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Das Ende des Aztekenreichs: Der Beginn unseres Zeitalters

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Die Einnahme von Tenochtitlan als Buchillustration.
Die Einnahme von Tenochtitlan als Buchillustration. © imago images / United Archives

Vor 500 Jahren wurde Tenochtitlan zerstört, die Hauptstadt des Aztekenreiches.

Im August 1521 brannte Tenochtitlan. Die spanischen Eroberer unter ihrem Anführer Hernán Cortés de Monroy y Pizarro Altamirano (1485–1547) zerstörten die Hauptstadt des Aztekenreiches. Sie war damals eine der größten Städte der Welt. Ins Wasser eines von Gebirgszügen umgebenen Sees gebaut, erschien sie den Europäern als ein gigantisch vergrößertes Venedig.

Wer seinen Bericht an den spanischen König und den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Karl V., heute liest, dem teilt sich noch immer mit, wie beeindruckt, ja überwältigt Hernán Cortés von der Stadt Montezumas II. – von 1502 bis 1520 der Herrscher der Azteken – war. Seitenlang beschreibt der Spanier Gebäude, Menschen, vor allem aber den Handel, den Verkehr und die Waren. Er ist in ein Schlaraffenland gefallen. Ein Hinterwäldler in einem Supermarkt. Tenochtitlan ist eine wunderbar organisierte Konsumgesellschaft.

Begeistert berichtet Cortés davon, dass auf allen Märkten der Stadt Beamte dafür sorgen, dass niemand mit den Gewichten schwindelt, dass alles korrekt zugeht. Jedes Handwerk hat seine eigene Straße. Alles ist übersichtlich und sauber.

Vor allem aber ist Cortés hingerissen von der Schönheit der Stadt. Wasser und Blumen überall. Tempel, die höher sind als die Kathedrale von Sevilla. Und davon viele. Wer heute auf dem Hauptplatz von Mexiko City, dem Zócalo, steht und auf den Palacio Nacional, den Regierungspalast, blickt, der ist nur ein paar Schritte entfernt vom ehemaligen Haupttempel der Stadt. Archäologen sind damit beschäftigt, ihn auszugraben.

Das Aztekenreich war prächtiger und besser organisiert als irgendetwas, das Hérnan Cortés zuvor gesehen hatte. Er ist voller Bewunderung. Man liest das heute und fragt sich: Warum hat er es vernichten wollen? Die einzige mir sinnvoll erscheinende Antwort ist: darum. Die offensichtliche Überlegenheit der aztekischen Kultur reizte ihn.

Er und seine etwa 300 Leute setzten damit die Tradition fort, mit der die christlichen Spanier bereits der islamischen Kultur auf der iberischen Halbinsel den Garaus gemacht hatten. Sie und ihre Väter hatten Erfahrung darin, blühende Städte zu zerstören. Je großartiger diese Orte waren, desto ruhmreicher war es auch, sie einzunehmen oder gar dem Erdboden gleich zu machen. „Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust“, formulierte Jahrhunderte später Michail Bakunin. Diese Lust trieb nicht nur die Konquistadoren an. Sie ist eine der Triebkräfte der Weltgeschichte.

Als Cortés nach Tenochtitlan kam, kam er nicht allein. Er kam mit Tausenden einheimischen Hilfstruppen, mit Alliierten. Die Azteken herrschten erst seit einhundert Jahren über das mexikanische Hochland. Sie hatten nie aufgehört, sich andere Volksgruppen zu unterwerfen. Sie machten auch Gefangene, um sie in festlichen Ritualen den Göttern zu opfern. Manche der unterworfenen Populationen gliederten sie ein in ihr Reich, andere blieben selbstständig, hatten aber Tribute zu entrichten. Der aztekische Staat lebte von der ständigen Ausbreitung seines Herrschaftsgebietes. Er war also nicht nur umgeben von Feinden, sondern sie lebten, da er sie sich einverleibt hatte, auch in seinem Innern. Und sahen in den Spaniern ihre Chance. Der Sieg über die Azteken war ganz wesentlich ihr Sieg. Bis die Spanier auch sie besiegten, das zog sich noch ein paar Jahrzehnte hin. Es gab noch hundert Jahre später indianische Aufstände gegen die spanischen Machthaber.

