sehr aktuell: „Demontage IX“, von Flatz Silvester 1990/91 in der Synagoge zu Tiflis nachvollzogen.
Russische Folter des 19. Jahrhunderts, leider sehr aktuell: „Demontage IX“, von Flatz Silvester 1990/91 in der Synagoge zu Tiflis nachvollzogen.FLATZ Foundation

Das ist 23 Jahre nach seiner Entstehung 2001 von zeitloser Aktualität und lenkt den Blick gleich gegenüber auf die riesenhafte Projektion des Schwarz-Weiß-Videos einer Aktion, die Flatz zwar fast umbrachte, aber auch unsterblich machte: Der Glöckner von Tiflis ließ in der Silvesternacht 1990/91 den kopfüber aufgehängten Aktionskünstler als lebenden Glockenschwengel gegen zwei Stahlplatten schwingen, bis der nach gut fünf Minuten bewusstlos wurde. Danach tanzte ein Paar zum doppelt so langen Strauss-Walzer „An der schönen blauen Donau“ unter dem frei schwingenden Flatz. Sehr surreal in seiner Brutalität, die vis-à-vis das fünfteilige Leuchtleiden „Superstar“ (2001) nur suggeriert.

50 Cent meldete Interesse an Flatz' „Hera“-Motorrad an

Denn der mit Wunden übersäte Flatz hatte sich das für die hyperrealistische Darstellung nötige Blut in acht Ampullen von einer Ärztin zuvor abnehmen und anschließend von einer Hollywood-Maskenbildnerin modellieren lassen. Eine Auftragsarbeit für die evangelische Kirche, die auch prompt die Annahme verweigerte, was einem italienischen „untersetzten Monsignore“ wie Flatz launig erzählt, die Möglichkeit eröffnete, das Kunstwerk für die Vatikanischen Museen zu erwerben, wo es noch heute weilt. In München hängt das identische Bild, nur statt von Röhren von LED-Licht erleuchtet. „Die Transportkosten wären immens gewesen“, begründet Kurator Bernhart Schwenk den Nachbau.

Bling-Bling und Prinz Gothic: Gegen deren Verzweckung weigerte sich Flatz, seine beiden Unterweltsmotorräder „Hera und Hades“ (2004) an den Rapper 50 Cent zu verkaufen.
Bling-Bling und Prinz Gothic: Gegen deren Verzweckung weigerte sich Flatz, seine beiden Unterweltsmotorräder „Hera und Hades“ (2004) an den Rapper 50 Cent zu verkaufen.FLATZ Foundation

Dafür verbirgt die gleich daneben düster rauchende rotäugige „Luzi“ ein Skandalon beuysschen Ausmaßes. Der 2004 als Auftragsarbeit kreierte Einser-BMW zierte schon den Palais de Tokyo in Paris und wurde international gefeiert. Dann verschwand er im BMW-Archiv, wo er 2021 versehentlich verschrottet wurde. Ein Mitarbeiter hatte nicht eingesehen, dass das durchlöcherte, entkernte und rostende Auto weiter aufbewahrt werden sollte – wie BMW Flatz zufolge erst wenige Tage vor der aktuellen Ausstellung zugab. In einem Kraftakt erwarb Flatz einen gut erhaltenen schwarzen BMW von privat, ließ ihn vom gleichen Team wie 2004 entkernen und fügte dem Auto in fünf harten Arbeitstagen die gleichen Wunden zu wie „Luzi“ 2004. Nun ist das teuflisch illuminierte Gefährt ein Hingucker, nur übertroffen durch das Motorrad-Duo „Hera und Hades“, dessen mit 150 speziell geschliffenen Swarovski-Kristallen verzierte weibliche Hälfte dem US-Rapper 50 Cent eine gewaltige Summe wert gewesen wäre, wie Flatz berichtet. Nur wollte der Rapper damit fahren. Selbst dem Grenzüberschreiter Flatz war das eine Überschreitung zu viel. Kunst gehöre in diesem Fall ins Haus und nicht auf die Straße.

Die Diskussion, was Kunst darf, blitzt bei ihm immer wieder auf, vor allem bei dem Triptychon „Francis“ von 2017, auf dem Flatz nicht seinen eigenen, sondern den Körper eines befreundeten Menschen mit amyotropher Lateralsklerose abbildete. Es ist eine Hommage an die Figurationen des britischen Malers Francis Bacon, die sein eigenes künstlerisches Weltbild veränderten. Dann aber immer wieder Flatz solo: nackt als Leidensmann auf Krücken nach einem schweren Motorradunfall. Ursprünglich war „Something wrong with Physical Sculpture“ (1997) als Motiv zum Plakatieren der Ausstellung in München gedacht. Der Plakatflächenvermieter hatte das Motiv jedoch mit Hinweis auf den Jugendschutz abgelehnt. „Zensur wie im Viktorianischen Zeitalter durch einen Dienstleister“, schnaubt Flatz verächtlich und verweist darauf, dass genau dieses Plakat schon vor Jahrzehnten ganz Berlin zierte.

Flatz begegnet als lebende „Golden Mastercard“ (1990) oder mit dem verwischten roten Stern „Star“ (1989) der untergehenden Sowjetunion auf der Stirn und – aus diesem Jahr – als Torso am Fleischerhaken baumelnd, naturgetreu bis zur Sommersprosse und allen Tattoos, die er sich seit 1975 stechen ließ, erschaffen 2024 von Lisa Büscher in Berlin. Dort schuf 2023 auch Fiona Bennett die drei überlebensgroßen Zylinder, die zu denen sprechen, die sie aufsetzen. Viel zu leise rezitiert da Flatz seine eigenen Verse: „Ich war das schlechte Gewissen meiner Zeit, ich war der Brandbeschleuniger auf dem Weg zur Ewigkeit.“ Der aktuell entstehende Kinofilm „Flatz – ultimo provocatio“ ist insofern sprechend.

Flatz. Something Wrong with Physical Sculpture. Pinakothek der Moderne, München; bis 5. Mai. Kein Katalog.