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Ungelegte Eier – ein Oster-Spaziergang durch die Kulturgeschichte

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Auch wenn das Ei nicht gelegt worden ist, kann daraus einiges entstanden sein. Und wenn es bloß Kopfzerbrechen ist.
Auch wenn die Eier nicht gelegt worden sind, kann daraus einiges entstanden sein. Und wenn es bloß Kopfzerbrechen ist. © imago/Niehoff

Dinge, die nie kamen, obwohl so viele an sie geglaubt haben: Zu Ostern ein Spaziergang durch die Kulturgeschichte der Pläne und Ideen, die im Kopf steckenblieben – nicht immer ist das ein Nachteil.

Die Weltrevolution

Jeden Morgen saß Karl Marx im Schlafrock in der Küche, um die neuesten Nachrichten zu studieren. Seit 1849 hatte es schon keine Revolution mehr in Europa gegeben. Die nächste müsste eigentlich unmittelbar vor der Tür stehen. Marx studierte deshalb umso aufmerksamer die Zeilen der englischen Zeitungen, registrierte Unruhen in verschiedenen Ländern wie Russland oder Bulgarien sowie anderen Teilen Europas. Russland wird es sein, dachte er sich, das könnte zumindest etwas werden. Engels musste her. Mit ihm würde er rausbekommen, wo genügend Funken für das große Feuer der Revolution fliegen könnten, schließlich war Engels „quick im Schreiben und Begreifen, wie der Teufel“.

Dass es irgendwann zum Umsturz kommen würde, auch Gewalt wurde von ihm gebilligt, war unzweifelhaft. Schließlich hatte er, Karl Marx, dieser Frage fast sein gesamtes Leben gewidmet. Was er zu Pariser Zeiten an Aufsätzen zur politischen Ökonomie geschrieben hatte, wurde weiter und weiter verdichtet, bis, ja bis „Das Kapital“ das Licht der Welt erblickte. Der erste Band wurde von den 1870er Jahren an gefeiert, auch nach Russland gingen 3000 Exemplare, die sich äußerst gut verkauften, was Marx überraschte.

Seine weiteren Schriften zum Kapital blieben indes ein unfertiges, voller Vorläufigkeiten steckendes Sammelsurium brillanter Gedanken und systematisierter Einsichten. Das, was Marx an Notwendigkeit mit viel Mühsal aus dem Lauf der Geschichte herausgeklaubt hatte, sollte zu seinen Lebzeiten niemals eintreten. Die von ihm erhoffte kommunistische Revolution fand erst 1917 in Russland statt. Ein Land, das für ihn Feindesland war. Sein Argwohn bezog sich nicht allein auf das unterdrückerische und von ihm verhasste Zarenregime, es schloss, so sein Biograf Jonathan Sperber, „sogar russische Revolutionäre ein“. Marx träumte von einer manichäischen Schlacht zwischen Emanzipation und Reaktion, so der Marx-Experte Gareth Stedman Jones.

Das Kapital weiterzuschreiben, dazu fehlte Marx die Struktur, erst sein Freund und Geldgeber Engels gab die losen umherfliegenden Blätter postum heraus. Die Unordnung jedoch war nicht das Problem: „Er liest sehr viel“, sagte sein Freund Arnold Ruge schon 1844, „er arbeitet mit ungeheurer Intensität und hat ein kritisches Talent ..., aber er vollendet nichts, er bricht überall ab und stürzt sich immer von neuem in ein endloses Büchermeer.“ Mit der Tendenz, nichts richtig fertigzukriegen, war Marx in der Geschichte der Philosophie keineswegs allein. (Michael Hesse)

