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Svenja Flaßpöhler: „Es gibt eine zunehmende Feigheit“

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Großer Reiz, Kant und Hegel zu verstehen: Die Philosophin Svenja Flaßpöhler, hier auf der phil.cologne.
Großer Reiz, Kant und Hegel zu verstehen: Die Philosophin Svenja Flaßpöhler, hier auf der phil.cologne. © picture alliance / Geisler

Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“, über die derzeitige Debattenkultur und die erfolgreiche Vermittlung von Philosophie in Krisenzeiten.

Frau Flaßpöhler, vor zehn Jahren hieß es, zwei philosophische Magazine wollen die Lust am Denken wecken, darunter das „Philosophie Magazin“ und das Magazin „Hohe Luft“. Letzteres erscheint nicht mehr, auch „Information Philosophie“ wurde eingestellt. Neigt sich die Zeit philosophischer Magazine dem Ende entgegen?

Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Gerade in Krisenzeiten ist die Philosophie gefragt. Das Interesse steigt ja eher, das zeigen auch die Erfolge von Philosophie- Festivals wie der phil.cologne. Und als wir vor zehn Jahren das „Philosophie Magazin“ in Deutschland gegründet haben, waren wir zwei festangestellte Redakteure. Jetzt sind wir fünf. In diesem Jahr bieten wir erstmals zusätzlich zum regulären Heft drei statt zwei Sonderausgaben an, plus unserer Edition. Natürlich stehen Zeitschriften im Moment vor großen Herausforderungen, so wie der ganze Printsektor. Daran hat die Pandemie ihren Anteil, die Kioskverkäufe gehen flächendeckend zurück, die Kosten von Papier und Druck sind gestiegen etc.. Es ist aber so, dass wir uns im Vergleich zu anderen Zeitschriften als ziemlich resilient erwiesen haben. Der Verkaufsrückgang am Kiosk ist in unserem Fall verhältnismäßig gering; trotzdem versuchen wir, unabhängiger davon zu werden und mehr Abonnenten zu gewinnen.

Mit Erfolg?

Ja. Innerhalb der letzten drei Jahre konnten wir unsere Abonnenten-Zahl um 20 Prozent steigern. Wir liegen jetzt bei 12 000 Abonnenten. Insgesamt haben wir eine verkaufte Auflage von 25 000 Heften. Das liegt auch daran, dass wir uns weiterentwickelt haben, etwa durch den Launch unserer Webseite philomag.de, auf der wir täglich philosophische Denkanstöße zu tagesaktuellen Themen veröffentlichen und so auch ein jüngeres Publikum erreichen. Und 2018 haben wir das Heft inhaltlich und visuell stark überarbeitet. Für das Layout konnten wir die renommierte Kölner Agentur „Meiré und Meiré“ gewinnen, die das Heft zugänglicher, frischer, jünger gemacht hat. Durch die neue Rubrik „Arena“ geben wir der Debattenkultur und dem Streit mehr Raum. Am Erfolg des „Philosophie Magazin“ zeigt sich, dass die Menschen sich für ganz grundlegende Fragen interessieren. Und auf die werden wir gerade in schweren Zeiten verstärkt zurückgeworfen. Das gilt für unser eigenes Leben, aber auch politisch.

Was meinen Sie konkret?

Die Pandemie hat uns in große Unsicherheit gestürzt, jetzt herrscht seit einem Jahr Krieg in der Ukraine. Als „Philosophie Magazin“ fragen wir: Wie umgehen mit Ungewissheit? Was darf ich hoffen? Wohin steuert die Geschichte? Kann ich glücklich sein in einer schlechten Welt? Über viele Themen, etwa Krieg oder den Umgang mit Tod, haben Philosophen schon immer nachgedacht. Unser Anspruch ist, den Schatz der Philosophiegeschichte für das Verständnis der Gegenwart – und auch eine lohnende Zukunft! – fruchtbar zu machen.

Wer auf die Webseite der „Hohe Luft“ geht, wird nun auf philomag.de weitergeleitet. Was bedeutet das für die Abo-Leserschaft von „Hohe Luft“ – dass sie nun das „Philosophie Magazin“ erhalten? Und was bedeutet das für Ihr Magazin?

Für uns heißt das, dass wir eine noch größere Verantwortung haben, die wir sehr gerne annehmen. Die Philosophie hat ja eine sehr wichtige Aufgabe. Sie soll aufklären, Menschen befähigen, eigene Urteile zu bilden. Diese Aufgabe nehmen wir sehr ernst, zumal jetzt, da die Demokratie schwer unter Druck steht. Ohne Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger kann es keine funktionierende Demokratie geben.

Viele Tageszeitungen und Wochenzeitungen – wie etwa „Die Zeit“ – greifen Philosophie auf und haben eigene Seiten dazu. Ist das Konkurrenz für das „Philosophie Magazin“?

