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In den Alpen wird es eng für Mensch und Natur

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Eine Schneeschuhwanderin auf einem Bergkamm.
Rangerin Deniz Göcen auf Streife in den Ammergauer Alpen. © AMMERGAUER ALPEN GMBH

Die Ammergauer Alpen sind ein Hotspot für Tagesgäste. Im Winter, wenn die Wege im Schnee versinken, kommen sich Mensch und Wildtier in die Quere: Auf Streife mit einer Rangerin, die im Wald nach dem Rechten sieht.

Acht Uhr in der Frühe. Draußen hat es zapfige 16 Grad minus, über Schnee – und der liegt reichlich – wird es kalt. Die Sonne macht sich gerade auf zu klettern, aber es herrscht Hochwinter, wo manche Täler lange im Schatten bleiben. Heute ist ein Sonnen-Sonntag – Anlass zur Freude, oder eben auch zur Besorgnis: Es geht wieder los …

„Mach mit deinem Hund Suchspiele, lass ihn deinen verlorenen Handschuh apportieren.“
„Mach mit deinem Hund Suchspiele, lass ihn deinen verlorenen Handschuh apportieren.“ © Nicola Förg

Deniz Göcen, Rangerin im Naturpark Ammergauer Alpen, beginnt ihre Tour. Ihr erster Stopp: Der Altherrenweg in Oberammergau. Eine junge Frau ist gerade dabei, ihre Schneeschuhe anzulegen. Die sehen brandneu aus. Sie will durchs Wildschutzgebiet Richtung Aufacker gehen. „Hei, du willst ’ne Tour machen?“, ruft Deniz. Das Mädchen nickt. „Ich will ja nicht der Spielverderber sein, aber wenn du genau hinschaust, kannst du viele Spuren der Wildtiere wie Hirsche, Füchse, Rehe oder Gämsen sehen. Wenn die flüchten müssen, dann ist das so, als wenn ein Marathonläufer völlig unaufgewärmt losrennen würde, mit eiskalten Füßen! Dem Hirsch geht es genauso. Er ist im Winter-Sparmodus, hat auch kalte Füße und braucht ungeheure Energiereserven, die er im Winter aber nicht hat! Wenn du längst daheim bist, stirbt er. Willst du das?“, fragt Deniz.

Ein Wildschutzgebiet ist tabu

Die junge Frau wirkt ehrlich betroffen. Dabei wollte sie nur an die Luft, was Gesundes für sich selbst tun – ein legitimer Wunsch, aber eben nicht überall und querfeldein. „Schau“, erklärt Deniz, „ein Wildschutzgebiet ist tabu!“ Sie reicht ihr Fernglas weiter. Zu sehen ist Rotwild, das im Steilhang scharrt. „Sind die nicht schön?“ Ein Nicken. „Manchmal muss man sich über den Verzicht freuen“, sagt Deniz und gibt der jungen Frau eine Winterwanderkarte. Die bedankt sich und marschiert nun auf dem Weg weiter. Ob sie dort bleibt, wenn sie aus dem Sichtfeld ist?

Was macht die Rangerin, wenn ein Rüpel einfach weitergeht?

Deniz wiegt den Kopf hin und her. „In dem Fall glaube ich das schon. Ich verweise natürlich auch darauf, dass das Betreten eines amtlichen Wildschutzgebiets eine ernsthafte Ordnungswidrigkeit ist. Wer kooperativ ist, den schicke ich weiter. Ich muss aber auch mal die Polizei informieren.“ Deniz ist eine zierliche junge Frau, was macht sie, wenn ein Rüpel einfach weitergeht? „Dem erkläre ich: Ich folge dir.“ Und es sei allen gesagt, die die Rangerin nicht ernst nehmen: Sie meint das so – und jeder und jede ist definitiv schlechter zu Fuß als sie! Die studierte Geografin und Agrarwissenschaftlerin aus Ohlstadt arbeitet seit vier Jahren als Rangerin im Naturpark Ammergauer Alpen. Ihr Job lässt ja eher an bärtige und bullige Kanadier denken, weniger an ein so zierliches Persönchen, aber sie ist eine, die mal schnell 1000 Höhenmeter macht und nicht mal verstärkt atmen muss. Abschütteln zwecklos!

