Proteste gegen die AfD :
Linke und rechte Utopien

Jasper von Altenbockum
Ein Kommentar von Jasper von Altenbockum
Lesezeit: 3 Min.
Proteste in Frankfurt.
Finden auf den Demos „die da oben“ und „die da unten“ zusammen? Das bleibt eine Illusion.

Nicht nur die schieren Massen, die zu Kundgebungen pilgern, auch deren fast schon ritualisierte Wiederkehr spricht dafür, dass es ihnen nicht nur um die politische Stoßrichtung gegen die AfD geht, sondern auch um ungestillte Bedürfnisse. Um das zu erklären, ist viel von Zivilgesellschaft die Rede, die es zu pflegen, zu mobilisieren und zu verteidigen gelte. Die einen halten das für einen Aufbruch zu neuen Ufern, für demokratisches Empowerment, die anderen für Instrumentalisierung zugunsten eines politischen Lagers. Der Bundeskanzler leistete dieser Interpretation Vorschub, indem er die bevorstehenden Wahlen zu Protestwahlen „gegen rechts“ ausrief und bewusst offenließ, ob mit rechts alles gemeint ist, was nicht links ist.

Die Zivilgesellschaft hat diese Schlagseite seit den Tagen, da ein Unterschied gemacht wurde zwischen einer trägen und spießigen Gesellschaft, dem aufgeweckten Bürger und dem staatlichen Establishment. Ihr da oben, wir da unten – das war und ist noch immer eine beliebte Begründung für ein politisiertes „zivilgesellschaftliches Engagement“. Hat sich daran nun etwas geändert? Ist die Bewegung, die sich derzeit auf den Straßen zeigt, ein Zeichen dafür, dass wieder zusammenwächst, was zusammengehört, Staat und Gesellschaft?

Zivilgesellschaft mit Schlagseite

Es ist zumindest ein Bekenntnis dazu. Die Leute, die seit Jahren gegen die „Elite“, gegen das Establishment, gegen die „politische Kaste“ polemisieren, haben demnach nicht die Wahrheit gepachtet, haben nicht „das“ Volk hinter sich, ja nicht einmal annähernd die Mehrheit, wie sie es immer wieder gerne behaupten. Die Frontstellung ist vergleichbar früheren Konfrontationen, als die Rollen zwischen links und rechts noch vertauscht waren, als die „Kaste“ aus „Honoratioren“ bestand und der Mainstream nach dem „Muff unter den Talaren“ roch. Doch selbst größte Anstrengungen führten damals wie heute nicht dorthin zurück, wo sich Bewegungen, die kulturelle Oberhand gewinnen oder verteidigen wollen, gerne hinträumen. Der Graben zwischen oben und unten lässt sich nicht zuschütten.

Es sind auch jetzt die Nichtregierungsorganisationen, nicht die Fraktionen im Gemeinderat, an die man denken soll, wenn das Wort „Zivilgesellschaft“ fällt; es sind Bürgerinitiativen, die gemeint sind, nicht das Jobcenter; es sind Aktivisten, nicht Landräte; es ist Fridays for Future, nicht die Christliche Demokratische Union. Die Bürgergesellschaft, die sich selbst organisiert, die ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nimmt und ihre Interessen verteidigt, lässt sich zwar wirkungsvoll inszenieren.

Aber was Freiherr vom Stein einmal in Preußen unter kommunaler Selbstverwaltung verstand, die Identifikation der Bürgerschaft mit ihren Angelegenheiten, die dazu führt, dass sie sich selbst um alles kümmert, ohne auf die ortsfremden „Mietlinge“ in Ämtern, Räten und Behörden angewiesen zu sein, dieses Ideal ist sehr weit entfernt vom modernen Alltag. Angesichts der Herausforderungen der Moderne, die mit dem Stichwort „Daseinsvorsorge“ nur angedeutet sind, sollte man hinzufügen: Es ist eine schöne Illusion.

Tragfähige Lösungen gibt es nur „mit rechts“ und „mit links“

Das hat zu einer Anspruchshaltung geführt, die schizophrene Züge trägt. Bedürfnisse auf allerhöchstem Niveau sollen befriedigt, Probleme von größter Komplexität umstandslos gelöst werden, und zwar im Sinne einer Bürgerschaft, die Selbstbestimmung beansprucht, sie aber nicht ausfüllen kann und schon in der Repräsentation ihrer Interessen Entfremdung und Fremdbestimmung wittert. Auch jetzt heißt es wieder, „die“ Parteien müssten nun endlich aufwachen, hätten Zeit genug gehabt, kapierten es immer noch nicht, dürften aber auf keinen Fall der AfD auf den Leim gehen, deren Protagonisten allerdings genau dasselbe sagen.

Zwischen den verfeindeten politischen Lagern entsteht so ein schrilles Aneinandervorbeireden politischer Illusionskünstler. Auf deutschen Straßen scheint sich der Berg an ungelösten Problemen – Migration, Integration, Transformation, Rezession – für den Moment demokratischer Seligkeit aufzulösen, indem sich eine Bürgerbewegung vergewissert, gegen Nazis zu sein. Auf der anderen Seite steht eine sich radikalisierende Minderheit, die der Utopie frönt, der Berg möge restlos abgetragen werden, und, da das nicht geht, sich eine reaktionär-revolutionäre Bürgerbewegung wünscht, die Schluss macht mit Parteiengezänk, Mainstream und Mietlingen.

Was wäre, wenn auf den Kundgebungen über Migration, Transformation und Rezession geredet würde? Und zwar nicht nur phrasenhaft? Tragfähige Lösungen dafür gibt es nur „mit rechts“ und „mit links“, nicht „gegen rechts“ oder „gegen links“. Der gerne beschworene Zusammenhalt, der dafür nötig ist, wird in der Nachfolge Steins in den Kommunen, in deren Selbstverwaltung täglich praktiziert. Das ist der wertvolle Niederschlag einer schönen Illusion. Die da oben müssten eigentlich wissen, wie die da unten das machen.