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Geflüchtete Frauen im Libanon: Die Gebeugten

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Khawla Hassan gräbt Löcher zur Bewässerung von Mangobäumen auf einem Feld in Anjar. Philippe Pernot
Khawla Hassan gräbt Löcher zur Bewässerung von Mangobäumen auf einem Feld in Anjar. Philippe Pernot © Philippe Pernot

Viele Syrerinnen, die mit ihren Familien vor dem Krieg flohen, leisten im Libanon harte Arbeit. Sie schuften auf Feldern zu Hungerlöhnen, leiden unter chronischen Schmerzen und willkürlicher Gewalt ihrer Vorgesetzten. Doch allmählich regt sich Widerstand / Von Marine Caleb, Philippe Pernot und Francois Robert-Durand

Gebeugt gräbt Khawla Hassan Löcher um Apfel-, Pflaumen- und Mangobäume. Die Hälfte ihres Gesichts ist von ihrem Kopftuch verborgen, um sich vor dem Staub zu schützen. Auf diesem Feld in der Nähe von Anjar lässt eine sanfte Brise die noch schlafenden Bäume tanzen. Nicht unweit der Grenze zu Syrien umgeben alte Ruinen und verschneite Berge diese Felder der Bekaa-Ebene, Libanons Kornkammer.

Es ist 10 Uhr an diesem Frühlingsmorgen, schon brennt die Sonne. Doch für Khawla ist es immer noch Winter. Die Saison beginne erst im Mai, sagt die 38-jährige Syrerin aus Aleppo. „Hier in Anjar gibt es während der fünf Wintermonate keine Anpflanzungen, nicht einmal Kartoffeln“, bedauert sie. Zur Vorbereitung für den Sommer gräbt sie jedoch schon einmal mit ihrer Spitzhacke Bewässerungsgraben um die Bäume herum.

Bis zum Sommer besteht ihre einzige Aufgabe darin, Ali Ibrahims Obstgarten in Anjar zu pflegen. Dafür erhält die Mutter von sechs Kindern allerdings keinen Lohn. „Im Winter brauchen wir nur Hilfe beim Entfernen von totem Holz und Steinen. Der Besitzer bezahlt uns nicht, aber im Gegenzug dürfen wir das Holz kostenlos abholen, um zu heizen“, sagt Ibrahim aus Aleppo. Der syrische Hausmeister lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern auf dem Grundstück, das er für den libanesischen Besitzer verwaltet.

Yamama Haj Mohamed säubert ein Bohnen-Feld in Riayk.
Yamama Haj Mohamed säubert ein Bohnen-Feld in Riayk. © Philippe Pernot

Khawla Hassans Tag beginnt zwischen 6 und 7 Uhr morgens. „Ich stehe auf, bereite die Kinder für die Schule vor und mache den Haushalt.“ Anschließend fährt sie mit ihrer 16-jährigen Tochter Ikhlass in einem Lieferwagen zu dem jeweiligen Feld – je nachdem, wo sie gerade gebraucht werden.

Wie Khawla geht es vielen anderen Frauen im Libanon: Dort stellen sie nach Angaben der Weltbank 43 Prozent der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Der wahre Prozentsatz dürfte aber deutlich höher liegen. Das liegt daran, dass 85,7 Prozent der Landarbeiter:innen informell beschäftigt sind – die Mehrheit davon Frauen, so eine Studie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) aus dem Jahr 2021.

Pausen sind nicht erlaubt, Krankschreibungen auch nicht

„Es gibt keine bestätigten Zahlen, aber man kann davon ausgehen, dass syrische Frauen die große Mehrheit der Feldarbeiter:innen stellen. Und für die gleiche Arbeit verdienen sie nur halb so viel wie Männer“, bestätigt Zeinab Dirani, Beauftragte der feministischen NGO Fe-Male, die ein Büro in der Bekaa-Ebene betreibt.

Pausen sowie Krankschreibungen sind verboten, und die Arbeit ist zermürbend. „Wir haben weder Urlaub noch Wochenende und arbeiten jeden Tag fünf bis zehn Stunden“, kritisiert Khawla Hassan. Sie klagt über chronische Rückenschmerzen. Bei der Arbeit muss sie auch ihren anderthalbjährigen Jüngsten tragen. „Manchmal kann ich kaum arbeiten, weil ich ständig Schmerzen in den Füßen und Beinen habe. Dagegen nehme ich Schmerzmittel, aber die sind sehr teuer, und ich kann sie mir nicht immer leisten“, erzählt sie.

