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„Wagnis, Erleichterung, Aufmüpfigkeit“

Der heute 101-jährige Alumnus Hans-Ulrich Hercher war ein Student der ersten Stunde der Freien Universität Berlin

23.10.2023

Hans-Ulrich Hercher wechselte im Wintersemester 1948/49 an die neu gegründete Freie Universität Berlin.

Hans-Ulrich Hercher wechselte im Wintersemester 1948/49 an die neu gegründete Freie Universität Berlin.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Wenn Hans-Ulrich Hercher an den Tag seiner Immatrikulation zurückdenkt, reist er in Gedanken fast 80 Jahre in die Vergangenheit. So lange ist es her, dass der promovierte Jurist zum ersten Mal im Hörsaal saß: Es ist das Sommersemester 1946, Berlin liegt in Trümmern, und die ebenfalls zum Teil zerstörte Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden, die von Februar 1949 an den Namen Humboldt-Universität tragen wird, hat gerade den Lehrbetrieb wieder aufgenommen.

Der junge Hans-Ulrich Hercher hatte sich unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft im Winter 1945 um einen Studienplatz bemüht. So einfach war das allerdings nicht im kriegszerstörten Berlin: „Bevor wir uns bewerben durften, mussten wir zwei Monate lang beim Wiederaufbau der Universitätsgebäude helfen“, erinnert sich der 101-Jährige.

Er habe jeden Tag hart gearbeitet, konnte den Beginn seines Jura-Studiums kaum erwarten: „Wir alle hatten durch den Krieg so viele Jahre unseres Lebens verloren. Die Juden, denen es gelang, sich zu verstecken, und wir anderen im Kampf, deshalb wollte ich nicht noch mehr Zeit verstreichen lassen.“

Bevor der wache alte Herr, der heute in einem Seniorenheim am Wannsee lebt, von seiner Studienzeit berichten kann, die ihn später auch an die Freie Universität Berlin führen sollte, möchte er noch etwas klären. Die Frage nämlich, wie er in einem Hörsaal voller Jura-Studierender landete. Als er 1940 als Gymnasiast seine Heimatstadt verließ, um für Hitler in den Krieg zu ziehen ­– „einen Krieg, den ich vom ersten bis zum letzten Tag abgelehnt habe“ ­–, habe seine Familie für ihn den Plan gehabt, Medizin zu studieren. Zwei Brüder seines Vaters waren Ärzte, Hans-Ulrich Hercher sollte ihnen in dem Beruf nachfolgen.

Und so wurde er, nachdem er zunächst als Infanterist „geholfen hatte, Frankreich zu besetzen“, als Sanitäter in ein Feldlazarett in Griechenland versetzt. „Natürlich war es eine tolle Sache für einen nicht ganz bildungsfernen Mann, in Athen zu sein“, sagt Hercher, dessen Vater als Verwaltungsdirektor an einem Berliner Krankenhaus tätig war. „Aber was ich alles an Verletzungen gesehen habe… das war wie Stalingrad, nur nicht so kalt.“ Zurück in Deutschland konnte er sich nicht vorstellen, jemals wieder im medizinischen Bereich tätig zu werden. Also folgte Hans-Ulrich Hercher beruflich nicht den Onkeln, sondern seinem Vater und schrieb sich für ein Studium der Rechtswissenschaften ein. 

Hans-Ulrich Hercher erinnert sich: „An eine im Aufbau befindliche Universität zu gehen, um dort zu promovieren, war ein Wagnis für uns alle.“

Hans-Ulrich Hercher erinnert sich: „An eine im Aufbau befindliche Universität zu gehen, um dort zu promovieren, war ein Wagnis für uns alle.“
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Er blickt beim Erzählen durch sein Zimmerfenster in den grünen Hof der Seniorenresidenz. Doch vor dem inneren Auge sieht er das Berlin seiner Studienzeit. Er erinnert sich an viele Details: Namen, Gebäude, S-Bahnstationen, Ereignisse der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er lässt sich Zeit beim Erzählen, ist immer wieder selbst überrascht, was ihm noch einfällt.