Es herrscht Lawinengefahr

Die junge Frau ist die erste Begegnung an diesem Tag, der ein strapaziöser werden wird. Denn es hat sich vieles gewandelt, auch verstärkt durch Corona. „Die Menschen haben das Umland neu entdeckt und auch das Wandern. Leider aber stellen sie Winterwandern mit einer sommerlichen Tour gleich.“ Der Beweis lässt nicht lange auf sich warten. Auf einem Parkplatz unweit von Linderhof steigt gerade eine Familie aus Starnberg aus, die Deniz auffällt: „Hei, was habt ihr vor?“ „Auf die Scheinbergspitze, soll ja der König des Graswangtals sein“, sagt der Familienvater. Ja, das ist der perfekt geformte Berg durchaus; und im Sommer ist das eine eher leichte Familientour, aber jetzt liegen zweieinhalb Meter Schnee. „Habt ihr ein Lawinenwarnset dabei?“, fragte Deniz. Kopfschütteln und Blicke, die besagen, dass man nicht so genau weiß, was ein Lawinenwarnset ist. „Wir wollen ja nur Winterwandern“, sagt der Mann in genervtem Tonfall. Gut, die beiden Kinder sehen nicht so aus, als wollten sie das unbedingt. Deniz gibt wieder die Erklärbärin. „Es herrscht Lawinengefahr, ihr begebt euch in Lebensgefahr und andere auch.“ Aber die Familie beharrt auf ihrem Vorhaben. Marschiert los. Deniz ist vergleichsweise entspannt. „Zum einen bin ich nicht die Polizei, ich kann sie nicht aufhalten. Zum anderen sind die in 20 Minuten wieder da.“

„Wenn wir bei Outdoor Active eine eingestellte Tour, die einen Schutzraum touchiert, anmahnen, dann nehmen die sie auch raus.“ 

Deniz Göcen

Es sind nur 18. Natürlich, denn der Schnee ist meterhoch, keiner pflügt länger durch hüfthohes Weiß, das gar nicht überall so fluffig ist, teil harschig und vom Wind verpresst. Sie fahren grußlos ab. „Das größte Problem der vergangenen zwei Winter war wirklich, dass die Gäste glauben, man könne im Winter wandern wie im Sommer. Sie verwenden Sommerkarten mit Sommerrouten! Aber selbst Forstwege sind dann zugeschneit, es herrscht der Irrglaube, überall sei geräumt. Warum denn?“, sagt Deniz. Die Outdoor-Plattformen im Internet spielen dabei eine gewichtige Rolle. Einige arbeiten inzwischen mit den Akteuren vor Ort zusammen. „Wenn wir bei Outdoor Active eine eingestellte Tour, die einen Schutzraum touchiert, anmahnen, dann nehmen die sie auch raus“, sagt Deniz. Es sind kleine Schritte. Der Naturpark hat Wege „entschildert“, hat Touren rausgenommen, will Wege extensivieren und hochsensible Räume beruhigen. Der Kleine Aufacker zum Beispiel ist seitdem im Winter gar nicht mehr planbar, aber es gibt eben auch Plattformen wie Komoot, die noch gar keine Winterkarten haben! „Das Schwierigste ist, dass die Leute nicht vorbereitet sind. Nichts geplant haben. Es ist der Tag X, es scheint die Sonne, nun muss das Bergerlebnis her. Wie Drogenabhängige!“ Gegen alle Vernunft, gegen die Gegebenheiten vor Ort. „Wir haben extra Winterkarten ins Netz gestellt. Da ist ersichtlich: Wo ist geräumt? Wo ist Lawinengefahr? Man braucht einen Plan B. Aber es ist dieses sture Beharren auf dem: Ich will das hier und jetzt.“

Die Parkplätze sind bei Schnee viel kleiner als im Sommer

Der Plan B wäre auch gut wegen des zweiten gravierenden Problems schöner Wochenenden. Es liegt Schnee, jawoll, und der muss, um Straßen und Parkplätze freizuhalten, von Räumfahrzeugen entfernt werden. Und dabei löst er sich nicht in Luft auf. Er dräut in Wächten an den Straßen, die Parkplätze sind weit kleiner als im Sommer, weil die Schneefräse das Weiß, aus dem die Wochenendträume sind, irgendwohin blasen muss.

