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Das Wunder von Lesbos

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Der pittoreske Ort am Ägäischen Meer hat viel durchgemacht.
Der pittoreske Ort am Ägäischen Meer hat viel durchgemacht. © picture alliance/Rainer Hackenbe

Bilder von der Flucht und dem Elend prägen den griechischen Ort Molyvos auf Lesbos. Doch für seine Einwohner birgt ein Festival neue Hoffnung.

Von Wolfgang Bauernfeind

Die Insel Lesbos kennen viele, aber wer kennt Molyvos? Molyvos liegt wie eine Wabe an einem Fels. Hoch über der Siedlung thront eine 1000 Jahre alte byzantinische Burg, die seit alters her Wache hält, über die Menschen, die dort leben. Gegenüber von Molyvos liegt die Türkei. Man kann ihre Küste sehen, acht Kilometer Ägäisches Meer liegen zwischen den beiden Ländern an dieser Stelle. Das wurde für Molyvos und die Insel Lesbos zum Verhängnis.

Im Sommer 2015 kamen plötzlich viele Boote, dann immer mehr, bei Tag und bei Nacht. Die Flüchtlinge kamen mit ihren wenigen Habseligkeiten, 50 Menschen jeweils, oder 60, 70, zusammengepfercht in Schlauchbooten oder ausrangierten Fischkuttern. Sie landeten an den meist steinigen Stränden in Molyvos und den Nachbargemeinden Eftalou und Petra.

Die Menschen erinnern sich noch genau, wie das damals war. Ein Fischer am Hafen erzählt, wie ihm die Boote entgegen kamen. Er habe beim Landgang geholfen, auch Kriegskrüppel über den steinigen Meeresboden an das sichere Ufer geholt. Im Herbst seien dann die NGOs gekommen. Viele Helfer, die sich in größter Not nützlich machten. Einige aber auch auf dem Ego-Trip mit vielen Selfies. Jetzt kämen kaum noch Flüchtlinge, nur manchmal ein Boot.

Hanni und Lisa, schon seit vielen Jahren in Molyvos heimisch, erzählen auch vom Flüchtlingselend im letzten Jahr. Die Insel sei buchstäblich überrannt worden, 2015, als auf 85 000 Bewohner 40 000 Flüchtlinge kamen. Sie waren auf sich allein gestellt, sagen sie, die Leute in Molyvos, die Hoteliers am Strand, oder die Restaurantbesitzer an der Küste. Sie halfen aber so gut sie konnten, sie verteilten trockene, saubere Kleidung, stellten ihre Toiletten zur Verfügung, teilten mit den Flüchtlingen sozusagen ihr letztes Handtuch. Sie entsorgten auch den Müll der Flüchtlinge an den Stränden: Die Boote, die Schwimmwesten, auch die, die nur so aussahen wie Schwimmwesten. „Fake-Westen“, wie Lisa sagt. Das sichere Todesurteil für die Insassen, wenn ein Boot auf der Überfahrt kentert. „Wir sind damals nicht schwimmen gegangen“, sagen beide. Mit Leichen schwimmen zu gehen, nein, das hätten sie nicht über sich gebracht. Die Flüchtlinge, die von Lesbos nicht weg kamen, wurden dann in der Nähe der Hauptstadt Mytilini in zwei Lagern notdürftig untergebracht und warten dort bis heute auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge. Beide Lager stehen unter der Aufsicht der griechischen Militärs. Sie leben dort wie in einem Wartesaal. Der Wartesaal hat keinen Ausgang.

Molyvos steht aber auch für etwas ganz Anderes: Die Gemeinde ist seit 2015 Festspielort. Im Chaos der Sommermonate 2015 fand an diesem Grenzort Europas das erste „Molyvos International Music Festival“ statt. Ein Wunder war geschehen.