Das Flüchtlingslager in der Bekaa-Ebene, in dem Khawla Hassan lebt.
Das Flüchtlingslager in der Bekaa-Ebene, in dem Khawla Hassan lebt. © Philippe Pernot

Selbst im Sommer beträgt Khawlas Tagesgehalt nicht mehr als 100 000 libanesische Pfund. Vor einem Jahr waren das umgerechnet zirka vier Dollar – heute aufgrund der stetigen Abwertung der libanesischen Lira nur noch etwa ein Dollar, nach dem aktuellen Schwarzmarktkurs. Die Mutter muss dennoch ihre Familie ernähren, die Miete von vier Millionen Lira (etwa 40 Dollar), sowie den Strom für umgerechnet 25 Dollar pro Monat bezahlen. „Mein Mann ist Lkw-Fahrer und verdient ein wenig Geld, aber unsere beiden Gehälter reichen für acht Personen längst nicht aus.“

So ist die Familie Hassan auf die wenigen Hilfen des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) angewiesen, das für syrische Geflüchtete im Libanon zuständig ist. Sie erhält eine finanzielle Unterstützung von fünf Millionen Lira, etwa 50 Dollar, die sie nur in Supermärkten verwenden kann. Letztere zweigten davon auch noch heimlich einen Prozentsatz ab, beklagt sie. Nicht nur deswegen fühlt sich Khawla vom UNHCR im Stich gelassen. „Mein Sohn Hussein leidet an körperlicher Behinderung, doch bekommen wir keinerlei Unterstützung für ihn“, kritisiert sie. „Und mein jüngster Sohn ist bereits anderthalb Jahre alt – wir warten aber immer noch darauf, dass er von den UN-Behörden registriert wird.“

Viele werden zur „freiwilligen Rückkehr“ nach Syrien gezwungen

Der libanesische Staat verwehrt syrischen Geflüchteten in seinem Gebiet jegliche Unterstützung. Schlimmer noch: Vergangenes Jahr führte die Armee Razzien in den Lagern der Bekaa-Ebene durch, um Fernseher und Satellitenschüsseln zu entfernen und nicht registrierte Personen zu inhaftieren. „Sie kamen, als wir schliefen. Mohamed, mein Mann, hat eine Arbeitsgenehmigung, also haben sie uns nichts getan. Aber andere Männer wurden auf die Polizeistation gebracht und geschlagen, bevor sie freigelassen wurden“, erinnert sich Khawla. So versuche die Regierung auf die Geflüchteten Druck auszuüben, bis diese vermeintlich freiwillig nach Syrien zurückkehrten. Diese staatlich orchestrierte Kampagne zur „Freiwilligen Rückkehr“ basiere dementsprechend auf einem Klima der Angst, meint sie.

Die Frauen verdienen umgerechnet etwa einen Dollar pro Tag.
Die Frauen verdienen umgerechnet etwa einen Dollar pro Tag. © Philippe Pernot

Doch oft kommt die Gewalt aus dem nächsten Umfeld – direkt vom Shawish, dem Feldverantwortlichen. „Der Shawish, mit dem ich in Bar Elias arbeite, ist rassistisch und behandelt uns wie Sklaven. Wir sind 40 Arbeiterinnen und müssen wie Maschinen arbeiten“, berichtet Khawla.

Shawishe stehen direkt mit dem Landbesitzer in Kontakt und können sowohl für ein Feld als auch für ein Geflüchtetenlager verantwortlich sein. Die Feldarbeiterin erklärt, dass sie ihnen gegenüber oft gewalttätig würden, unter anderem um Produktivitätsquoten zu erfüllen. „Sie schreien ,Los, schneller!‘ und beschimpfen uns häufig. Sie schlagen uns, wenn wir zu langsam sind“, sagt sie.

Feldbesitzer drangsalieren die Frauen, belästigen sie auch sexuell

Zeinab Dirani von Fe-Male bestätigt diese systematischen Gewalttaten: „Auf den Feldern habe ich sehr viel Gewalt von Seiten der Shawishe gesehen, hin bis zur sexuellen Belästigung.“ Viele Frauen ließen diese Übergriffe aus Angst vor einer Rüge oder Entlassung einfach geschehen. „Zur Polizei gehen ist keine Option, weil es keine Konsequenzen geben wird. Und es ist für sie schwierig, einen Shawish zu verlassen, weil die Frauen dafür die Zustimmung ihres Mannes bräuchten und gleichzeitig ihre gesamte Gemeinschaft verlassen müssten“, erklärt sie.

Der Libanon mit seinen Grenzen zu Syrien und Israel
Der Libanon © FR-Grafik

Angesichts der Gewalt eines Vorgesetzten sind Frauen manchmal dennoch darauf angewiesen, anderswo nach Arbeit zu suchen. Das bestätigt Khalil El Chehab, ein junger Shawish. Er verwaltet ein 24 Hektar großes Grundstück in Jeb Jenine und beschäftigt hauptsächlich Frauen und Mädchen. Nach eigenen Angaben übt er keinen Druck auf sie aus. „Einige Frauen sind sogar zu mir gewechselt, um der Gewalt anderer Verantwortlichen zu entgehen.“

Geflohen aus Syrien

Der Libanon hat im Vergleich zu der Zahl seiner Einwohner:innen weltweit am meisten Geflüchtete aus Syrien aufgenommen: Nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) sind mehr als 840 000 Flüchtlinge offiziell registriert, doch ihre Zahl wird weit höher geschätzt.