Die Eroberung Mexikos ist nicht die Geschichte einiger Spanier, die auf Pferden reitend und überlegen bewaffnet von den Einheimischen als heimgekehrte Götter empfangen werden, um sich sodann ein riesiges, ihnen weit überlegenes Reich im Laufe weniger Monate zu unterwerfen. Das ist die Legende, die von Cortés erfunden, von vielen Historikern verbreitet und immer weiter ausgeschmückt wurde.

Bis hin zu William Hickling Prescott, dem amerikanischen Historiker, der 1843 in drei Bänden die „Geschichte der Eroberung Mexikos“ veröffentlichte, in der er Cortés’ Unternehmen als romantisches Abenteuer darstellte. In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts las ich voller Begeisterung das Werk in einer für Jugendliche zubereiteten Fassung. Auf dem Teppich im Wohnzimmer unserer Wohnung stellte ich mit Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren die wichtigsten Schlachten nach.

Ich weiß nicht mehr, ob Malinche (wohl 1505 bis 1529), in meinen vorpubertären Fantasien eine Rolle spielte. Cortés nannte sie in seinen Berichten an Karl V. stets „Doña Marina“. Sie ist eine Ausnahmeerscheinung. Nirgendwo sonst in der Geschichte der europäischen Eroberungen wird von der einheimischen Geliebten des Konquistadors mit solcher Achtung gesprochen. Malinche war Dolmetscherin und Beraterin der Spanier. Ohne sie wäre es ihnen nicht gelungen, Bündnisse mit so vielen Gegnern der Azteken zu schließen.

In vielen zeitgenössischen Abbildungen kommt sie vor. Man sieht sie zum Beispiel bei Verhandlungen zwischen Cortés und Montezuma II., wie sie bei den beiden steht. Malinche, die Christin wurde, dient heute im mexikanischen Selbstbild als Beleg für die Möglichkeit einer Symbiose von Spanien und Westindien.

Die Zerstörung Tenochtitlans war der Anfang der Entstehung der einen Welt. Spanier und Portugiesen waren aufgebrochen, um direkt mit Indien und China in Kontakt zu treten. Zwischen diesen für Luxusgüter von Gewürzen bis Seide unverzichtbaren Lieferanten lagen muslimische Staaten, die „Zölle“ verlangten. Das war schon eine Verbesserung gegenüber dem Zustand, als das von Marco Polo besuchte mongolische euroasiatische Reich wie ein einziger großer Riegel den Festlandsverkehr mit Indien und China versperrte. Als bald darauf die christlichen Spanier die fast 800 Jahre lange muslimische Herrschaft abwarfen, war das für viele ein Zeichen, dass Gott den Krieg gegen die Muslime unterstützte.

Portugiesische und spanische Seefahrer wandten sich dem Atlantik zu und suchten, nachdem sie lange die afrikanische Küste entlanggefahren waren, nach Möglichkeiten, in einem gewaltigen Bogen die offenbar omnipräsenten Muslime zu umschiffen. Der französische Lateinamerikanist Serge Gruzinski beschreibt in seinem beeindruckenden Buch „Drache und Federschlange“, wie der Versuch der Portugiesen, sich China zu unterwerfen scheiterte, während die Spanier in denselben Jahren in Mexiko erfolgreich waren. Das sind die ersten Momente wirklich globaler Politiken.

Als dann von 1545 an die schon von den Inkas ausgebeutete Silbermine Potosí im damaligen Vizekönigtum Peru ihren Reichtum in spanische Kassen spülte, gab es kein Halten mehr. Das Silber war fast das einzige, mit dem die Europäer auf den Märkten Indiens und Chinas trumpfen konnten. An europäischen Handwerksprodukten hatten die Asiaten kein Interesse. Das Silber ging jetzt diesen Weg: Von den amerikanischen Vizekönigreichen nach Spanien, von dort nach China. Das war der offizielle Weg. Aber natürlich war der Anreiz, auf Spanien zu verzichten, enorm. So entstand ein illegaler Handel, der die Vizekönigreiche bald reicher werden ließ als das Mutterland.