Danae Dörken gehört zum Gründerteam des Festivals, wie ihre Schwester Kiveli und Dimitris Trifon, der Erbe eines Pharmaunternehmens in Griechenland, der mit seinem Geld das Festival erst möglich machte. Im Hintergrund aber regiert die Mama „Lito“. Sie ist das organisatorische Rückgrat des Festivals, eine „Mutter Courage“ heutzutage, sie „umtriebig“ zu nennen, ist eine Untertreibung. Die Schwestern sind international schon bekannte Pianistinnen, sie hatten die Idee, Kammermusik auf die Insel zu bringen. Molyvos ist auch ihre Sommerheimat, die Heimat der Großmutter. Hier hat die Familie immer die großen Ferien verbracht. Das Molyvos Festival ist auf diese Weise auch ein Ergebnis ihrer Heimatverbundenheit.

Hilfe für Molyvos

Auch bei dem diesjährigen Festival kümmern sie sich wieder um das künstlerische Programm, beraten und unterstützt von einem Beirat mit dem Pianisten Lars Vogt und Kulturmanagern wie Jochen Sandig und Andreas Richter. „Ihr Festival“ sei anders als die üblichen Festspiele, die man  aus Mitteleuropa kenne, behaupten sie. Elektrizität läge in der Luft, wäre bei den Proben spürbar und würde sich bei den Konzerten entladen. In Molyvos ginge es schließlich um was. Nicht nur um einen dauerhaften Erfolg des Festivals, sondern um das, was sie „Grenzgängertum“ nennen. Mit diesem Wort umschreiben sie eine Vision, die sie für Molyvos haben. Hier, am Rande Europas, sollen Begegnungen mit verschiedenen Musiktraditionen stattfinden und auch Neues gewagt werden. Das Motto des diesjährigen Festivals drückt diesen Wunsch aus. „Crossroads“, so heißt es, wie gemacht für dieses Fleckchen Erde, sei es doch in seiner langen Geschichte durch verschiedene Kulturen geprägt.

Noch etwas liegt dem Gründerteam am Herzen: Mit dem Festival wolle man auch den Bewohnern von Molyvos helfen. Seit dem Flüchtlingsansturm im Sommer 2015 sei die Gemeinde in Not geraten, die Touristen blieben aus, weil auch dieser Ort auf Lesbos inzwischen ein Synonym für Elend sei. 80 Prozent weniger Buchungen zählt das Tourismusbüro in diesem Jahr. Das Festival soll wieder mehr Menschen auf die Insel locken, hoffen sie.

20 Musiker sind diesmal eingeladen, sie alle sind Mitglieder bekannter Ensembles im internationalen Musikbetrieb und spielen hier für ein Freundschaftshonorar. Man kennt sich und kennt sich auch wieder nicht, will aber hier während der Probenarbeit zu einem Festspielensemble zusammen wachsen. Die Stimmung ist aufgekratzt, ab und zu ist ein lautes „Hallo!“, ein kräftiges Schulterklopfen zu hören, wenn wieder jemand aus der weiten Konzertwelt in Molyvos angekommen ist. Auch Sponsoren, Musikmanager, Fachjournalisten sind da. Sie wollen nicht nur Gäste des Festivals sein, sondern den Organisatoren mit Rat und Tat zur Seite stehen, ehrenamtlich, das versteht sich hier von selbst. Nur durch das Engagement von Privatleuten ist das Festival entstanden, der Staat hat bisher keinen müden Euro gezahlt.

Vor und während des Festivals sind Ständchen der Musiker in kleiner Besetzung geplant. Kammermusik im Ort, am Strand, am Hafen, vor Lokalen und Geschäften. Appetizer für die Bevölkerung, die zum Großteil noch nie etwas von dieser Art Musik gehört hat. „Molyvos Musical Moments“ heißt es im Programm. Da spielen international geschätzte Solisten der Kammermusikwelt in kurzer Hose und Freizeithemd, Linus Roth mit seiner Stradivari, Alon Sariel mit seiner Mandoline, Jaebok Cho mit seinem Kontrabass, um nur einige Wenige zu nennen. Sie spielen, was das Zeug hält und verbreiten Festspiellaune.