Für die geflüchteten Menschen bedeute das Leben im Libanon einen täglichen Kampf, schreiben die UN, da die meisten nur über geringe oder keine finanziellen Mittel verfügten. Viele lebten von kleinen Jobs im informellen Sektor. osk

Wenn ein Feldwechsel nicht möglich ist, haben die Frauen keine andere Wahl, als durchzuhalten und sich gegenseitig zu unterstützen. „Wir helfen einander. Wenn ich zum Beispiel krank werde, übernimmt eine andere Frau meine Schicht“, erklärt Khawla. „Zwar können wir uns nicht finanziell helfen, doch gibt es zwischen uns eine starke emotionale Unterstützung.“

Das Mango- und Apfelfeld, das Ali Ibrahim in Anjar betreibt, wird von keinem Shawish beaufsichtigt. Gerade dort arbeitet sie am liebsten: „Hier kennt man sich schon lange, und die Arbeiterinnen werden respektiert. Wir bekommen mehr Gehalt, und ich kann mich zwischendurch ausruhen sowie mein eigenes Tempo bestimmen.“

Viele Frauen solidarisieren sich, um höhere Löhne zu fordern

Einige Dutzend Kilometer weiter nördlich, in Richtung Baalbek, treffen wir die 20-jährige Yamama Haj Mohammad und ihre jüngere Schwester, die ein Feld mit Bohnen für den Sommer vorbereiten. Auch hier, auf dem kleinen Grundstück in Riyak, werden sie von keinem Shawish unter Druck gesetzt. „Der Besitzer ist sehr nett zu uns. Ich kann eine Pause machen, wenn ich müde bin. Er ist ein anständiger Mann“, berichtet sie. „Ich mag die Felder, ich habe mich daran gewöhnt“, sagt Yamama, die vor neun Jahren aus Raqqa geflohen ist. Die verheiratete Mutter von mehreren Kindern träumt davon, weiter zu studieren und Kinderärztin zu werden. „Aber die einzige Arbeit, die es hier gibt, ist auf dem Feld, nur so kann man Geld verdienen“, sagt sie resigniert.

In der Feldarbeit gibt es keine Verträge: Die Löhne werden hier auf Vertrauensbasis zwischen Arbeitnehmerinnen und Vorgesetzten festgelegt. „Es ist schon vorgekommen, dass die Frauen ihre Arbeit niedergelegt haben, um von den Shawishen einen höheren Lohn zu fordern“, erklärt Ali Ibrahim. Auf diese Weise haben die Feldarbeiterinnen der Bekaa einige Male erfolgreich Tariferhöhungen erwirkt. Alle Shawishe im Tal müssen sich dann auf einen Tageslohn einigen. „Wir hoffen, dass wir in der nächsten Saison sechs Dollar pro Tag erhalten werden“, sagt der Pächter. Das ist nun umso nötiger: Miete und Strom müssen immer häufiger in Dollar bezahlt werden, da die Lira seit Anfang der Wirtschaftskrise 2019 etwa 98 Prozent ihres Wertes verloren hat.

In ihrem früheren Leben in Syrien arbeitete Khawla als Schneiderin

Um Krise und Gewalt zu überstehen, findet Khawla vor allem in ihrer Familie Unterstützung – insbesondere bei ihrer Tochter Ikhlass, die mit ihr zusammenarbeitet und die Aufgaben teilt. Wenn sie zwischen 13 und 15 Uhr vom Feld nach Hause kommen, müssen beide sich ihrem zweiten, unbezahlten, Job widmen. „Jeden Tag müssen wir drei Stunden lang kochen und zwei Stunden lang putzen“, seufzt Khawla. Dabei benötigt ihr siebenjähriger Sohn Hussein, der körperlich behindert ist, zusätzliche Zuwendung. „Manchmal bin ich nicht in der richtigen Stimmung und müde, dann ist es echt zu viel. Aber wir müssen für ihn durchhalten.“

Es ist 22 Uhr, die Kälte setzt sich im Tal fest. Mutter und Tochter stecken bereits viele Stunden harter Arbeit in den Knochen. Warme Decken verbergen die Kinder, die in einer Ecke des Zimmers tief und fest um den Holzofen schlafen. „Ich arbeite in erster Linie für sie und ihre Zukunft“, sagt Khawla. „Mein Ziel ist es, meinen Kindern ein menschenwürdiges Leben, eine gute Unterkunft und eine bessere Ausbildung zu bieten.“

Nach Einbruch der Finsternis lässt sich über das sprechen, was man einst war und was man werden könnte. In einem früheren Leben war Khawla Schneiderin, bevor sie das zerbombte Syrien verlassen musste. Ihre zwölfjährige Tochter Israa würde gerne Anwältin werden, und der 16-jährige Zakaria möchte nach Deutschland gehen, um Fotograf zu werden. Weit weg von den Feldern, die sie in ihren Träumen hinter sich lassen – aber zu denen sie am nächsten Morgen unausweichlich zurückkehren müssen.

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