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Parade der Ungleichheit

Von PIROSCHKA DOSSI und ROBERT K. VON WEIZSÄCKER

08.05.2016 · Wie es aussieht, wenn man Bruttojahresverdienste maßstabsgetreu in Körpergrößen umrechnet, zeigt diese Bilderserie. Vom bestbezahlten Vorstandsvorsitzenden sieht man dann nur den Stiefel: Der Mann misst 417,23 Meter. Ein Hartz-IV-Empfänger dagegen wird gerade mal 18 Zentimeter groß. Die Gastautoren Piroschka Dossi und Robert K. von Weizsäcker präsentieren dazu eine phantastische Erzählung.

Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage nach den tieferen Ursachen und Folgen der ökonomischen Ungleichheit begeben sich Nikolaj, Ökonomieprofessor und überzeugter Rationalist, und Isabel, das Mädchen mit dem Gerechtigkeitstick, auf eine phantastische Reise zu den Grundlagen der Marktwirtschaft. Dabei begegnen sie einem hedonistischen Kater, dem Vertreter des erfinderischen Eigennutzes, einer das Territorium kartographierenden Eidechse, die sich insgeheim für einen Künstler hält, und Nikolajs Lehrer Anthony, der erkennen muss, dass die Wirklichkeit alle Theorie übertrifft. Was sie schließlich erwartet, ist eine Parade, welche die phantastische Realität unserer Einkommensverteilung abbildet.

Und schon geht unsere phantastische Erzählung los:

Die Menschen von Anderland, die alljährlich der Parade beiwohnten, hatten sich an deren Sonderbarkeit gewöhnt und sahen sie nicht ohne Stolz als unvermeidlichen Ausdruck des in ihrem kleinen Land herrschenden Marktsystems an, in dem sie das Wirken einer unsichtbaren Hand zu erkennen glaubten, der sie sich bereitwillig unterwarfen. Der Eidechsenkönig bot jedem von ihnen einen Wimpel an. „Wählen Sie für die kommende Stunde Ihre Farbe: Rot für Energie, Blau für Kontemplation, Weiß für Erkenntnis, Gelb für Heiterkeit, Grau für Objektivität, Schwarz für Geheimnis, Orange...“ „...nehme ich“, sagte Nikolaj. Anthony entschied sich für Blau. Der Kater nahm Rot. „Ist das hier die Regel?“, fragte Isabel und griff zu Weiß. „Psst“, mahnte der Kater, „es geht los.“ Das Rufen, Lachen und Lärmen der Zuschauer, die sich an den Absperrungen drängten, verstummte. Ein Ausdruck gespannter Erwartung trat auf die Gesichter. Was zum Teufel ist das? Nikolaj rieb sich die Augen. Kamen da tatsächlich Gestalten mit dem Kopf nach unten vorbei? Kaum waren sie vorbeigezogen, setzten einige der Umstehenden ihre Brillen auf. Andere zogen ein Fernglas aus der Tasche. Isabel konnte jedoch keinen einzigen Menschen auf der Straße entdecken. „Wohin starren sie?“, fragte sie. „Da ist nichts.“ „Doch“, widersprach der Kater, „die Winzlinge!“ „Wo denn?“ „Dort!“

Schließlich entdeckte Isabel die winzigen Gestalten, die ihrem Namen alle Ehre machten, da sie so klein waren, dass jede von ihnen zwischen Daumen und Zeigefinger gepasst hätte. Dem Tuscheln der Umstehenden entnahm sie, dass es sich um Sozialhilfeempfänger handelte. Auf sie folgten die Empfänger der staatlichen Berufsausbildungs-förderung, sogenannte Däumlinge, wie ihr der Eidechsenkönig beflissen erklärte. Sie seien kaum länger als das Lineal, das er in seiner Kartenwerkstatt benutze.

