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Hass wird salonfähig

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Sieht sich gezwungen, eine Selbstverständlichkeit in Erinnerung zu rufen, nämlich: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“: Ferda Ataman, Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung.
Sieht sich gezwungen, eine Selbstverständlichkeit in Erinnerung zu rufen, nämlich: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“: Ferda Ataman, Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung. © Kira Hofmann/photothek/dpa

Der Alarmruf der Bundesbeauftragten ist berechtigt und muss gehört werden – auch in der Regierung selbst. Der FR-Leitartikel von Ursula Rüssmann.

Starke Worte und eine denkwürdige Initiative: Wenn gleich zehn Minderheiten- und Opferbeauftragte der Bundesregierung gemeinsam Alarm schlagen und auf dramatisch zunehmende Hasskriminalität hinweisen, wie gerade geschehen, dann sollten auch die Letzten im Land verstanden haben, wie ernst es ist. Die Beauftragten sehen sich gezwungen, eine Selbstverständlichkeit in Erinnerung zu rufen: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“. Sie warnen damit: Eine, wenn nicht die tragende Säule des demokratischen Rechtsstaats ist instabil geworden.

Zehn Prozent mehr Hassdelikte im Jahr 2022 als im Vorjahr, insgesamt mehr als 11 500: Die steigende Tendenz, auf die die Beauftragten hinweisen, ist nicht nur ein abstrakter statistischer Wert. Sie markiert einen Kulturwandel, und zwar einen zum Schlechten: den Vormarsch gesellschaftlicher Verrohung. Denn hinter den 11 500 bekannten Hassdelikten steht eine um ein Vielfaches höhere Dunkelziffer nicht verfolgter, unwidersprochener Übergriffe, Drohungen und Hetzreden gegen Menschen – sei es weil diese nichtdeutsche Wurzeln haben, eine andere Religion, trans, lesbisch oder einfach weiblich sind, arm sind oder politisch anders denken.

Wie sehr haben wir uns schon gewöhnt an die Alltäglichkeit von Ausfällen gegen Minderheiten? Eingeschlagene Scheiben von Moscheen oder Übergriffe gegen Kopftuchträgerinnen schaffen es kaum noch in die Medien, sie finden aber ständig statt. Attacken auf queere Feste häufen sich. Pauschale „Das Boot ist voll“-Parolen haben sich längst festgesetzt in den Köpfen von weitaus mehr Menschen als denen, die stolz sind, rechtsaußen zu sein. Menschenfeindliches Denken greift um sich in der Mitte der Gesellschaft.

Ein schwarzer Fleck

Aber, und da weist der Alarmruf der Regierungsbeauftragten einen schwarzen Fleck auf: Die wirklich große Gefahr fängt schon viel früher an. Sie wächst dort, wo politisch und medial immer mehr Räume geöffnet werden, in denen Populismus und Geschichtsvergessenheit unwidersprochen platziert werden können. Hier steckt die Legitimationsquelle für rechte Gewalt, hier holen sich die, die Regenbogenfahnen abreißen und gegen Flüchtlinge hetzen, Argumente.

Warum bietet ausgerechnet der öffentlich-rechtliche Rundfunk, gegen dessen Existenz die AfD aggressiv zu Felde zieht, Vertreter:innen der in weiten Teilen rechtsextremen Partei immer wieder eine Plattform für ihre demagogischen und demokratiefeindlichen Thesen? Zuletzt Alice Weidel in der ARD, vorher Chrupalla und viele andere. Weidel und Konsorten können sich freuen: Ihre gezielte Provokation, sie sehe in (Nazi-)Deutschlands Niederlage keinen Grund zum Feiern, ist in der Welt, geadelt durch den Ehrenplatz des Sommerinterviews, und damit freigegeben zur Vervielfältigung. Der 8. Mai, Tag der Befreiung? Zu fürchten ist, dass dieser Erinnerungskonsens bald nicht mehr nur von Rechtsaußen in Frage gestellt wird.

Welches Menschenrecht ist als nächstes dran?

Ähnlich ergeht es einem anderen Erbe des Holocaust: dem internationalen Flüchtlingsvölkerrecht. Längst liefert sich die Union einen offenen Wettlauf mit der AfD, wer schärfer gegen das individuelle Schutzrecht vor Verfolgung agitiert. Wenn jetzt Europäische Menschenrechtskonvention und Genfer Flüchtlingskonvention als überholt diffamiert werden, wenn also politische Willkür die Werte- und Vertragsbindung wegwischt, dann muss man fragen: Welches elementare Menschenrecht wäre als nächstes dran? Meinungs- oder Versammlungsfreiheit? Recht auf Leben?

Zum Glück ist Deutschland in ein so dichtes Netz internationaler Verträge eingebunden, dass ein Ausstieg aus den Flüchtlingskonventionen kaum möglich ist. Der Schaden ist dennoch da - die zunehmende Gewalt gegen Geflüchtete hat auch mit solcher politischer Rhethorik zu tun.

Und auch die Ampel-Regierung kocht heftig mit im Kessel minderheitenfeindlicher Ressentiments. Zunehmende Gewalt in Schwimmbädern? Gibt es nicht, wie Tagesschau.de in einem Faktencheck nachwies. Bundesinnenministerin Nancy Faeser will trotzdem nach Vorfällen in Berlin mehr Polizei in den Bädern und ließ die Behauptung unwidersprochen, schuld seien meist Migranten. Bundesfinanzminister Lindner nimmt sich Alleinerziehende vor, die angeblich immer weniger bereit seien, arbeiten zu gehen – die Berliner „taz“ hat das als Falschbehauptung entlarvt.

Es gäbe weitere Beispiele. Sie sprechen alle die gleiche Sprache: Die wachsende Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft ist auch das Spiegelbild einer zunehmend populistisch getriebenen Politik. Der Alarmruf der Beauftragten wäre noch realitätsnäher gewesen, hätte er sich auch an sie gerichtet.

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