Die Philosophie

Auch die Philosophie-Geschichte kennt die ungelegten Eier. Man denke an Martin Heidegger. 1927 erschien sein Werk „Sein und Zeit“, das alle philosophisch interessierten Köpfe in seinen Bann zog. Heidegger attackierte darin ungewöhnlich scharf die philosophischen Entwürfe seit den Griechen. Sie alle hätten das Sein in einer Zeitform ausgelegt, die er als „Anwesenheit“ bezeichnete. Das aber werde dem Sein nicht gerecht. Etwas kleinlaut gab er zu verstehen, dass sein Buch noch nicht ganz fertig sei, ein zweiter Teil mit dem Titel „Zeit und Sein“, wäre erst noch zu erwarten. Doch daraus wurde nichts. Schon seit 1929 verfolgte er ein anderes Denken, „Kehre“ nannte man das bei ihm. Zwar erschien noch eine Schrift mit dem Titel „Zeit und Sein“, doch dieses fußte auf völlig anderen Voraussetzungen als sein Denken in „Sein und Zeit“.

Dem von Heidegger so geschätzten Immanuel Kant ging es übrigens nicht anders. Er kündigte in der „Kritik der reinen Vernunft“ ein noch zu schreibendes „System der Vernunft“ an und erläuterte, was darin alles zu finden sein werde. Seine „Kritik“ sei da nur ein Vorläufer. Jahre später wollte er davon nichts mehr wissen. Die „Kritik der reinen Vernunft“ sei genau dieses gemeinte Werk, behauptete er plötzlich. Die sich daraus ergebene Aufregung hatte im Grunde eine geistige Revolution zur Folge: Denn nun machten sich Köpfe wie Fichte, Schelling oder Hegel ans Werk, um das Ei nun doch noch auszubrüten. Die Suche nach dem System wurde für sie zur Obsession.    (Michael Hesse)

Der Fall K.

Ein vielbeachtetes ungelegtes Ei ist Wolfgang Koeppens vierter Roman. Verleger Siegfried Unseld wird bereits Ende 1960 eine Spur nervös. Der Verlag habe ja nun „Vorleistungen ideeller und materieller Natur“ erbracht. 1961 (zum Suhrkamp-Herbstprogramm): „Ein gewisses Buch hätte sich sehr gut darein gefügt ...“ 1962 (zum Suhrkamp-Frühjahrsprogramm): „Ich hoffe, es war das letzte Programm, in dem der Name Koeppen nicht enthalten ist.“ 1963: „Ich brauche doch dringend den Titel des Buches, damit unser Grafiker schon spielen kann.“ 1964: „Ich kann nur hoffen, dass Sie wirklich an die Arbeit kommen.“ 1965: „Wie steht’s mit dem Manuskript?“ 1966: „Ich flehe Sie nochmals an, schreiben Sie, schreiben Sie.“ 1967: „Wir wollen jetzt also den 15. August fest im Auge behalten.“ 1969: „Ich warte gerne bis Mai, aber dann hoffe ich doch auf ein Manuskript.“ 1970: „Bitte, lieber Herr Koeppen, springen Sie über alle möglichen Schatten.“ Und so weiter. Erst im Verlaufe der 80er wird es stiller um das Thema.

Koeppen schreibt so viele Essays etc., dass die Gesamtausgabe 16 Bände umfasst. Und immer wieder darauf hingewiesen wird, dass es keinen Fall Koeppen gebe, nur einen deutschen Roman-Fetischismus. Zudem wurde immerhin ein spektakulärer Briefwechsel daraus, ulkig ausschließlich in der Verkürzung und für Koeppen gar nicht. Lesen Sie aber rechts im Abschnitt „Das Manuskript“, dass eine Schreibblockade ihr Gutes haben kann. (Judith von Sternburg)

Das Manuskript

In der Literatur gibt es auch die halb gelegten Eier: Man muss vorher schon durch einige Prachteier richtig berühmt geworden sein, damit ein noch als halb gelegt in der Schublade (heute: im Laptop) schlummerndes Manuskript posthum veröffentlicht wird.

