Miniserie „Schnee“ im Ersten :
Im weißen Nichts

Von Oliver Jungen
Lesezeit: 4 Min.
Lucia (Brigitte Hobmeier) am Muttstein.
Starke Figuren in erhaben-bedrohlicher Landschaft: Die Serie „Schnee“ ist atmosphärisch so gelungen, dass man ihren hausbackenen Allerweltsmystizismus in Kauf nimmt.

Schnee, das ist reine Helligkeit, Auflösung aller Konturen, weiße Magie. Wo in Erzählungen kolossal viel Schnee fällt, ist die Transzendenz meist nicht weit. Schon in Wolfram von Eschenbachs „Parzival“ ist das so, wenn aufgrund einer außergewöhnlichen Planetenkonstellation mitten im Sommer Schnee vom Himmel stürzt und der Anblick dreier Blutstropfen im unschuldigen Weiß den Helden in Trance versetzt, weil sie ihn an die Liebe zu seiner Frau erinnern – und an den ganzen christlichen Unterbau der Gralssage.

Im Schneekapitel des „Zauberberg“ gerät der Held in einen lebensbedrohlichen Wintersturm, aber was von all den ihn heimsuchenden Traumbildern zurückbleibt, das ist vor allem ein unbedingter Lebenswille, der Widerruf der romantischen Déca­dence, der Todesgeneigtheit. Nirgends kommt der Himmel den Menschen so nah wie in diesem „weißen Nichts“.

Familiendrama, Dorfkrimi, Klimadystopie

Todesnähe, Entwirklichung und Elevation, damit spielt auch die bildmächtige, in einer archaisch wirkenden Alpenregion angesiedelte Miniserie „Schnee“ von Michaela Taschek (beteiligt am Drehbuch waren Jürgen Schlagenhof und Kathrin Richter). Allerdings zeichnet sich die österreichisch-deutsche Koproduktion durch eine eigentümliche, naive Verschränkung akuter Problemszenarien mit hausbackenen Sagenmotiven aus.

Es handelt sich um einen Klimadystopie-Familiendrama-Dorfkrimi-Mysterythriller. Dank stark gespielter Figuren in erhaben bedrohlicher Berglandschaft – gedreht in Südtirol und Venetien – funktioniert er in all diesen Hinsichten ein gutes Stück weit, überzeugt aber in keiner davon gänzlich. Kaum über Klischees hinaus kommen die Klimakrisendimension (es mangelt zunächst problematisch an Schnee; dann liegt er meterhoch) und der Naturmystik-Hokuspokus (eine erwählte Wächterin spricht im Namen der Berge wuchtige Warnungen aus; beide verlieren dann aber irgendwie das Interesse aneinander). Mit Spannung immerhin geizt die Geschichte nicht, auch wenn viele Fährten früh und deutlich ausgelegt werden, sodass das letzte Drittel sogar einige Längen aufweist, weil sich alles ziemlich genau so erfüllt wie angedeutet.

Kehrt zurück ins Dorf seiner Kindheit: Matthi (Robert Stadlober).
Kehrt zurück ins Dorf seiner Kindheit: Matthi (Robert Stadlober).BR

Das große Plus der Serie ist ihre Stimmung. In der düsteren, elegischen Inszenierung der Regisseurinnen Catalina Molina und Esther Rauch werden die Zuschauer immer tiefer in die beklemmende Atmosphäre eines dörflichen Angstraums hineingezogen. Im Zentrum der Handlung steht die vierköpfige Familie Hofer. Weil Tochter Alma (Laeni Geiseler, bestechend gut) an Asthma leidet, ziehen die Hofers aus dem hochallergenen Wien in den Tiroler Bergort Rotten, in dem Matthi Hofer (Robert Stadlober) aufgewachsen ist und wo ein altes Holzhaus, Marke Gespensterhaus, für sie bereitsteht. Matthis Eltern (Karl Fischer, Maria Hofstätter) sind die mächtigsten Menschen im Ort, betreiben ein großes Hotel und wollen mit einem neuen Berglift, dem „Gletscher Express“, für den freilich eine Kuppe des zürnenden Hausbergs abgesprengt werden muss, Touristen anlocken. Es dauert nicht lange, bis hinter der Freundlichkeit der Dörfler immer tiefere Risse erkennbar werden.

