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Angst vor frühen Prognosen: Verzerren die Niederländer das Ergebnis zur Europawahl?

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Termin, Umfrage-Sperrfrist und Mindestalter variieren bei der Wahl zum EU-Parlaments. Der Vorgang ist frei, gleich aber nicht. Wie demokratisch ist die Europawahl?

Brüssel – Vom 06. bis 09. Juni 2024 wird in der gesamten Europäischen Union gewählt. Dabei wählen zwar Unionsbürgerinnen und Bürger aller Mitgliedsstaaten Abgeordnete für dieselbe Institution, das Europäische Parlament, einheitlich läuft die Wahl jedoch nicht ab. Bis auf einige grundsätzliche Vorgaben, ist es den Staaten selbst überlassen, wie die Wahl ausgestaltet ist. Staaten wie Belgien, Bulgarien und Griechenland haben die Wahlbeteiligung beispielsweise gesetzlich vorgeschrieben. Bürgerinnen und Bürger der Niederlande wiederum wählen drei Tage früher, bevor in anderen EU-Staaten die Wahllokale überhaupt öffnen.

Bei der letzten Europawahl im Jahr 2019 wurden noch am Wahlabend in den Niederlanden Prognosen zu den Ergebnissen veröffentlicht. Es handelte sich dabei zwar nur um Prognosen, aber auch die Veröffentlichung von solchen Umfragen ist in einigen EU-Staaten durch eine sogenannte Sperrfrist kurz vor Wahlen verboten. Dass die EU-Staaten nicht einheitlich wählen, ist bei nationalen Wahlen kein Problem. Wie sieht es aber bei der gemeinsamen Europawahl aus? Wie demokratisch ist die Wahl mit unterschiedlichen Wahlvorgaben?

Sperrfrist bei Europawahl 2024 in Italien und Griechenland: 15 Tage vor Wahlen keine Umfragen

Eine Sperrfrist regelt in einigen EU-Staaten, wie lange die Ergebnisse von Umfragen zu Wahlprognosen oder Wahlverhalten vor der Wahl veröffentlicht werden dürfen. Der Grund dafür: Wählerinnen und Wähler könnten von den Umfrageergebnissen beeinflusst werden. Zum Einfluss von Wahlprognosen auf das Wahlverhalten von Menschen haben die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages im Mai 2023 einen Sachstandsbericht veröffentlicht. Im Ergebnis zeige sich demnach zunächst, dass der empirische Kenntnisstand zum Einfluss auf das Wahlverhalten „dünn“ sei.

Dennoch liege es auf der Grundlage der Befunde, auf die sich die Wissenschaftlichen Dienste berufen, nahe, „dass es durchaus sinnvoll ist, davon auszugehen, dass sich die Publikation von Wahlumfragen zumindest in einem begrenzten Umfang auf das Wahlverhalten auswirkt“. In Ländern wie Italien und Griechenland ist es Medien aus diesem Grund bereits 15 Tage vor einer Wahl untersagt, Umfragen zu veröffentlichen. In anderen EU-Staaten wie Frankreich, Kroatien und Litauen liegt die Frist bei zwei Tagen.

12.03.2024, Frankreich, Straßburg: Monitore im Europäischen Parlament zeigen den Schriftzug «Nutze deine Stimme» und werben damit für die bevorstehenden Europawahlen. Die Europawahl findet vom 6. bis 9. Juni 2024 statt. Foto: Jean-Francois Badias/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Straßburg: Monitore im Europäischen Parlament zeigen den Schriftzug «Nutze deine Stimme» und werben damit für die bevorstehenden Europawahlen. Die Europawahl findet vom 6. bis 9. Juni 2024 statt (Archivbild) © Jean-Francois Badias/AP/dpa

Die Prognosen zur Wahl aus den Niederlanden stellen somit je nach Staat und Regelung ein Problem dar. Das erklärt auch die Professorin für internationales Öffentliches Recht von der Universität Hamburg, Anne van Aaken, im Gespräch mit fr.de von IPPEN.MEDIA. Die Veröffentlichung der Prognose sei jedenfalls dann problematisch, „wenn man die Europäische Union als einen einheitlichen demokratischen Raum ansieht“. Dies sei bei einer Europawahl der Fall, erklärt Aaken.

Wahlumfragen im Vergleich zu anderen Wahlunterschieden bei Europawahl „weitestgehend unschädlich“

Etwas anders ordnet den Fall der Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Ulrich Haltern, ein. Die Prognosen seien „weitgehend unschädlich“, so Haltern gegenüber fr.de von IPPEN.MEDIA. Er sehe darin kein großes Problem für die Demokratie. Für diese Einschätzung nennt der Europarecht-Experte drei Gründe.