Zu gerne hätte Isabel einen von ihnen auf die Hand genommen, ein Jäckchen zugeknöpft, ein Mützchen gerade gerückt oder ein Mäntelchen mit der Fingerspitze vom Straßenstaub befreit. Doch die rote Kordel der Absperrung und die strengen Blicke der Sicherheitsbeamten hinderten sie daran. Dann traten Zwerge auf, unter ihnen Rentner und freiberufliche Schauspieler. Sie reichten Isabel gerade bis zum Rocksaum. Der Eidechsenkönig, der Kater und die übrigen Zuschauer schwenkten begeistert ihre Fähnchen, beklatschten und bejubelten die komödiantischen Einlagen, mit denen die Vorbeiziehenden das Publikum erheiterten.

Nach zehn Minuten rückten die ersten Vollzeitbeschäftigten an. „Siebzig Zentimeter“, murmelte Nikolaj. „Liliputaner“, ergänzte der Eidechsenkönig. Isabel entnahm den Scheren, Kämmen und Bürsten, die aus den Taschen ihrer Kittel ragten, dass es Friseure waren. Auf sie folgte eine Gruppe von kaum größeren Kellnern, Köchen und Gärtnern, Letztere erkennbar an Rechen und Spaten, die sie über der Schulter trugen. Lange Zeit ging es so weiter: Lagerarbeiter, Gastwirte, Lastwagenfahrer, Dachdecker, Pförtner, Maurer, Sozialarbeiter, Straßenreiniger, Kindergärtner, Krankenschwestern.

Keiner in diesem Heer berufstätiger Menschen erreichte auch nur annähernd die durchschnittliche Größe eines Erwachsenen. Während die Zuschauer sich ausgelassen dem bunten Treiben überließen, rätselte Isabel, was hinter dieser Parade stecken mochte. Nikolaj stand neben ihr, den Wimpel in der Brusttasche seines Jacketts, und war in fortlaufende Analysen vertieft. Isabel tippte ihm auf die Schulter. „Warum sind sie nur so klein? Was hat das zu bedeuten?“ „Der Festzug dauert genau eine Stunde“, sagte Nikolaj. „Richtig?“ „Richtig“, antwortete Isabel. „Dem bisherigen Verlauf entnehmen wir, dass die Teilnehmer der Größe nach geordnet auftreten, die kleinsten zuerst, die größten zuletzt.“ „Und was ist der Grund für die Größenunterschiede? Warum sind die einen kleiner, die anderen größer?“

„Meine Hypothese lautet: Die Parade ist ein Abbild der Einkommensverteilung. Die Teilnehmer treten nach ihrem Einkommen geordnet an, die niedrigsten Einkommen zuerst, die höchsten zuletzt. Dabei entspricht die Körpergröße einer Person ihrem jährlichen Bruttoeinkommen - eine Person mit dem Durchschnittseinkommen wäre daher in der Parade eine Person mit der Durchschnittskörpergröße, und jede andere Person wäre entsprechend kleiner oder größer.“ „Und jene, die mit dem Kopf nach unten an uns vorbeigekommen sind?“ „Das sind Personen mit einem negativen Einkommen. Es sind Geschäftsleute und andere, die mit ihren Investitionen und Spekulationen Verluste gemacht haben.“ „Aber wir stehen hier schon seit einer halben Stunde und haben außer ihnen nur Winzlinge, Däumlinge, Zwerge, Liliputaner gesehen. Warum nur?“ „Wegen der Rechtsschiefe der Verteilung“, erwiderte Nikolaj. „Der was?“ „Der Rechtsschiefe der Verteilung“, wiederholte Nikolaj.

„Die meisten Menschen verdienen wenig, und die wenigsten viel. Ich vermute daher, dass die Gruppe mit dem Durchschnittseinkommen nicht nach der Hälfte der Zeit vorbeikommen wird, wie es bei einer symmetrischen Verteilung der Fall wäre, sondern erst deutlich später.“ Nikolaj sollte recht behalten. Erst nach einer Dreiviertelstunde, wie die Eidechse mit einem Blick auf ihre Taschenuhr feststellte, zog ein Tross von Werkzeugmachern und Schaffnern vorbei, die so groß waren wie Isabel. Jetzt, mit dem Beginn der letzten Viertelstunde, was dem obersten Viertel der Einkommensverteilung entspricht, nahmen die Körpergrößen jedoch schlagartig zu.