Eine weitere Kategorie, vielleicht sogar die umfangreichste literarische Kategorie, sind die heimlich gelegten Eier, die höchstens der besten Freundin gezeigten Eier. Ein Liebesroman vielleicht, Gedichte in vielen Fällen, in der eigenen Sturm-und-Drang-Zeit geschrieben. Viele Menschen besitzen so viel Schamgefühl und Selbsterkenntnis, ihre Jugendlyrik keinem Verlag anzubieten, schon gar nicht 25 Verlagen. Irgendwann schüren sie die Seiten dann im Kachelofen ein. Wärme abgeben, das ist ein guter Verwendungszweck für heimlich gelegte Eier. Hin und wieder mag zwar auch ein Meisterwerk unter diesen wieder ins Stadium des Ungelegten versetzten Manuskripten sein, aber: Es gibt in der Literatur so viele großartige, fertiggestellte, veröffentlichte Eier, dass jede Leserin, jeder Leser sowieso mit dem Bewusstsein leben muss, fast 100 Prozent davon zu verpassen.

Es ist also auch nicht wirklich zu bedauern, dass so viele Ideen für fabelhafte Romane, hochspannende Krimis, so viele Anfangsstrophen für das beste Sonett oder Versepos aller Zeiten unausgeführt bleiben. Der zum Beispiel in einer schlaflosen Nacht ausgedachte Plan für einen Thriller (ein Symbol-Forscher erhält einen nächtlichen Anruf; ein Ermordeter hat sich mit seinem eigenen Blut ein Pentagramm auf den Bauch geschrieben; das kann nur eine Anspielung auf Da Vinci sein) ist allzu albern, um ernsthaft geschrieben zu werden.

Überhaupt erweisen mindestens 99,9 Prozent aller Vielleicht-Autorinnen und -Autoren, die ein Buch, über das sie nachdenken, am Ende ungeschrieben lassen, der Menschheit einen großen Dienst. Vor allem natürlich denjenigen, die in den Verlagen die unverlangt eingesandten Manuskripte beurteilen müssen. Und denen wegen Überlastung dann der nächste „Harry Potter“ durchrutscht. Aber auch die Kritikerin möchte einen Appell an die schreibinteressierte Welt richten: Die bisher ungelegten Eier dürfen gerne ungelegt bleiben.  (Sylvia Staude)

Der Museumsbesuch

Das Ungelegte ist in der Kunst eine eigene Kategorie. Was hätte nicht alles auf der Welt Tolles vollendet werden können, wenn die Zeit dagewesen wäre, mehr Material vorhanden, die Möglichkeiten andere gewesen wären? Wie hätten die Meisterwerke ausgesehen, wenn sie wirklich fertig geworden wären? Oder meinen Sie etwa, das, was im Museum hängt, sei perfekt, abgeschlossen zur vollsten Zufriedenheit der Schöpferin, des Schöpfers?

Wer schon mal selbst ein Bild gemalt hat oder sonst was Künstlerisches geschaffen hat, weiß, wie schwer es ist, den Schlusspunkt zu setzen. Da könnte noch ein kleiner Strich hin, dort noch ein Farbklecks und dann – ist’s überladen. Was bleibt: weg damit, der Schlusspunkt war überschritten. Am klügsten also, man lässt sich Zeit, denkt lange drüber nach, ob weiteres Handanlegen nötig ist. Solange bleibt das Werk so, wie es ist. Es kommt auf den Stapel – unfertig.

Irgendwann anders wird man schon wieder daran weiterarbeiten. Wenn die Zeit da ist, und das Material und die Möglichkeiten … Irgendwann vorher zieht man es dann wieder hervor und denkt: Oh, là, là, unfertig ist aber hübsch. Dieses Werk ist ganz offensichtlich ein Non-finito! Frei nach Leonardo da Vinci – dessen „Mona Lisa“ ja auch nicht wirklich, wirklich fertig gemalt ist – also: eine enorme künstlerische und intellektuelle Leistung, die in der höchsten Form der Abstraktion besteht: nämlich darin, durch Weglassen, Nichtsagen und Nichtzeigen das große Ganze zu repräsentieren. Das Unfertige, das Ungesagte, Ungelegte ist die Kunst an sich - und Sie müssen sie zu Ende sehen! (Lisa Berins)

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