Um zum „Konzertsaal“ im Freien auf der Burg zu gelangen, muss man tüchtig klettern, durch die Burg hindurch bis zur Aussichtsplattform, auf der die Wachen von einst einen weiten Blick über das Meer hinaus bis zur gegenüberliegenden Küste hatten. Ein Vogelblick, den auch das Publikum hat, das hier fünf Konzerten zuhören wird. Konzerte mit Grillengezirp und Wind, sagen die Einheimischen dazu.

An der Innenseite der Burg ist die Bühne aufgebaut, rechteckig, zwei Meter hoch, davor der Zuschauerraum, der sich bis zum Ende des Plateaus hinzieht. Die Bühne ist auf drei Seiten durch Kunststoffplanen halbwegs vor dem Wind geschützt. Bei einer Probe hat der Wind allerdings so heftig geblasen, dass die Notenständer mitsamt den Partituren umfielen. Das soll beim Eröffnungskonzert nicht passieren, der Wetterbericht sagt ein laues Lüftchen voraus.

Ein buntes Völkchen ist zu Beginn der Konzerte zu später Stunde auf der Burg versammelt, alle Plätze sind wie auch an den folgenden Abenden besetzt. Jung und Alt, Einheimische und Besucher von weither sitzen friedlich zusammen. Der Mond scheint sehr rund vom sternenklaren Himmel, als die Musiker kommen. Danae und Kiveli stürmen die Bühne und sagen mit großer Geste das erste Musikstück an. Fortissimo. Es kann losgehen!

Musik aus den vier Himmelsrichtungen wird bei den Konzerten zu hören sein, von A wie Albinoni über D wie Dvorák, M wie Mozart bis S wie Strawinsky, auch Klassiker der Kammermusik. Vergessene Komponisten stehen auf dem Spielplan, wie der jüdische Komponist Mieczyslaw Weinberg, der von den Nazis vertrieben bei Dmitri Schostakowitsch Schutz und seinen musikalischen Mentor fand.

„Musik macht uns zu besseren Menschen“

Es gibt eine Jam- Session „Classic goes Clubbing“, bei der sich das hier gefundene Ensemble mit einem Spaziergang durch alle Musikwelten rockt. Außer der Reihe findet am Nachmittag ein „Young People’s Concert“ statt, bei dem auch begabter Nachwuchs von den Schulen der Insel auftritt. Ein „Lunch Concert“ in einer ehemaligen Synagoge von Molyvos mit Werken zeitgenössischer Komponisten wie Gilad Hochman aus Israel und Kinan Azmeh aus Syrien ist ebenso eingeplant. Auch eine Grenzüberschreitung. Der letzte Abend steht unter dem Motto des Festivals, „Crossroads“, mit Lars Vogt, der die Uraufführung der Komposition „Passage“ von Athena Adamopoulos dirigiert. Ein würdiger Schlusspunkt?

Die Konzerte gehen noch kulinarisch weiter bis zum frühen Morgen, allerdings sind dann die Sponsoren, Freunde, Journalisten und natürlich die Musiker und Organisatoren die Solisten. Sie feiern sich und das Festival unten am Hafen, am Strand, jeden Abend jeweils in einem anderen Restaurant und stoßen auf die Zukunft des Festivals an: „Yamas“. Mehr als einen guten Schluck auf die Zukunft wäre das Festival allemal wert.

Ganz Europa ist bei diesem Festival zusammengekommen, ein Sinnbild dafür, was man gemeinsam schaffen kann. Aphrodite, die an ihrem Hotelstrand den Ansturm der Flüchtlinge erlebte, sagt, das Festival sei eine Hoffnung. Kraft, um weiterzumachen, auch wenn wieder Flüchtlinge kommen. Denn es werden wieder Flüchtlinge kommen, solange die Ursachen der Völkerwanderung der Neuzeit nicht beseitigt sind. „Musik macht uns zu besseren Menschen“, ist ihre Botschaft. Damit schlägt sie eine Brücke zu Simon Rattle, der vor dem diesjährigen Festival den Organisatoren von London aus diese Worte schickte: „Tief in meinem Herzen glaube ich daran, dass Musik und Kultur Menschen zusammenbringen und Heilung bewirken wird. Ihr seid ein Lichtstrahl in dunkler Zeit.“

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