Schirach im ZDF :
In Auge und Ohr des Volkes

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Nebenklägerin und Hauptbelastungszeugin: Katharina Schlüter (Ina Weisse), Godehard Giese spielt den angeklagten Christian Thiede.
Strafkammerspiel der Extraklasse im ZDF: Der fulminante Fernsehfilm „Sie sagt. Er sagt“ nach einem Drehbuch von Ferdinand von Schirach legt dar, wie ein Gericht den Fall einer mutmaßlichen Vergewaltigung verhandelt.

Christian Thiede sei ein charmanter Mann, „sehr klar und eloquent“. So beschreibt ihn seine ehemalige Geliebte, die prominente Talkshowmoderatorin Katharina Schlüter, vor Gericht. Doch Thiede, als Vorstandsvorsitzender eines weltweit tätigen Unternehmens selbst auch eine bedeutende Persönlichkeit, schweigt. 95 Minuten lang, und damit bis kurz vor Schluss des Fernsehfilms „Sie sagt. Er sagt“. Thiede ist wegen Vergewaltigung angezeigt worden, von Katharina Schlüter: Bei einem zufälligen Wiedersehen nach zuvor einvernehmlicher Trennung sei man noch einmal im Bett gelandet, doch dann habe Thiede trotz Widerspruch von Schlüter nicht mehr haltgemacht. In der Vernehmung durch die Polizei hat er die Tat bestritten.

Ein klassischer Fall von Aussage gegen Aussage. Mit dem Unterschied, dass jetzt im Strafprozess nur noch die Nebenklägerin Schlüter aussagt. Thiede schweigt. Das ist sein gutes Recht, wie man so sagt. Kein Angeklagter kann zur Aussage gezwungen werden.

Warum dann der Titel „Sie sagt. Er sagt“? Das ist ein Zitat aus dem Schlussplädoyer von Rechtsanwalt Biegler, dem Vertreter der Nebenklage. Matthias Brandt spielt ihn furios, nämlich unerträglich trotz oder gerade wegen seiner Souveränität: überheblich, gönnerhaft, vorlaut, spöttisch – ein aus Gerichtssälen vertrautes Verhaltensmuster mancher Anwälte. Aber sein Plädoyer zielt auf den Kern dessen, was dieser Fernsehfilm leisten will. In kaum fünf Minuten bekommen wir da von Biegler eine Grundlagenvorlesung zum uns allen scheinbar klaren Rechtsgrundsatz „In dubio pro reo“ (Im Zweifel für den Angeklagten). Ja, in diesem Gerichtssaal wird man am Ende zweifeln: Was ist denn nun genau passiert?

Wir Zuschauer sind das eigentlich Gericht

Aber in der ersten Dreiviertelstunde des Films hat man Katharina Schlüters Aussage gehört, und Ina Weisse hat das so intensiv gespielt, dass wir Zuschauer ganz auf ihrer Seite sind. Und wir Zuschauer sind bei diesem Film ja das eigentliche Gericht; der mit fünf Personen besetzte Richtertisch im Strafkammerverfahren vor dem Berliner Land­gericht, das hier simuliert wird, ist unser Stellvertreter – Auge und Ohr des Volkes. Wenn dieses Gericht so empfindet wie wir, dann wird es von Schlüters Aussage überzeugt sein, und der Zweifelvorbehalt sticht nicht mehr. So argumentiert Biegler. Eine erhellende, zutreffende Rechtserläuterung. Aufklärung im besten Sinne.

Er schweigt bis fast zuletzt: Der Angeklagte Christian Thiede (Godehard Giese)
Er schweigt bis fast zuletzt: Der Angeklagte Christian Thiede (Godehard Giese)ZDF und Julia Terjung
Großartig großkotzig gespielt: Matthias Barndt als Rechtsanwalt Biegler
Großartig großkotzig gespielt: Matthias Barndt als Rechtsanwalt BieglerZDF und Julia Terjung

Natürlich steht hinter diesem Fernsehfilm Ferdinand von Schirach. Der Ber­liner Anwalt und Schriftsteller hat mittlerweile nahezu ein Monopol auf die szenische Vergegenwärtigung juristischer Praxis. Seine Stimme führt uns zu Beginn von „Sie sagt. Er sagt“ in den Gerichtssaal hinein – und in die grundlegende Pro­blematik seiner Geschichte, die gar nicht in der kriminalistischen Frage besteht, wer mit wem schlief (und vor allem wie), sondern in der nach der Bedeutung der Strafprozessordnung für unser Selbstverständnis. Schirachs Stimme führt uns am Ende auch wieder hinaus aus dem Film. Da ist der Fall übrigens noch nicht geklärt. Aber das macht dieses Ende nur umso überzeugender.

