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Die Sache mit dem Handschuh

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Der Winter zwingt so manchen dazu, Handschuhe zu tragen, Diese können dann verloren gehen und zu einem Kunstprojekt anregen.
Der Winter zwingt so manchen dazu, Handschuhe zu tragen, Diese können dann verloren gehen und zu einem Kunstprojekt anregen. (Christian Charisius/dpa) © Christian Charisius/dpa

Die Kunst nutzt verlorene Fäustlinge, um Geschichten zu erzählen. Sie handeln auch von Freiheit. Die Kolumne.

Winter ist, wenn auf der Windschutzscheibe niedergehender Schneeregen die Assoziation eines Pfeilhagels auslöst: kleine spitze Geschosse, die umgehend die Illusion zerstören, dass ein Auto ein sicheres Gehäuse sei. Recht so, höre ich seitens der Klimaschutzaktivisten, denen es ein heiliges Anliegen zu sein scheint, einer falschen automobilen Geborgenheit den Prozess zu machen.

Also habe ich mir vorsorglich ein Paar Handschuhe gekauft, textiles Rüstzeug für die kommenden Wochen. Wie so oft war die Kunst schneller. Der Fotograf Karl Braun hat eigens dazu die Serie „111 verlorene Handschuhe“ hergestellt.

Ein kanadischer Dokumentarfilm mit dem Titel „Gebet für einen verlorenen Handschuh“ spielt in einem Fundbüro von Montreal, und der Tokioter Ishii fotografiert seit fast 20 Jahren jeden einsamen Handschuh, den er erblickt, und ergänzt dazu die Begleitumstände der Szene. Instagram-Accounts wie „Long Lost Gloves“ oder „Lost Glove Sightings“ widmen sich ebenfalls dem Phänomen, das in Berlin von der Norwegerin Katja Cappelen und Jürgen Breiter in dem Projekt „stadtfund“ aufbereitet wurde.

Auch sie ließen sich Mitte der 2010er-Jahre vom Anblick verlorener Handschuhe rühren, sammelten sie und verhalfen ihnen zu neuen Partnerschaften. Bei ihnen ging es darum, mit dem Gebot ewig gleicher Paarbildung aufzuräumen. Zur grazilen Fingerform sollten sich gern auch Fäustlinge gesellen.

All das rührt vermutlich daher, dass das Gefühl kalter Finger eine der prägendsten Erfahrungen der Kindheit ist. Plötzlich ist sie wieder da, die Empfindung stechend-kribbelnder Schmerzen, die eintrat, wenn sich die reglosen Körperteile langsam wieder erwärmten.

Die Idee, einen achtlos zurückgelassenen Handschuh auf der Straße umgehend mit künstlerischer Energie aufzuladen, ist ohne die frühe Kälteerfahrung kaum vorstellbar, die Erinnerung an das kindliche Hinausgehaltensein in das Nichts (Martin Heidegger).

Und doch kam es, dass Handschuhe in meiner Sozialisation nicht Teil der Lösung waren, sondern ein neues, geradezu demütigendes Problem aufwarfen, ziemlich genau an jener Nahtstelle, an der die Fürsorge meiner Mutter umschlug in haushälterischen Pragmatismus.

Auf dass ich unachtsames Kind die eigens von ihr hergestellten knallroten Strickfäustlinge nicht verliere, verband sie diese mit einem festen Faden, der fortan durch die Jackenärmel gezogen wurde. Nur wenige Dinge meiner Kindheit waren demütigender als diese Gängelung in Form der mütterlichen Vorkehrung gegen den Handschuhverlust.

Obwohl ich nicht das einzige Kind in meiner Umgebung war, dass diesen Faden im Nacken zu spüren bekam, an dem die Fäustlinge, sobald sie sich von der Hand lösten, schlaff aus den Ärmeln hingen, waren sie mir doch ein quälendes Zeichen meiner Gefangenschaft in einer viel zu lange währenden Kindheit.

In den sich im Straßenbild und bevorzugt an Haltestellen zeigenden Long Lost Gloves, die nicht zuletzt Geschichten von Einsamkeit und der Verdinglichung der Welt erzählen, vermag ich einen Hauch von Freiheit zu erkennen, der verlorene Handschuh als ein Stück Emanzipation. Der Verlusterfahrung nicht durch Vermeidungsstrategien zu begegnen, sondern sie als Freiheitsmoment zu betrachten, ist eine kostbare, manchmal auch kostspielige, Einsicht. Nicht nur im Winter.

Harry Nutt ist Autor.

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