Gymnasiallehrer, Professoren, Architekten und Elektroingenieure waren bereits so groß, dass sie den hochgewachsenen Nikolaj überragten. Die danach vorbeiziehenden Unternehmensberater, Anwälte und Ärzte waren Hünen von mehr als drei Metern. Als kurz darauf eine Truppe von Geschäftsführern, Bundestagsabgeordneten und obersten Richtern anrückte, die über vier Meter maßen, ging ein ehrfürchtiges Raunen durch die Menge. Isabel begriff nun, dass die Parade mehr war als nur ein phantastisches Erlebnis.

Sie war die alljährliche Demonstration der Wirkungsmacht jenes marktwirtschaftlichen Systems, dem die Menschen ihr Überleben und ihren Wohlstand verdankten, und das zugleich mehr als jede andere Einflussgröße bestimmte, welchen Platz jeder von ihnen in der Stufenleiter der Gesellschaft einnahm. Dieser Platz wurde weniger von dem Wert der Arbeit bestimmt, die jemand leistete, als von der Menge des Geldes, das er verdiente. Anthony nahm Isabel zur Seite. „Was Sie hier sehen, gilt für ein Land wie Deutschland, von dem Sie wohl nicht vermuten würden, dass es dort solche himmelweiten Unterschiede...“ Der anschwellende Jubel verschluckte seine übrigen Worte. Die Eidechse sah auf ihre Taschenuhr. „Noch eine Minute. Dann ist der Zauber vorbei.“ „Die obersten 1,7 Prozent der Verteilung“, murmelte Nikolaj. Auf den Gesichtern der Umstehenden mischte sich Ungläubigkeit in die Heiterkeit, Angst in die Erregung. Denn was nunmehr auf sie zukam, waren Riesen von mehr als zwanzig Metern. „Das ist kein Zauber“, sagte der Kater, „das ist Wirklichkeit!“ „Großunternehmer“, erklärte die Eidechse.

Die Wucht ihrer Schritte ließ den Boden vibrieren, das gewaltige Schuhwerk passte kaum noch zwischen die Gehsteige. Die Zuschauer wichen von den Absperrungen zurück. Kleine Kinder, die nicht auf den Schultern ihrer Väter saßen, versteckten sich zwischen den Beinen ihrer Mütter. Die meisten Schaulustigen flüchteten in die Seitenstraßen. Entschlossen, bis zum Ende des Festzugs auszuharren, drängten sich Nikolaj, Isabel, Anthony, die Eidechse und der Kater gerade noch rechtzeitig in einen Hauseingang, gefolgt von einer Gruppe von Liliputanern, die zu Anfang der Parade mit den Friseuren vorbeigezogen waren und sich den Anblick der Riesen ebenfalls nicht entgehen lassen wollten. „Budapester, englisch“, flüsterte einer der Liliputaner, worauf die anderen nickten und kicherten. „Monks, rahmengenäht!“, konstatierte ein anderer, der sich ebenfalls mit Schuhen auszukennen schien. „Super 100, italienisch“, meinte einer mit Brille, den Stoff eines Hosenbeins begutachtend. Dann tauchten die schwarzbestrumpften, endlos langen Beine einer weiblichen Schönheit auf, die zum Bedauern des jubelnden Publikums unterhalb der Gürtellinie in den Baumkronen verschwand. „Seidenglanz! Verführerisch!“, rief der Kater begeistert. Die Liliputaner stimmten kichernd ein. Isabel lachte mit. Erregt von Angst, Staunen und Begeisterung klatschten sie Beifall. „Tolles Stück!“ Derjenige mit der Brille deutete anerkennend auf Isabels rotes Kleid. „Vintage?“ „Wie bitte?“ Er zwinkerte Isabel zu. Sie hätte schwören können, ihn schon einmal gesehen zu haben. Plötzlich war ein dumpfes Dröhnen zu vernehmen. Die Straßenlaternen fingen an, sachte hin und her zu schwingen. Nikolaj legte den Arm um Isabel, die Eidechse schloss ihre graugrünen Finger um die Taschenuhr, der Kater blickte zu Anthony. „Der Wahnsinn der letzten Minute wird noch übertroffen durch jenen der letzten Sekunden“, flüsterte dieser. Eine hypnotische Faszination für das Unfassbare ergriff sie, die erst im letzten Moment in den Schrecken des Begreifens umschlug.

