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Der Feldherr von nebenan

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Der Oberkommandierende erweist einem Toten im Beisein seiner Einheit auf Kiews Maidan die letzte Ehre. Sergei SUPINSKY/AFP
Der Oberkommandierende erweist einem Toten im Beisein seiner Einheit auf Kiews Maidan die letzte Ehre. Sergei SUPINSKY/AFP © AFP

Kiews Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj ist bei Volk, Armee und auch im Westen äußerst beliebt. Auch, weil er dem Klischee vom General nicht entspricht – ein Porträt.

Er trank gerade ein Bier auf der Geburtstagsfeier seiner Frau, als der Anruf aus dem Präsidialamt kam. Ob er das Oberkommando über die ukrainische Armee übernehmen wolle? Davon sei er erwischt worden wie von „einem Schlag unter die Gürtellinie mit anschließendem Knockout“, erzählte der General in einem seiner seltenen Interviews ein knappes Jahr nach jenem Nachmittag im Juli 2021.

Walerij Saluschnyj präsentiert sich der Öffentlichkeit nicht unbedingt als distanzierter Feldherr. Der etwas vierschrötige, oft unrasierte 49-Jährige lacht gern, knipst eifrig Selfies, auf denen er seine Frau Jelena in den Arm nimmt, den schmächtigen Nato-Oberbefehlshaber Christopher Cavoli und auch den einen oder anderen grinsenden Soldaten.

Aber dieser nette General von nebenan hat aussichtslos scheinende Abwehrschlachten entschieden. „Ein Held, aber kein Star“, schwärmt das US-Portal „Politico“; laut „Time Magazine“ gehört er jetzt zu den 100 einflussreichsten Personen auf der Welt. „Überhaupt ein talentierter Kerl, der sich kriegerisch interessante Kombinationen ausdenkt“, gesteht auch der kremltreue Kinoregisseur Karen Schachnasarow im russischen Propaganda-TV. „Ukrainer sind sehr friedliebend“, sagt Saluschnyj selbst. „Aber wenn Feinde unser Land betreten, töten wir sie.“

Saluschnyj gilt als Kopf des ukrainischen Widerstands. Seine Truppen brachten die übermächtig scheinende russische Armee auf einer Frontlinie von 2500 Kilometer zum Stehen. „Natürlich wussten wir, dass wir nicht stark genug sind“, sagte Saluschnyj der britischen Zeitung „The Independent“. „Die Aufgabe war, unsere geringen Kräfte so zu verteilen, dass sie mit unkonventionellen Taktiken den Ansturm aufhalten konnten.“ Hochmobile Panzerjagd, Quasi-Guerillaattacken auf Nachschubkolonnen, Drohnen... Im März zog der Kreml nach hohen Verlusten seine Truppen aus dem Raum Kiew zurück, ebenso aus den Regionen Sumy und Tschernihiw. Und im September konterte Saluschnyj das blindwütige russische Trommelfeuer im Donbass mit einem Überraschungsangriff nördlich davon bei Charkiw, nachdem die ukrainische Führung vorher lautstark und listig eine Offensive im Süden angekündigt hatte. „Saluschnyj stiftet Verwirrung“, jubelt die Popgruppe „Oisho BTZ“ über den schlitzohrigen General, der schon in die Folklore seiner Heimat integriert worden ist.

Saluschnyj wuchs in einer Offiziersfamilie im westukrainischen Nowohrad-Wolynskyj auf, lernte erst Werkzeugschlosser, absolvierte dann drei Militärakademien mit Auszeichnung; er fährt einen alten Nissan und spricht fließend Englisch. Im Bücherschrank dieses Mittelstandsstrategen stehen auch die gesammelten Werke des russischen Generalstabschefs Walerij Gerassimow, der jetzt auf der Gegenseite kommandiert. „Ein sehr kluger Mann, ich habe viel von ihm gelernt.“

Westliche Fachleute loben Saluschnyj als modernen Militär, der sich die flexiblen Taktiken der Nato zu eigen gemacht hat, der seinen im Feld Kommandierenden taktische Eigenständigkeit beim Erledigen von Aufträgen lässt, der jungen unerfahrenen Offizieren einbläut, auf ihre versierten Unteroffiziere zu hören.

Inzwischen gelte das für eine ganze ukrainische Offiziersgeneration, sagt der Militärexperte Oleksij Melnyk, Ex-Kampfpilot und Berater des Verteidigungsministeriums. Der Frontblogger Pawlo Kasarin nennt das den „kollektiven Saluschnyj“. Und Leute, die Saluschnyj begleiten, staunen immer wieder, wie viele jüngere Offiziere, einfache Soldatinnen und zivile Aktivisten der General persönlich kennt.

Das alles hat etwas unverwechselbar Ukrainisches an sich. Wie einst die Kosaken kämpfen Saluschnyj und die seinen nicht nur für ihre Freiheit, sie leben sie. Russische Generäle lesen bei TV-Auftritten vom Blatt ab, Saluschnyj antwortet Fragen aus dem Medientross spontan, fast schon im Plauderton. Und wie in den Legenden um die Kosaken, so schützt in der Realität der Oberkommandierende das Leben seiner Soldat:innen, so gut er nur kann. Und trotzdem muss er viel zu oft Gefallenen die letzte Ehre erweisen.

Die „Bild“ spekulierte kürzlich über einen Streit zwischen Saluschnyj und Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der habe die Forderung seines Generals abgelehnt, sich aus den Ruinen von Bachmut zurückzuziehen, um das dort nun militärisch sinnlose Sterben zu beenden. Auch Oleksij Melnyk schließt nicht aus, dass Staats- und Armeeführung bei einem Kriegsrat vergangenen Montag durchaus kontrovers diskutierten. „Politisch macht es Sinn, Bachmut zu halten, weil es sich wie der opferreiche Kampf um den Donezker Flughafen 2014 als Symbol des nationalen Kampfes eignet.“ Militärisch sinnvoll könne aber auch das Verharren sein. „Die Verluste in Bachmut sind hoch, aber sie erlauben es, fünf- bis siebenmal so viele Feinde zu vernichten.“ Nach einem Rückzug auf die nächste Verteidigungslinie drohten dort vielleicht höhere Verluste sowie die Einäscherung weiterer Ortschaften.

Melnyk glaubt, weder Selenskyj noch Saluschnyj würden bei einem Rückzug ihr Image riskieren. „Es ist 15 Mal leichter, etwas zu verteidigen als es zurückzuerobern“, sagte Saluschnyj einmal selbst. Nach einer Umfrage des Nationalen Demokratischen Instituts vom Januar sind Selenskyj mit 91 und Saluschnyj mit 87 Prozent die populärsten Ukrainer. „Wie General Eisenhower hätte auch Saluschnyj gute Chancen auf eine politische Karriere“, sagt der Politologe Ihor Rejterowitsch. „Aber er zeigt keine Ambitionen. Sein Telegram-Kanal verbreitet militärtechnische Angaben, auf Facebook gratuliert er seinen Soldatinnen zum Internationalen Frauentag.“ Laut Rejterowitsch stammen die Gerüchte über Selenskyj contra Saluschnyj fast nur aus kremlnahen Quellen.

In Kiew dagegen gelten die beiden Kommunikatoren als talentierte Doppelspitze. In politischen Zirkeln mag wohl die Angst umgehen, der populäre General könne Selenskyj bei Wahlen Konkurrenz machen. Aber die gibt es erst nach dem Ende der Kämpfe. Was ein General nach dem Krieg auch vorhaben mag, zuerst muss er ihn gewinnen. mit rut

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