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Documenta: Wie Antisemitismus zur deutschen Sonderdisziplin gemacht wird

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Hier ist es noch nur teilweise verhüllt, mittlerweile ist das Werk nicht mehr zu sehen: Motive auf dem Banner des Kollektivs Taring Padi sind antisemitisch.
Hier ist es noch nur teilweise verhüllt, mittlerweile ist das Werk nicht mehr zu sehen: Motive auf dem Banner des Kollektivs Taring Padi sind antisemitisch. © dpa

Die Documenta Fifteen wirft in zugespitzter Form Fragen nach der prinzipiellen Möglichkeit von Kunst auf.

Nachdem im Juni 2007 ein handfester Sturm durch die Karlsaue in Kassel gefegt war, war von Ai Weiweis aus alten Türen gefertigtes Werk „Template“ kaum mehr übrig als ein zusammengeklappter Haufen Holzreste. Der Künstler dachte aber gar nicht daran, seinen Turm wieder aufzubauen. Es sei jetzt noch besser als vorher, sagte er lächelnd – und wissend, dass Einsturz zum Bauen gehören kann, also auch zur Kunst.

Derart fröhlich-gelassen ging es am Montagabend in Kassel nicht zu, als lange schwarze Stoffbahnen über das Kunstwerk „People’s Justice“ des indonesischen Kollektivs Taring Padi gehängt wurden. Im Verlauf des 20. Juni war öffentlich geworden, dass mindestens zwei der Darstellungen auf der monumentalen Banner-Installation als mutmaßlich antisemitische Motive gedeutet werden können.

Soll, muss man es so vorsichtig formulieren? Keine Kunst ohne Kontext, es wäre also denkbar gewesen, nach genauerer Prüfung zu einem Ergebnis zu kommen, das eine schnelle Bewertung zumindest zu ergänzen vermag, der sich am Nachmittag viele Kunstkritiker:innen, aber auch verantwortliche Politikerinnen, darunter Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Hessens Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn, mit demonstrativem Entsetzen angeschlossen hatten. Beinahe einhellig wurde befunden: ein klarer Fall von Antisemitismus, eine Grenze sei nun überschritten.

Die Erklärungen der Documenta-Macher:innen vom Abend wiesen den Vorwurf des Antisemitismus noch immer zurück, holten aber weiter aus. „Die Banner-Installation People’s Justice (2002) ist Teil einer Kampagne gegen Militarismus und die Gewalt, die wir während der 32-jährigen Militärdiktatur Suhartos in Indonesien erlebt haben und deren Erbe, das sich bis heute auswirkt“, heißt es in dem Statement des Kollektivs.

Die Darstellung von Militärfiguren sei Ausdruck dieser Erfahrungen. Bei den Tierdarstellungen handele es sich um eine im Kontext Indonesiens verbreitete Symbolik, beispielsweise für die korrupte Verwaltung, die militärischen Generäle und ihre Soldaten, die als Schwein, Hund und Ratte symbolisiert werden, um ein ausbeuterisches kapitalistisches System und militärische Gewalt zu kritisieren.

Der Stil der Darstellungen ist eine europäisch anmutende Agitprop-Ästhetik, eine Figur mit Schweinsgesicht trägt ein Halstuch mit einem Davidstern und einen Helm mit der Aufschrift „Mossad“ – die Bezeichnung des israelischen Auslandsgeheimdienstes. Eine Figur ist mit Schläfenlocken dargestellt, die SS-Runen auf dem Hut hat. In der sogleich aufschnellenden Diskussion war vom Schmähstil des NS-Blattes „Stürmer“ die Rede.

Das Banner sei erstmals 2002 auf dem South Australia Art Festival in Adelaide ausgestellt und seitdem an vielen Orten und in unterschiedlichen Kontexten gezeigt worden, darunter beim Jakarta Street Art Festival (2004), bei der Retrospektive zu Taring Padi in Yogyakarta (2018) und bei der Polyphonic Southeast Asia Art Ausstellung in Nanjing, China (2019).

Andernorts, soll das wohl heißen, habe man keine Probleme mit der Darstellung gehabt. Der Hinweis lässt unterschwellig die Aussage zu, dass es keinen allgemeingültigen Antisemitismus gebe, sondern einen jeweils regional spezifischen. Von einer besonderen deutschen Sensibilität war im Vorfeld vielfach die Rede, nun klingt es beinahe so, als sei Antisemitismus eine deutsche Sonderdisziplin. Entsprechend formelhaft fällt die Erklärung von Taring Padi aus: „Wir entschuldigen uns für die in diesem Zusammenhang entstandenen Verletzungen. Als Zeichen des Respekts und mit großem Bedauern decken wir die entsprechende Arbeit ab, die in diesem speziellen Kontext in Deutschland als beleidigend empfunden wird. Das Werk wird nun zu einem Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs in diesem Moment. Wir hoffen, dass dieses Denkmal nun der Ausgangspunkt für einen neuen Dialog sein kann“.

Als geradezu kläglich kann man die Erklärung ansehen, die Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann abgegeben hat: „Die Geschäftsführung der documenta ist keine Instanz, die sich die künstlerischen Exponate vorab zur Prüfung vorlegen lassen kann und darf das auch nicht sein. Das Banner wurde am vergangenen Freitagnachmittag am Friedrichsplatz installiert, nachdem notwendige restauratorische Maßnahmen aufgrund von Lagerschäden an der 20 Jahre alten Arbeit durchgeführt wurden.“

Soll das, in Klartext übersetzt, heißen, man habe nichts damit zu tun? Argloser ist ein Verhalten zum eigenen Managementversagen kaum vorstellbar. Nach monatelangen Diskussionen über pauschale Antisemitismusvorwürfe, die in scharfer Diktion zurückgewiesen wurden, ist es weniger naiv als dreist, derart blank auf das in der Kritik stehende Werk und ihre Macher:innen zu reagieren.

In den sozialen Netzwerken kursiert denn auch eine Unterstellung künstlerischer Raffinesse. Könnte es sich denn nicht wie im Fall der geschredderten Banksy-Arbeit um eine kalkulierte Inszenierung halten? Ein intendierter Eklat, um auf die Grenzen der Kunstfreiheit aufmerksam zu machen, der nun monumental wie die Kaaba in Mekka von der Documenta grüßt? Ein weiteres in den Netzwerken diskutiertes Theorem geht davon aus, dass eine derart tabuisierte antisemitische Darstellung lediglich die Kehrseite der sogenannten Mohammed-Karikaturen sei, die in der westlichen Welt weithin im Namen der Kunstfreiheit verteidigt wurden. Die Documenta als Schauplatz eines Kulturkampfes, durch den die sich areligiös wähnenden Kunstauffassungen erschüttert werden?

Wie auch immer die Debatte über die Documenta Fifteen weitergehen mag, wird man annehmen müssen, dass sie sich nicht um einzelne Werke drehen wird oder auch um die spannende Frage nach unterschiedliche Ästhetiken in der globalisierten Welt. Vielmehr wirft die Documenta Fifteen in zugespitzter Form Fragen nach der prinzipiellen Möglichkeit von Kunst auf. Zur traurigen Geschichte von Kassel 2022 gehört, dass die Antworten darauf derzeit nicht in Optionsräumen der Offenheit gegeben werden.

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