Ich empfinde das nicht als Konkurrenz, sondern eher als ein Zeichen dafür, dass wir in einer sehr philosophischen Zeit leben. Und was andere nur am Rande machen können, ist unser Markenkern. Wir wollen Orientierung geben in komplexen Zeiten, und natürlich wollen wir auch Philosophie vermitteln. Dafür haben wir unsere Klassiker-Dossiers und unsere Sonderausgaben über Camus, Nietzsche, die Kritische Theorie, Kant, Hegel ... Im Heft werden noch die kompliziertesten Denker und Denkschulen sehr verständlich erklärt. Übrigens ist es sehr hilfreich, dass wir ein französisches Pendant haben: Das „Philosophie Magazine“. Die Redaktion sitzt in Paris. Oft bietet es sich an, Projekte gemeinsam anzugehen. Zusammen sind wir die mit Abstand größte philosophische Redaktion Europas.

Wer sind die philosophisch Interessierten, die das Magazin kaufen?

Das ist sehr heterogen. Da ist der Zahnarzt in München, die Studentin in Berlin, die Lehrerin in Paderborn ... All die, die an philosophischen Perspektiven auf aktuelle Themen und Debatten interessiert sind, werden bei uns fündig. Nehmen wir die gesellschaftliche Polarisierung, das komplette Aneinander-vorbei-Reden von Gruppen, die zum Teil ganz andere Sprachspiele spielen. Wir fragen uns dann zum Beispiel: Was heißt es, einander zu verstehen? Ist das überhaupt möglich, und wenn ja, inwiefern? Mit diesen Fragen – die ja auch existenziell interessant sind, etwa in Partnerschaften – steckt man tief in der Hermeneutik, einer Kerndisziplin innerhalb der Philosophie, die von Schleiermacher, Dilthey, Gadamer beackert wurde. Diese Denker haben uns noch heute eine Menge zu sagen.

Platon, Aristoteles lebten in einer krisenhaften Zeit, Kant wirkte vor und in der Französischen Revolution, die Kritische Theorie in Frankfurt wurde in den 1960er Jahren breit rezipiert …

Oder denken Sie an die 1920er Jahre, die Zeit zwischen den Weltkriegen, da blühte die Philosophie regelrecht auf. Katastrophen und Leid sind schrecklich, aber sie bringen großes Denken hervor, weil alles erschüttert wird.

Zur Person

Svenja Flaßpöhler ist Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“. Zudem leitete sie gemeinsam mit Wolfram Eilenberger, Gert Scobel und Jürgen Wiebicke das Programm der Phil.cologne. Von 2016 bis 2017 war Flaßpöhler leitende Redakteurin für Literatur und Geisteswissenschaften bei Deutschlandfunk Kultur. Von 2011 bis 2016 arbeitete sie in der Funktion der stellvertrenden Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“. Seit 2018 ist sie Chefredakteurin.

Zu ihren Publikationen zählt die Streitschrift „Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit“ (Ullstein 2018).

2021 erschien „Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenze des Zumutbaren“ (Klett-Cotta).

Ist die Zeit der großen Denker nicht eher vorüber? Kann es sie überhaupt noch geben angesichts der Entwicklung der Philosophie?

Ach, ich finde die Klage, dass unsere Zeit nichts Neues hervorbringt, ziemlich fragwürdig. Ich bin lieber neugierig. Der Frankfurter Philosoph Christoph Menke hat gerade ein sehr faszinierendes Buch herausgebracht, „Theorie der Befreiung“. Er fragt sich, welche Rolle die innere Knechtschaft spielt und inwiefern es ästhetische Erfahrungen sind, die uns aus Strukturen und Gewohnheiten befreien. Ich bin elektrisiert, wenn ich das lese. Außerdem zeigt sich ja nicht unbedingt sofort, wer ein großer Denker, eine große Denkerin ist. Walter Benjamin zum Beispiel war zu Lebzeiten ziemlich unbedeutend, gerade weil er eine für seine Zeit so außergewöhnliche Philosophie hervorgebracht hat.

Philosophische Texte gelten als schwierig. Wie sollte Philosophie denn vermittelt werden?

Für uns ist entscheidend, dass wir Philosophie nie um ihrer selbst willen betreiben. Wir verlieren uns nicht in der hunderttausendsten Kant-Interpretation. Wir sehen uns stattdessen um, was draußen im realen Leben passiert und versuchen, Phänomene mithilfe der Philosophie zu erklären und tiefer zu verstehen. Und wir merken sofort: Wenn die Philosophie konkret angebunden ist, wenn es eine konkrete Frage gibt, dann wird Philosophie auch greifbar. Aus diesem Grund ist es für uns auch wichtig, ganz normale Menschen vorzustellen, in ihrem Alltag. Unser aktuelles Heft fragt zum Beispiel: „Soll ich meiner Intuition folgen?“ Also haben wir eine Polizistin, einen Künstler, einen Mediziner, einen Mathematiker gefragt: Welche Rolle spielt die Intuition in Ihrer Tätigkeit? Es stellte sich zum Beispiel heraus, dass Intuition sehr viel mit Erfahrung zu tun hat. Die Erzählungen der Menschen haben wir dann von der Philosophin Christiane Voss kommentieren lassen. Das ist das Gegenteil von Abgehobenheit. Und das interessiert die Menschen.