Juristischer Voyeurismus als Antrieb

Denn beim Urteilsspruch sind wir gefragt. Wenn Biegler und seine Kollegin Breslau, die Verteidigerin von Christian Thiede, sich an die „Damen und Herren Richter“ wenden, dann sprechen sie zu uns – allerdings ohne dass der Regisseur Matti Geschonneck sie in die Kamera sprechen ließe. Aber das macht gerade die Meisterschaft dieses Films aus: dass er inszeniert ist wie die Dokumentation eines Prozesses, auch wenn er zwei Verhandlungstage auf 105 Minuten verkürzt. Musik oder große Kameraschwenks fehlen, stattdessen statische Einstellungen, aber Hochspannung durch Close-ups und Schnitte von Gesicht zu Gesicht. Da man in deutschen Gerichtsverhandlungen nicht filmen darf, darf Geschonneck auf unseren juristischen Voyeurismus setzen.

Der Gerichtssaal gibt die Bühne ab.
Der Gerichtssaal gibt die Bühne ab.ZDF und Julia Terjung

Dazu hat er exzellente Schauspieler zur Verfügung. Neben Weisse und Brandt sind das in den weiteren Hauptrollen Henrietta Con­fu­rius (Verteidigerin), Johanna Gast­­dorf (Vorsitzende Richterin) und Godehard Giese (Angeklagter). Letzterer muss angesichts des langen Schweigens seines Christian Thiede dessen Emotionen nonverbal verdeutlichen, und das tut Giese fulminant, gerade weil er das Brodeln unter der kontrollierten Erscheinung dieser Figur sichtbar macht. Als Thiede dann doch das (scheinbar) letzte Wort im Prozess ergreift, raunt seine Anwältin ihm zu: „Das ist keine gute Idee.“ Doch es ist eine exzellente Idee Ferdinand von Schirachs, mit diesem Schlusswort den Fall für uns noch einmal komplizierter zu machen.

Schirachs großes Geschick

Kurz: „Sie sagt. Er sagt“ muss man ­sehen. Auch wer kein juristisches Fach­interesse oder Prozesserfahrung haben sollte, wird gefesselt sein. Und wer es doch hat, wird Geschick und Sachkenntnis, mit denen Schirach seine Akteure charakterisiert hat, nur bewundern können, weil sie dadurch die Problematik so faszinierend komplex machen (Katharina Schlüters fehlenden Belastungseifer etwa, der für das Gericht entscheidend zu ihrer Glaubwürdigkeit beitragen wird, aber uns als Zuschauer verblüfft). Gut, es gibt auch kleine juristische Fragwürdigkeiten wie gleich den Einstieg in die Verhandlung, der mit dem Gutachten einer Forensikerin erfolgt, nachdem die Nebenklägerin sich verspätet hat und deshalb noch nicht aussagen kann. Oder die spätere spontane Zulassung eines Überraschungszeugen mitten im Prozess. Ersteres würde in der Realität das Risiko der Verletzung recht­lichen Gehörs bergen, weil auch Rechts­anwalt Biegler als Nebenklägervertreter noch nicht anwesend ist, Letzteres in der Praxis am Einspruch der Verteidigung scheitern, da die Vernehmung des neuen Zeugen ohne vorherige Verhandlungsunterbrechung erfolgt. Aber diese Ereignisse sind exzellent motiviert durch die dramaturgische Bedeutung eines roten Kleides für Schirachs Drehbuch, das bei beiden Aussagen im Mittelpunkt steht.

Dass es ganz zum Schluss eine Überraschung gibt, die dem Gericht (also uns) die Entscheidung nochmals erschweren soll, ist die einzige Schwäche des Films, weil unnötig. Durch den Rückzug der Strafkammer zur Urteilsberatung wäre die Zäsur, mit der „Sie sagt. Er sagt“ endet, auch gewährleistet gewesen. Aber das alles verblasst gegenüber ästhetischer Brillanz und gesellschaftlicher Relevanz dieses Strafkammerspiels.

Sie sagt. Er sagt ist vom 17. Februar an in der Mediathek des ZDF abrufbar und läuft am 26. Februar um 20.15 Uhr im regulären Programm. Dort folgt auf die Ausstrahlung dann noch eine halbstündige Dokumentation zur Wahrheitsfindung im Gerichtssaal.