Inzwischen ist es halb zwölf geworden, an der Straße durchs Graswangtal parken Autos wild am Straßenrand. Genau genommen ist sie jetzt nur noch einspurig mit kleinen Wagen befahrbar. Wenn etwas passiert, kommen keine Rettungsfahrzeuge mehr durch, bei einem Bergunfall entscheiden aber Minuten über Leben und Tod!

Die Polizei verteilt Strafzettel

Die Polizei ist auch vor Ort, verteilt Strafzettel, wird jetzt vorne am Eingang ins Tal absperren. So wie sie das am Eibsee den halben Sommer tat, weil der See nicht zuletzt durch die Instagram-Community zum Hotspot wurde. „Wir müssen auf den großen Plattformen ein Bewusstsein generieren, dass es gut ist, manches nicht zu tun. Den Influencern sagen, dass sie etwas nicht posten sollen“, sagt Deniz.

„Schau, das ist tabu.“ Deniz Göcen
„Schau, das ist tabu.“ Deniz Göcen © Nicola Förg

Weiter geht ihre Tour. Die Scheinbergspitze, auch ein beliebter Skitourenberg, beschäftigt sie erneut. Diesmal sind es Schneeschuhgänger. Die versacken nicht im Schnee und können – oder wollen – mit einem „Waldwildschongebiet“ nichts anfangen. Diese gibt es schon seit den 90er Jahren und seither arbeiten Regionen und auch der Deutsche Alpenverein daran, umweltverträgliche Aufstiegsrouten und Abfahrten für Skitourengeher auszuarbeiten. Für die Tiere, für die Natur. Im Herbst 2020 hat das Team Ammertal, das sich aus Freiwilligen rekrutiert, die Aufstiegsroute freigeschnitten und klar gekennzeichnet. „Wir schaffen Schonräume, wir bieten Alternativen an. Diese akzeptieren die meisten Tourengeher. Sie haben Piepser und Schaufel dabei, leider glauben aber Schneeschuhgänger, dass Lawinen nur Tourengeher verschütten. Dass Schilder nur für Skisportler gelten. Die Schneeschuhgeher sind die uneinsichtigste Klientel von allen.“

Raufußhühner sind Überlebenskünstler und trotzdem bedroht

Auch, weil sie uninformiert sind: Der Scheinberg ist auch Lebensraum der vom Aussterben bedrohten Raufußhühner, und nur wenn der Mensch in einer kanalisierten Route berechenbar ist, können die Tiere mit ihm leben – und überleben. Vergangenen Winter war die Rangerin oft stundenlang am Berg unterwegs, ermahnte Gäste, informierte und erklärte Regeln und Erfordernisse der Natur. Sie versucht immer, die Menschen bei ihrer Ehre und Tierliebe zu packen. „Überlegt mal, was Raufußhühner für Überlebenskünstler sind! Die ernähren sich im Winter nur noch von Nadeln und Knospen. Sie wurden aus dem Voralpenland durch Bejagung, Intensivierung der Landnutzung, Zersiedelung der Landschaft und auch den intensiven Freizeitbetrieb immer weiter in die Alpen hineingetrieben. Sie brauchen Übersicht. Sie leben als klassische Standvögel, wo Balzgebiet, Brutgebiet, Nahrungsflächen und Winterquartier beisammen sein müssen. Und der Tod nur eines Tieres kann wirklich das Aussterben einer ganze Art bedeuten!“

„Der Tod eines einzigen Tieres kann das Aussterben einer ganzen Art bedeuten.“
„Der Tod eines einzigen Tieres kann das Aussterben einer ganzen Art bedeuten.“ © AMMERGAUER ALPEN GMBH

