Fortschritte in der künstlichen Intelligenz

Die erste und einzige Künstliche Intelligenz, die wirklich versteht, was sie tut: Mangelndes Selbstbewusstsein kann man den Vorstandsvorsitzenden der texanischen Softwareschmiede Lucid nicht vorwerfen. Ihr Produkt heißt Cyc, abgeleitet vom englischen Encyclopedia, galt bislang als der Quastenflosser unter den KI-Systemen: ein kurioses Relikt aus fernen Zeiten. Jetzt kommt es auf den Markt. Und belebt die Debatte um den richtigen Weg zur Künstlichen Intelligenz. Im Jahr 1984 startete Douglas Lenat, damals Informatikprofessor in Stanford, das Unterfangen, einem Computer zu erklären, wie die Welt funktioniert. Die 1980er waren in der KI das Zeitalter der Expertensysteme. Ärzte oder Ingenieure ließen sich von Programmierern ihr Fachwissen abfragen, das dann dem Computer ordentlich formalisiert eingegeben wurde. Die Expertensysteme erlebten damals einen ähnlichen Hype wie heute das Deep Learning. Die intelligente Maschine schien schon vor der Tür zu stehen. Doch mit dem Umfang der Datenbanken wuchs die Enttäuschung der Forscher. Ihnen wurde klar, dass das Wissen der Welt nicht aus einer endlichen Menge formalisierbarer Sätze besteht, dass nicht alles entweder wahr oder falsch ist. Andere Arten, Wissen zu generieren, darzustellen und zu speichern kamen auf, vor allem die lernfähigen neuronalen Netze, deren jüngster Spross die Deep-Learning-Systeme sind. Lenat hält am Weltwissen fest Viele sprangen auf diesen neuen Zug auf, Douglas Lenat nicht. Während Cyc in der Community allenfalls noch spöttisch als Beispiel dafür zitiert wurde, wie man es nicht macht, arbeitete Lenat ohne viel Aufhebens weiter, gründete ein Unternehmen namens Cycorp, gab seinen Lehrstuhl auf, warb Fördergelder und Industrieaufträge ein und ließ weiter programmieren, auf die gute alte Art, Satz für Satz. Mit Expertenwissen gab er sich nicht lange zufrieden, Cyc sollte alles lernen, was auch ein Kind lernt, sollte nicht programmiert, sondern unterrichtet werden - weshalb die Entwicklung auch so lange gedauert habe: Ein Vogel ist ein Tier. Es kann fliegen. Flugzeuge fliegen auch, aber es sind keine Vögel. Vögel fliegen, indem sie mit den Flügeln schlagen. Nicht alle Vögel können fliegen. Im Jahr 2008 gründete ein Weggefährte Lenats das Unternehmen Lucid. Und kürzlich nun verschickte es eine Pressemitteilung: Nach 32 Jahren Entwicklungsarbeit mit Millionen von Programmierstunden sei Cyc jetzt fertig. Mit seinem Wissen soll es die kuriosen Missverständnisse verhindern, die persönliche Assistenzsysteme heute gerne produzieren, auf der Website der Firma werden auch erste Erfolge des bei Problemlösungen im Gesundheitswesen und in der Industrie berichtet. Das vollmundige Selbstlob dürfte freilich ein wenig übertrieben sein: „Cyc ist eine Wissensdatenbank, und intelligent ist allenfalls das, was man damit macht“, sagt Kai-Uwe Kühnberger, Professor für Künstliche Intelligenz an der Universität Osnabrück. Dennoch kann er dem Projekt etwas abgewinnen: „Cyc hat mehrere hundertausend Begriffe in Millionen von Aussagen in streng logischer Form gespeichert, von einfachstem Weltwissen bis zu mathematischen Formeln. Das ist ein enormer Fundus, den man für formalisierbare Probleme, etwa um Axiome zu prüfen gut gebrauchen kann.“ Denn mit dieser Art von Kognition kommen die zurzeit so hoch gehandelten Deep-Learning-Verfahren gar nicht zurecht. Kühnberger: „Wir hätten nicht einmal eine Idee, wie wir es angehen sollten, mit Deep Learning mathematische Theorien zu generieren.“ Auf den Spuren künstlicher Denkwege Zudem kann Cyc seinen „Denkweg“ Stück für Stück offenlegen, so dass er für den Nutzer nachvollziehbar wird. Lernende Neuronale Netze hingegen, die ihr „Wissen“ in den stärker oder schwächer ausgeprägten Verbindungen zwischen simulierten Neuronen speichern, sind für den Nutzer im Wesentlichen immer noch eine Black Box. Diese Lernverfahren kommen dafür mit Aufgaben zurecht, von denen der Mensch gar nicht angeben könnte, wie er sie erledigt, etwa ein Gesicht wiederzuerkennen. „Ich kann mir derzeit nicht vorstellen, dass man Cyc für Aufgaben im Bereich der Robotik, etwa die Analyse eines Bilderstroms, den ein Roboter sieht, gebrauchen kann“, sagt Kühnberger. Das Ziel ist noch lange nicht erreicht Für Lenat ist formalisiertes Weltwissen, wie er es Cyc eingetrichtert hat, der einzige Weg zur Künstlichen Intelligenz. Kühnberger sieht das differenzierter: „Cyc ist sicher nicht der Weisheit letzter Schluss, aber man muss auch nicht glauben, dass die Deep-Learning-Systeme aus dem Nichts klug werden.“ Auch Lernsysteme brauchen Weltwissen. Nur wird ihnen das nicht einprogrammiert, sie werden trainiert: Dazu bekommen sie Daten, zum Beispiel in Form von Tausenden von Fragen und Antworten. Und nach dieser Trainingsphase kann man sie nur in dem wohldefinierten Ausschnitt der Welt gebrauchen, für den sie trainiert wurden. „Auch Lernsysteme sind hochgradig spezialisiert“, erklärt Eyke Hüllermeier, Professor für Informatik an der Universität Paderborn. In den 1980ern war die Wissensakquise der Flaschenhals. „Experten auszufragen ist umständlich und teuer“, so Hüllermeier: „Heute leben wir im Zeitalter von Big Data, Massen von Daten sind sehr günstig zu erfassen. Lernfähige Systeme sind die Zukunft Da ist es nur folgerichtig, wenn man versucht, das benötigte Wissen aus den Daten zu extrahieren, die am einfachsten verfügbar sind.“ In Bereichen, in denen es nicht viele Daten gibt, etwa bei der Diagnose seltener Erkrankungen, sei man hingegen weiterhin auf Expertenwissen angewiesen. „Die Aufgaben, die wir in der Zukunft lösen wollen, werden immer unstrukturierter sein“, sagt Hüllermeier. „Die Welt des Schachspiels, womit die KI-Forschung begann, ist deterministisch und sehr einfach aufgebaut, Go ist bereits komplexer und beim autonomen Fahren weiß man gar nicht, was alles auf einen zukommen kann. Ein klassisches Expertensystem kommt damit nicht zurecht.“ Er ist sich mit Kühnberger einig, dass in vielen Bereichen der Schlüssel zum Erfolg in der Kombination von Expertenwissen und lernfähigen Systemen liegt. Wozu die Wissensbank des hartnäckigsten Programmierers der Welt tatsächlich zu gebrauchen ist, werde der Markt in den nächsten Jahren zeigen. Auch Douglas Lenat schlägt manchmal versöhnlichere Töne an: Dann spricht er von den zwei Hälften eines Gehirns, der intuitiven und der logischen, die zusammenarbeiten müssten. Und manchmal setzt er „Verstehen“ dann auch in Anführungsstriche.