Anthony war in entrückter Stimmung. Wie durch ein umgedrehtes Fernrohr blickte er in seine Vergangenheit zurück und sah am Ende sich selbst als jungen Mann - nachsinnend über die ungleich verteilten Fähigkeiten und Möglichkeiten der Menschen, sich in einem System zu behaupten, das auf die Maximierung von Eigennutz und materiellem Profit ausgerichtet war. Er erinnerte sich an jenen Gedankenblitz, der den großen Zusammenhang erhellte, in dem alles enthalten war, was er in den folgenden Jahrzehnten belegen würde: Dass die Ungleichheit nicht nur Voraussetzung des Systems war, sondern auch die mögliche Ursache seiner Zerstörung. Doch alle Theorie war zu grau, um die grelle Farbigkeit der Welt zu erfassen. Was er damals vor seinem inneren Auge gesehen hatte, trat ihm jetzt als karnevaleske Wirklichkeit entgegen, und in jähem Schrecken fragte er sich, ob sich in diesem Augenblick, der seinem Streben eine nachträgliche Berechtigung und seiner Existenz so etwas wie Sinn verlieh, nicht sein Schicksal erfüllte. Auch der Eidechsenkönig zog sein Resümee - dass weder maßgeschneiderte Anzüge noch rahmengenähte Schuhe, sondern allein die Kunst es vermochte, der Monstrosität des Übermaßes den Glanz des Edlen und Subtilen zu verleihen, und es dazu Charaktere wie des seinen bedurfte. Denn insgeheim hielt er sich für einen Künstler.

Während die Liliputaner einander in handwerklichen Fachkenntnissen übertrumpften, was zu einem Disput führte, ob die Perlenstickerei auf einem Chiffonkleid nun aus einer Manufaktur in Paris oder in Neapel stammte, und in der Frage gipfelte, warum jene, deren geschickte Hände an Haute-Couture-Kreationen mitwirkten, nur Hungerlöhne bekamen, der Kater sich an Frauenbeinen ergötzte und im Übrigen auf einen wolkenlosen Himmel hoffte, um die Dekolletés von unten bewundern zu können, während die Eidechse beschloss, endlich ihrer Berufung zu folgen, Isabel an die Zwerge aus den Märchen ihrer Kindheit dachte und Anthony an seinen Tod, erkannte Nikolaj als Einziger, was vor sich ging. Aufgrund seiner Beobachtungen hatte er die Zunahme des Größenwachstums der Riesen errechnet. Als seine Rechenoperationen nicht mehr damit Schritt hielten, ergriff er Isabels Hand und bedeutete ihr und den anderen mitzukommen. „Wir müssen hier weg! Sofort!“ Warum das nicht gelang, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, denn jeder der vier Gefährten hatte andere Bruchstücke der sich in wenigen Augenblicken vollziehenden dramatischen Ereignisse wahrgenommen und sie in der Erinnerung zu einem eigenen Bild der in ihrer Gesamtheit unfassbaren Wirklichkeit zusammengefügt.

Piroschka Dossi ist Autorin. Ihr Buch „Hype - Kunst und Geld“ gilt als Standardwerk des Kunstmarkts. Robert K. von Weizsäcker ist Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der TU München. Der Text ist ein Auszug aus ihrem im Springer-Verlag erschienenen Buch „Ungleichheit - Eine phantastische Erzählung“.

F.A.Z.-Multimedia: Ulrike Engel

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