1. Startseite
  2. Kultur
  3. Times mager

Krieg 94

KommentareDrucken

Vieles vergaß man sich vorzustellen.
Vieles vergaß man sich vorzustellen. © Sergei Chuzavkov/Imago

Zum allerersten Mal weinte er, als man ein zartes Lied für ihn sang: Eine Geschichte in der 94. Woche Krieg. Die Kolumne „Times mager“.

In einer Fernsehserie aus einem anderen sehr großen Land ging es um eine Familie mit drei Kindern. Was diese drei Kinder im Laufe der Zeit so erlebten. Wie sie größer wurden, wie sie sich verliebten, wie sie Verluste hinnehmen mussten. Den Verlust ihres Vaters beispielsweise.

Der Vater war in jüngeren Jahren in einen Krieg gezogen, nach Asien, aber nicht etwa, weil er hatte kämpfen wollen. Sein kleiner Bruder war bereits dort, im Krieg, und der große Bruder hatte gespürt, dass der kleine Bruder verzweifelt war, und deshalb wollte er dorthin, ging das Risiko ein, sich selbst in Gefahr zu bringen, aber wichtiger war es ihm, den kleinen Bruder zu beschützen.

Als er dort angekommen war, im Krieg, hatte der große Bruder die Verantwortung für eine ganze Gruppe von Soldaten. In einem kurzen leichten Moment wollten die Soldaten Football spielen. Der große Bruder verbot es, zu gefährlich, aber die Soldaten behielten es sich vor, noch einen letzten Pass zu werfen. Ein Soldat lief los, um den Pass aufzufangen, trat auf eine Bodenmine und starb.

Die Fernsehserie zeigte, wie der große Bruder bei den Eltern des getöteten Soldaten saß und die Schuld auf sich nahm. Wie der Vater des getöteten Soldaten den plötzlich ganz klein wirkenden großen Bruder in die Arme nahm. Wie die Eltern sagten: Es sei nicht seine Schuld. Die Serie zeigte auch, wie die Freundin und spätere Frau des großen Bruders für ihn im Auto ein Lied sang, ein ganz sanftes Lied, und wie der große Bruder in diesem Moment zum allerersten Mal weinte, Schnitt, Rückblick, Kriegsszene. Es verfolgt dich. Du musst nicht dabei gewesen sein, beim Kriegmachen. Du verstehst trotzdem: Es verfolgt dich ein Leben lang. Der große Bruder kam niemals darüber hinweg.

94 Wochen und acht Jahre Krieg im Osten, und das andere sehr große Land, in dem die Fernsehserie spielte, stritt gerade darüber, ob es weiterhin helfen sollte. Ob es weiter dem Land helfen sollte, dem das riesengroße Land einen Krieg aufgezwungen hatte. An manchen Orten auf der Welt kritisierte man, dass das überfallene Land keine großen Erfolge mehr im Kampf gegen den riesengroßen Angreifer erzielte. Man kritisierte, dass in dem überfallenen Land mitunter Streit herrschte darüber, wie man sich verteidigen sollte. Man erwog, die Hilfe zu reduzieren oder einzustellen. Es ging ja um Geld.

Man vergaß, sich vorzustellen, wie es sein musste, seit 94 Wochen und acht Jahren belagert und beschossen und entführt und vergewaltigt zu werden. Man vergaß, sich vorzustellen, wie dringend man in einer solchen Situation Freunde brauchte, starke Brüder, starke Schwestern. Man vergaß so vieles in dieser Zeit.

Auch interessant

Kommentare