Unter Umständen falle eine solche Prognose zwar genauer aus als Umfragen direkt vor der Wahl, sie habe allerdings in etwa den gleichen Status. Auch die Größe der Staaten, in denen früher gewählt wird, hebt Haltern hervor. Unter den fünf Staaten sei kein großer Staat, dafür aber mit Malta, Lettland und Irland drei kleine Staaten. Auch die Niederlande seien „noch kein großer Entscheider“, erklärt Haltern.

Als dritten Punkt führt er an, dass es sich bei den Europawahlen um „Second order-Wahlen“ handle, „die sich kaum um Leistungen des Europäischen Parlaments, nicht einmal um europapolitische Themen drehen“. Vielmehr ginge es darum, Rückschlüsse auf die Zufriedenheit der Wählerschaft mit den nationalen Regierungen zu ziehen.

Verzerrung durch nationale Sperrklauseln bei Europawahl

„Glücklich sind solche Prognosen trotzdem nicht“, erklärte der Direktor des Munich Center for Law and the Humanities. Eine Verzerrung der Wahl sehe Haltern vielmehr durch andere Aspekte, wie zum Beispiel durch die unterschiedlichen nationalen Sperrklauseln.

Die Sperrklausel, die vorgibt, wie viel Prozent der Stimmen eine Partei erhalten muss, um ins Parlament einziehen zu können, ist bei der Europawahl von Land zu Land unterschiedlich geregelt. Innerhalb der EU soll ab 2029 ab einer Anzahl von mindestens 60 Sitzen im Parlament für die Parteien eine Sperrklausel von mindestens 3,5 Prozent der Stimmen gelten, um ins Parlament einziehen zu können. Dieser Regelung haben bereits 25 der 27 EU-Staaten zugestimmt. Die endgültige Zustimmung von Deutschland und Spanien steht noch aus.

Unterschiede bei Termin, Mindestwahlalter und Briefwahl: „Demokratisch ein Kompromiss“

Haltern erklärt, rechtlich seien die nationalen Unterschiede bei der Wahl des Europäischen Parlaments, wie das aktive und passive Mindestwahlalter, Modalitäten von Briefwahl, der Termin sowie die Sperrklausel zwar kein Problem, „demokratisch jedoch ein Kompromiss“.

Und auch die Regel, nach der Staaten im Europäischen Parlament repräsentiert werden, die sogenannte „degressive Proportionalität“, nennt Haltern ein Kompromiss. Größere Mitgliedstaaten haben demnach mehr Sitze als kleinere, kleinere Staaten dafür aber mehr Sitze pro Einwohner:innen.

Frankreich, Straßburg: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) spricht im EU-Parlament zu den Abgeordneten. Scholz will im Europaparlament seine Sicht auf die aktuelle Lage und die Zukunft der EU präsentieren. Foto: Kay Nietfeld/dpa
Frankreich, Straßburg: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) spricht im EU-Parlament im Mai 2023 (Archivbild) © Kay Nietfeld/dpa

Würde die EU auf echte Proportionalität setzen, würde ein Staat wie Malta „praktisch irrelevant“, erklärt er. Weil die EU kein Staat, sondern ein Staatenverbund ist, wolle man „zwar die Bürger unmittelbar repräsentiert sehen, aber man will auch nicht die mitgliedstaatlichen Stimmen komplett zum Schweigen gebracht sehen“, sagt der Europarecht-Professor.

Vorgehen gegen Demokratie-Defizit: Mehr Macht für das Europäische Parlament

Immer wieder steht das Demokratiedefizit der EU zur Debatte. Dabei geht es meist um das Wahlsystem und die Kompetenzverteilung zwischen gewählten und nicht gewählten Institutionen. Wichtige Entscheidungen würden in der EU häufig in Gremien gefällt, die vom Volk nicht direkt legitimiert sind, lautet dabei die Kritik.

Das Europäische Parlament, als einzige direkt vom Volk gewählte Institution, hat im Laufe der Zeit bereits an Bedeutung gewonnen. Das zeigt sich auch darin, dass das Europäische Parlament mittlerweile in vielen Bereichen gleichberechtigt mit dem Ministerrat über europäische Gesetze und den EU-Haushalt entscheidet.

Reformen für Einheitlichkeit der Europawahl scheitern an Einstimmigkeit der Staaten

Und auch die Aspekte rund um die Wahl wolle das Europäische Parlament reformieren und dabei auf mehr Einheitlichkeit setzen. Dabei fehle es allerdings an Einigkeit innerhalb der EU, erklärte Haltern: „Die Mitgliedstaaten wollen sich in wichtigen Themen nicht komplett die Butter vom Brot nehmen lassen.“ (pav)

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