Sie ist wölfisch entschlossen, wenn es um ihr Rudel geht

Wichtigste Protagonistin der Serie ist Matthis Frau Lucia, eine Ärztin, die die Dorfpraxis übernimmt, hinreißend gespielt von Brigitte Hobmeier. Man nimmt ihr ab, durch Dinge, die eigentlich unerklärlich sind, innerlich erschüttert zu sein. Genauso glaubhaft aber verkörpert Hobmeier Lucias wölfische Entschlossenheit, wenn sie als Wächterin ihres bedrohten Rudels auftritt. Die Bedrohung ist mitunter privater Natur, wie die Begrüßung Lucias durch Toni (Katrin Lux) andeutet: „Ich bin die Frau, die der Matthi für Sie verlassen hat.“ Es wird schnell klar, dass in Rotten etwas geschehen ist, woran sich niemand gern erinnert. „Auf dem Dorf liegt ein Fluch“, heißt es, eine lastende Schuld, ein Verbrechen, das mit nicht eben wenigen Zeichen auf sich aufmerksam macht: Klopfzeichen, Schimmelzeichen, Tierzeichen, Wetterzeichen, Steinschlägen, Totenerscheinungen, Prophezeiungen im Wahn. Wenn doch nur jemand die Hinweisflut wahrnehmen wollte.

Erwachsene denken dafür wohl zu logisch, klammern sich zur Not an Zufälle. Anders die junge, sensible Alma, der prompt ein Buch mit der „Sage vom Muttstein“ in die Hände fällt. Sie steigert sich in die Rolle der „Wächterin des Berges“ hinein, glaubt, eine Tote habe ihr in der Nacht einen Ring übergeben (Mystery!). Und tatsächlich findet man nach ihren Angaben am Berg eine gut konservierte Frauenleiche (Dorfkrimi!), die der schmelzende Gletscher (Klimawandel!) freigibt und deren Bergung zu sehr diesseitigen Zerwürfnissen im Hofer-Clan führt (Familiendrama!). „Deine Tochter hat die Gabe“, dekretiert die den Berggeistern nahestehende Dorfhexe Aurelia (Sylvia Eisenberger), aber das kratzt gerade einmal an der Oberfläche des Rottener Übersinnlichkeitskomplexes.

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Trailer„Schnee“

Das Verschwimmen der Wirklichkeitskonturen unterstreicht bildlich die grenzwertige Lichtlosigkeit vieler Szenen, bis sich die Handlung – es ist doch noch Schnee gefallen – mehr und mehr in die eisigen Berge selbst verlagert, und zwar samt Blutstropfenszene und trotziger Lebensbejahung im Todesklammergriff. Nun verflüchtigen sich die Bilder ins endlose Weiß. Manchmal vermeint man das „Urschweigen“ zu hören, dem schon Hans Castorp in der Höhe gelauscht hatte. Dann wieder wird es dramatisch, nehmen die Thriller-Elemente zu: Verfolgungsjagden im Schnee, Wolfskämpfe, Todesopfer, unterkühlte Auftritte des unwirklich wirkenden Polizisten Prochazka (Stipe Erceg).

Schließlich jedoch verabschiedet sich alle innere Glaubwürdigkeit zugunsten eines kitschigen, leeren Pathos. Das verstolperte Mystery-Apokalypse-Finale ist der Gipfel einer zu angestrengten Erzählung, die zu viele Themenkreise zu verschnüren versucht, dafür aber nur abgegriffene Standardmotive zu bieten hat. Und doch bleibt die Atmosphäre fast bis zum Schluss von einer bezwingenden Intensität, was ästhetisch beachtlich ist und über einigen inhaltlichen Stuss hinwegtröstet.

Schnee läuft um 20.15 Uhr im Ersten, abrufbar in den Mediatheken von ARD und Arte.