Es gab um die Herrschaftsrechte nicht nur Machtkämpfe, sondern auch juristische Auseinandersetzungen. Der Papst hatte in verschiedenen Regelungen seit 1479 immer wieder den spanischen und den portugiesischen Herrschaftsbereich in den neu entdeckten Gebieten des fernen Westens festgelegt. Niemand war so recht zufrieden damit. Die spanische Krone wollte nicht angewiesen sein auf päpstliche Erlasse. Es kam zu raffinierten Debatten darüber, ob man einfach erobern durfte, was man entdeckte, oder ob es besonderer Vorkommnisse brauchte, um eine Intervention zu rechtfertigen. Kannibalismus war ein gern gebrauchtes Argument für einen humanitären Einsatz. Noch beliebter waren historische Konstruktionen, die zum Beispiel belegen sollten, dass die Spanier in den neuen Ländern als Heimkehrer betrachtet wurden. Cortés’ Schilderung, sie seien als wiederkehrende Götter begrüßt worden, war eine solche Konstruktion.

Nicht nur Cortés’ Kinder klagten gegen die Krone – es ging um die Frage, wem die neuen Länder künftig gehören sollten. Während die einen noch vor die Gerichte zogen, erklärte 1584 Königin Elisabeth I von England ihrem Konquistador Walter Raleigh, er und seine Nachfahren könnten die von ihnen „entdeckten fernen Länder frei ausbeuten, sofern sie nicht einem christlichen Fürsten unterstehen oder von einem christlichen Volk bewohnt werden“.

Eroberer war ein neuer Beruf. Er war privatwirtschaftlich organisiert. Allerdings angewiesen auf große, meist staatliche Subventionen. Viele tausend Konquistadoren wird es im 16. Jahrhundert gegeben haben. Die meisten von ihnen scheiterten. Aber sie waren die ersten „global players“. In Spanien kamen sie meist aus dem niederen Adel und hatten zu Hause kaum Einkommen. Eroberer war ein Beruf für Leute, die wenig zu verlieren hatten. Aber eben auch viel zu gewinnen. Noch heute kann man in winzigen kastilischen Dörfern riesige Kirchen besichtigen, die erfolgreiche Konquistadoren in ihren Heimatnestern erbauen ließen.

Die unterworfenen Territorien wurden oft zu Kolonien. In denen setzte sich die – euphemistisch gesagt – runtergedimmte Gesetzlichkeit der Eroberung fort. Kolonialherr war ein Job, in dem man Beamter und Verbrecher gleichzeitig nicht nur sein konnte, sondern sein musste. Die europäische Mentalität – das in sie eingebrannte lächerliche Überlegenheitsgefühl – wurde in den Kolonien geschmiedet.

In der Auseinandersetzung damit entstand freilich auch die Einsicht von der Einheit des Menschengeschlechts. Die Konquistadoren waren überall auf Menschen gestoßen, mit denen Verständigung möglich war. Es war nicht zu übersehen, wie ähnlich sie sich alle waren.

Und noch etwas war wichtig in diesem Prozess. Die Entdeckungen stellten die biblische Überlieferung in Frage. Es begannen Auseinandersetzungen darüber, ob es sich bei manchen der „entdeckten“ Völker um so etwas wie eine präadamitische Menschheit handeln könnte. Jedenfalls war die Ableitung aus der Geschlechterfolge von Adam bis Abraham kaum zu schaffen.

Kaum sah man die ganze Menschheit, wurde die biblische Konstruktion der Weltgeschichte in den Augen vieler zu einer Provinziallegende. Die erste Globalisierung erfand sich sofort neue Geschichten. Der Portugiese António Galvão (1490–1557) war unter anderem Gouverneur auf den Molukken. Die Chinesen, so fand er, hatten Amerika entdeckt und besiedelt. Davon hatte ihn die physiognomische Ähnlichkeit überzeugt. Der Augenschein wird wichtiger als die Buchweisheit. Wir sind in der Moderne angekommen.

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