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Inzest - die Liebe, die keine sein darf

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Er war verboten, er ist verboten und er bleibt es wohl auch: Sex zwischen erwachsenen Geschwistern.
Er war verboten, er ist verboten und er bleibt es wohl auch: Sex zwischen erwachsenen Geschwistern. © imago stock&people

Inzest, der Sex unter Geschwistern, ist von Alters her verfemt. Vor etwa zehn Jahren sorgte jedoch der Fall der Geschwister Patrick S und Susan K. für Aufsehen. Die damalige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist bis heute umstritten.

Er war verboten, er ist verboten und er bleibt es wohl auch: Sex zwischen erwachsenen Geschwistern. Das Inzestverbot findet sich schon im Alten Testament. Im 3. Buch Mose heißt es: „Du sollst deiner Schwester Blöße, die deines Vaters oder deiner Mutter Tochter ist, daheim oder draußen geboren, nicht aufdecken.“ Rund 3000 Jahre Kulturgeschichte kann dieses Verbot für sich beanspruchen. Vor etwa zehn Jahren bekam die Überzeugung von Recht und Unrecht jedoch Risse.

Die Geschichte von Patrick S. und Susan K. wurde bekannt, jenem Geschwisterpaar, das sich nicht kannte, dann aber traf und liebte. Die Eltern hatten sich getrennt, als Patrick S. noch keine sieben Jahre alt war, die Schwester Susan kam kurze Zeit später zur Welt. Patrick S. wurde schließlich von Pflegeeltern adoptiert. Kontakt zu seinen leiblichen Eltern hatte er nicht. Erst im Jahr 2000, er war 24 Jahre alt, suchte er seine leibliche Mutter. Nun erfuhr er auch von seiner Schwester Susan K. und lernte die 16-Jährige kennen. Auch sie hatte eine schwere Kindheit gehabt, lebte lange in Heimen der Jugendhilfe. Als die Mutter starb, blieb Patrick bei seiner acht Jahre jüngeren Schwester, es wurde eine Liebesbeziehung – eine gesetzlich verbotene. 2001, 2003, 2004 und 2005 wurden vier gemeinsame Kinder geboren.

In Paragraf 173 Strafgesetzbuch steht: „Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft … Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen.“ Es folgt die Ergänzung, dass Sex zwischen Geschwistern erst ab der Volljährigkeit strafbar ist. Patrick war volljährig, seine Schwester wurde es 2002.

Die Geschichte von Patrick und Susan wurde zum Fall. Patrick bekam drei Jahre Haft, rief das Bundesverfassungsgericht an, später den Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Nüchtern gesprochen: Juristisch scheiterte er mit seinen Beschwerden auf ganzer Linie. Dass er und seine Schwester getrennt aufgewachsen waren, änderte nichts. Es ist wie bei Moses: Ob die Schwester „daheim oder draußen geboren“ ist, zählt nicht beim Inzestverbot.

Der Boulevard ist glücklich

Viele Medien nutzten die Geschichte von Patrick S. und Susan K. für den Boulevard. So einfach lagen die Dinge aber nicht. Patrick S. wurde nicht nur wegen Inzests verurteilt, sondern auch wegen vorsätzlicher Körperverletzung, begangen an seiner Lebensgefährtin Susan K. Das war, bevor das letzte gemeinsame Kind geboren wurde. Er schlug die deutlich jüngere Frau, die eine leichte Behinderung hat, ins Gesicht. Die beiden sind schon lange kein Paar mehr. Die Justiz habe ihre Beziehung zerstört, sagt Patrick S..

Wieso bestätigte das Bundesverfassungsgericht 2008 die Haftstrafe für den vierfachen Familienvater und Bruder mit 7:1 Stimmen? Das Inzestverbot für erwachsene leibliche Geschwister verletze nicht das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung, denn der Eingriff sei gerechtfertigt. „Der Beischlaf zwischen Geschwistern betrifft nicht ausschließlich diese selbst, sondern kann in die Familie und die Gesellschaft hinein wirken und außerdem Folgen für die aus der Verbindung hervorgehenden Kinder haben“, schrieb der Zweite Senat. Studien belegten, dass Inzest zu  „vermindertem Selbstbewusstsein, Sexualstörungen im Erwachsenenalter“ und Beeinträchtigung der Beziehungsfähigkeit führen könne.

Die Verfassungsrichter hielten das Strafgesetz aus einem weiteren Grund für gerechtfertigt: als Schutz vor sexuellen Übergriffen. Bei (den insgesamt wenigen Fällen von) Geschwisterinzest bestehe häufig ein erheblicher Altersunterschied zwischen den Geschwistern. Der jüngere Teil könne aus einem Abhängigkeitsverhältnis heraus den Geschlechtsverkehr dulden, obwohl er ihn innerlich ablehne. Er wäre auf Dauer schutzlos gestellt, wäre der Inzest straffrei.

Die UN rügt Frankreich

Der juristisch umstrittenste Punkt ist bis heute, dass das Bundesverfassungsgericht auch mit der Gefahr von Erbkrankheiten das Inzestverbot rechtfertigte. Zwei der vier Kinder von Patrick S. und Susan K. haben eine Behinderung. Die Vermeidung von Erbkrankheiten ist von Alters her ein wesentliches Motiv für die Strafbarkeit. Das erklärt auch, wieso Inzest unter Pflege- oder Adoptivkindern nicht strafbar ist, sondern nur zwischen leiblichen Geschwistern. Im Übrigen verwies Karlsruhe aufs Ausland, wo der Geschwisterinzest ebenfalls überwiegend unter Strafe steht. In Frankreich gilt zwar kein Strafrecht, aber ein Eheverbot für Geschwister, sogar die rechtliche Anerkennung der Kinder wird ihnen versagt. Überraschend ist, dass ausgerechnet die UN Frankreich mehrmals aufforderte, den Inzest unter Strafe zu stellen, zuletzt 2002. Die UN bewertet das Inzestverbot vorrangig als Schutz der Kinder.

Unter Strafrechtlern stößt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts teilweise bis heute auf scharfe Ablehnung. Das Sondervotum des inzwischen verstorbenen Verfassungsrichters Winfried Hassemer findet dagegen die Anerkennung der Kritiker. In Karlsruhe gab es seit 2008 kein neues Verfahren mehr zum Inzest. Möglich, dass in Parallelfällen, in denen Geschwister sich gar nicht kannten und als Erwachsene ein Paar wurden, gar nicht mehr angeklagt wird. Denn das Gesetz lässt eine Einstellung des Verfahrens zu, wenn es kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung gibt.

Als sich 2014 der Ethikrat des Themas annahm und mehrheitlich eine Lockerung des Verbots für erwachsene Geschwister vorschlug, sofern sie nicht mehr in der Familie leben, gab es jedoch wieder heftige Kritik. Auf die Frage, ob in der Folge auch freiwilliger Geschlechtsverkehr zwischen Eltern und einem erwachsenen Kind straffrei bleiben müsse, sobald das Kind außer Haus lebe, antwortete Ratsmitglied und Psychologe Michael Wunder, dass es „kein logisches Argument gibt, diesen unter Strafe zu stellen“.

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