Die Mehrheit der Tagesgäste sei einsichtig und freue sich sogar über solch neues Naturwissen, sagt Deniz. Doch es gibt auch Problemfälle, zum Beispiel manche Hundehalter:innen, die ihr Tier nicht unter Kontrolle haben. Zurück am Altherrenweg kommt ein freilaufender Hund auf Maja zugeschossen, der Besitzer weit weg. Maja ist Deniz’ Hündin, ein extrem gut erzogenes Tier, das trotz seiner Abrufbarkeit an der Schleppleine läuft. Denn der lauffreudige Podenco-Mix, der schon in der Tötung saß, soll auch ein Vorbild sein. Deniz spricht den Halter an, der lange nach seinem Hund angelaufen kommt. „Du, dein Hund ist nicht mehr in deinem Einflussbereich. Wir sind hier nahe an einem Wildschutzgebiet.“ Der Mann schaut genervt: „Aber der Hund muss doch auch mal Spaß haben, ich seh’ hier keine Wildtiere.“

Die Rangerin droht mit Bußgeld

So was hört Deniz ständig, und sie kontert stets freundlich, fundiert und doch mit Nachdruck. Sie erklärt ihm die Folgen, die sie der jungen Frau am Morgen auch schon beschrieben hat. Doch der Mann wirkt aggressiv. Deniz setzt nach. „Mach mit deinem Hund Suchspiele, lass ihn deinen verlorenen Handschuh apportieren.“ Maja macht es vor, die lange Schleppleine lässt viel Spielraum. Manchmal gibt Deniz auch Adressen von Hundeschulen weiter. Ob sie diesen Mann erreicht hat, ist zweifelhaft. Die Rangerin droht mit Bußgeld, er leint den Hund an. Corona hat den Konflikt um die Nutzung der Natur verschärft: Mehr Menschen haben sich Hunde angeschafft, bewegen sich mit ihnen in sensiblen Bereichen und haben wenig Unrechtsbewusstsein.

Und so gibt es eben auch Tage, da muss das Nein der Rangerin lauter werden, da kann sie nur zum Plan B raten, auch wenn der aus einer gemütlichen Wanderung um den romantischen Bad Baiersoiener See besteht. „Die Uniform hilft ungeheuer. Der Hut auch“, lacht sie. Den Hut hat sie im Winter, wenn es zu kalt ist, nicht auf, aber man darf ihr trotzdem glauben. Und mehr noch: Alles, was Deniz sagt, gilt auch für andere Gebiete, in denen keine sympathische Rangerin auf Streife unterwegs ist, um den touristischen Ansturm zu ordnen.

20 Prozent mehr Tagesgäste

In den vergangenen Jahren kamen 20 Prozent mehr Tagesgäste als früher in die bayerischen Alpen, sie reisen inzwischen bis aus dem Großraum Nürnberg an. Die gute Erreichbarkeit bedingt die Sonderstellung als Hotspot, auch wenn es sich nur um einen kleinen Teil des Gebirgsmassivs handelt. Die Alpen erstrecken sich schließlich über eine Fläche von rund 190 000 Quadratkilometern, verteilt auf sieben Staaten. Für Europa sind sie in erster Linie Wasserlieferanten, Energieerzeuger, bringen landwirtschaftliche Produkte hervor und sind erst in zweiter Linie Erholungsraum. Und sie sind höchst fragil. Doch es gibt Menschen wie Deniz Göcen, die den unbedingten Willen haben, zu ihrem Schutz beizutragen: Jeden Tag aufs Neue versuchen sie, im Kleinen Großes zu erreichen.

Infos über Wege, Winterschutzgebiete und wie man naturverträglich unterwegs sein kann, gibt es unter: www.naturpark-ammergauer-alpen.de

Bestsellerautorin Nicola Förg schreibt Reiseführer, Reportagen, Krimis und Romane.
Bestsellerautorin Nicola Förg schreibt Reiseführer, Reportagen, Krimis und Romane. Am 24. Februar erscheint „Hohe Wogen“, Band 13 ihrer Alpen-Krimireihe, im Piper Verlag. © Florian Deventer

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