Und was geht besonders gut?

An Titelfragen, meinen Sie? Wir verwenden viel Zeit darauf, sie zu finden. Man braucht eine Frage, die in das Herz des Zeitgeistes zielt. Am besten ist es, wenn sich das Existenzielle mit dem Politischen verbindet. Das Thema Freiheit zum Beispiel beschäftigt die Menschen sehr.

Wie ist es denn mit Sätzen und Gedanken von Philosophen, für die man sehr lange braucht, um sie zu verstehen? Nehmen wir Hegel, wenn er von der Identität der Identität und Nichtidentität spricht. Oder Kant, wenn er von der synthetischen Einheit der Apperzeption und ihrer Bedeutung für die Objektivität spricht. Besteht zur akademischen Philosophie ein gewisses Spannungsverhältnis?

Es liegt ein großer Reiz darin, Kant und Hegel zu verstehen. Im Heft haben wir extra ein Format entwickelt, um hochkomplizierte Sätze zu erklären: Die „Mission impossible“. Umso besser, wenn es Menschen gibt, die das mit leichter Hand leisten können. Ich gehöre nicht zu denen, die auf die akademische Philosophie schimpfen. Es sind viele Akademiker und Akademikerinnen in unserem Heft vertreten, und das sind alles Leute, die uns an ihrer Gedankenwelt teilhaben lassen können. Insofern lebt das „Philosophie Magazin“ von Denkerinnen und Denkern, die sich sehr gut mit Kant, Hegel oder Adorno auskennen, aber die die Beziehung zum Leben nicht verloren haben. Ich selbst versuche mir, wenn ich ein Heft konzipiere, immer jemanden als Leser vorzustellen, den ich persönlich kenne und der philosophisch interessiert ist, aber Kant noch nie gelesen hat und ihn auch nicht versteht. Für diese Person mache ich das Heft. Und dann gelingt es auch, komplizierte Gedanken einfach darzustellen.

Gibt es eine Distanz zur Analytischen Philosophie, die in Deutschland sehr verbreitet, aber umstritten ist?

Also, zunächst einmal: Nur weil etwas umstritten ist, habe ich keine Distanz dazu. Eher ist das Gegenteil der Fall. Das Umstrittene ist doch oft gerade das Interessante! Genau das ist unser Anspruch: Heikle Bereiche nicht auszusparen, sondern im Gegenteil zu schauen, wie sich durch Differenzierung für Klarheit sorgen lässt. Zur Analytischen Philosophie: Klar gibt es eine Form von analytischer Frickelei, die zu abgehoben ist und unsere Leser nicht wirklich interessiert. Aber die Analytische Philosophie ist ja ein sehr weites Feld, das auch hochspannende Denker wie Wittgenstein einschließt. Und wer möchte nicht gerne logisch denken lernen? Im aktuellen Heft ist übrigens auch ein analytischer Philosoph vertreten: Olaf L. Müller. Er hat ein sehr kluges, sehr differenziertes Buch über Pazifismus geschrieben. Im Heft diskutiert er mit dem Historiker Jörg Baberowski darüber, ob man heute noch Pazifist sein kann.

Wie ist es um die Debattenkultur bestellt? Hat sich da etwas in den vergangenen Jahre verändert? Sie selbst waren ja auch Teil von Auseinandersetzungen?

Die Debattenkultur ist extrem gereizt. Gleichzeitig gibt es eine zunehmende Feigheit. Anstatt zu differenzieren und offen über heikle Themen nachzudenken, redet man lieber so, dass man sich bloß nicht angreifbar macht. In dieser Hinsicht kann uns Sokrates wirklich ein Vorbild sein. Er war ein Skeptiker, der mutig Mehrheitsmeinungen und vermeintliche Gewissheiten hinterfragt und jeglicher Art von Dogma eine Absage erteilt hat. Stattdessen war er ein Meister des dialektischen Denkens, er hat sich für die andere Seite interessiert, die, die im Dunkeln liegt und von den meisten übersehen wird. Insofern kann man sagen: Das Sokratische Programm ist auch unser Programm beim „Philosophie Magazin“. Zumal Sokrates ja nicht im Hinterstübchen, sondern auf dem Marktplatz philosophiert hat. Genau das wollen wir auch. Und wenn die Leserinnen und Leser nach der Lektüre sagen: Interessant. So habe ich das noch gar nicht gesehen! Dann haben wir unser Ziel erreicht.

Interview: Michael Hesse

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