Seine Kommilitonen etwa. Eine „muntere Clique“ sei das gewesen. „Wir haben uns oft gegenseitig eingeladen. Als Studierende hatten wir es vergleichsweise gut, denn wir bekamen die Lebensmittelkarte 2 und damit immer genug zu essen“, erinnert er sich. „Als Gastgeschenke brachten wir ein halbes Brot mit. Oder Kartoffeln oder Kohlen.“

Über die Katholische Studentengemeinde lernte er bald seine spätere Frau kennen. „Das war wie eine Heiratsvermittlung damals“, sagt er lächelnd. Weil die russische Besatzung seiner Frau erst das Geografie-Studium, dann das Geschichtsstudium verwehrte, schrieb sie sich ebenfalls für Jura ein. Direkt nach ihrem Abschluss heiratete das Paar und bekam zwei Töchter, von denen eine ebenfalls Juristin wurde. Bis zum Tod seiner Frau unterhielten sie sich viel über juristische Fragen, erzählt Hercher. Und auch mit den alten Freunden blieb er zeitlebens in Kontakt.

Was die Gruppe schon zu Studienzeiten verband, war der wachsende Unmut über die Einflussnahme auf die Lehre durch die russische Besatzung, in dessen Zone die Friedrich-Wilhelms-Universität lag. Anfangs sei das noch „unterhaltsam“ gewesen: „Eine Vorlesung des russischen Kulturoffiziers zu Marx und Hegel? Na schön, dachten wir uns, das kann man ja ruhig mal mitnehmen.“ Doch schon bald habe die Beeinflussung auf die Lehre überhandgenommen. In einer Vorlesung zum Verfassungsrecht etwa sei die sowjetische als die „beste“ Verfassung gelehrt worden, erinnert sich Hercher. „In Klausuren mussten wir bestimmte Standpunkte vertreten, um zu bestehen. In vielen Veranstaltungen wurde im Sinne des sowjetischen Ideals benotet.“

Und so beschlossen Hans-Ulrich Hercher und seine Kommilitonen im Wintersemester 1948/49, eingepackt in warme Wintermäntel, weil es in den Hörsälen Unter den Linden durch die vereisten Fenster zog, für ihr letztes Semester an die neu gegründete Universität im Westsektor zu wechseln. Die Freie Universität Berlin war die Antwort auf eine zunehmend unfreie, vom Kommunismus beeinflusste Lehre. Hier sollte freies Denken nicht nur erlaubt sein, sondern war ausdrücklich erwünscht.

„An eine im Aufbau befindliche Universität zu gehen, um dort zu promovieren, war ein Wagnis für uns alle“, sagt Hans-Ulrich Hercher. „Es war aber auch eine Erleichterung, endlich freie Gedanken denken und aussprechen zu dürfen. Und ja, es war auch Aufmüpfigkeit gegen ein System, mit dem wir nicht einverstanden waren.“

Der Hörsaal 113 sei in seiner Erinnerung der Ort, an dem er sein Studium schließlich so habe führen können, wie er es wollte. „Wir haben miteinander diskutiert, Meinungen ausgetauscht, einander zugehört. Jeder durfte seine Gedanken äußern. Es hat sich für uns tatsächlich angefühlt, wie ein Neuanfang.“

Was zu diesem Neuanfang aber auch dazu gehörte: „Das erste Semester an der Freien Universität war etwas durcheinander. Die Verwaltung musste erst aufgebaut, Lehrkräfte mussten herangezogen und Wohnungen beschafft werden.“ Brauchbare Bibliotheken habe es zu Beginn ebenfalls nicht gegeben, erinnert sich Hercher: „Die Nazi-Bücher gingen ja alle nicht mehr, der Bestand in der Stabi war deshalb geradewegs verpönt, und neue Literatur gab es noch kaum.“

Umso bedeutsamer wurden die Vorlesungen. An der Freien Universität kamen Dozierende zu Wort, die es anders machen wollten. „Wir haben Kurse in Kurzschrift belegt, damit wir das alles mitschreiben konnten“, sagt Hans-Ulrich Hercher. Wieder denkt er an seine Freunde, die damals neben ihm im Hörsaal saßen: Kriegsversehrte, Juden, die es geschafft hatten, sich vor den Nationalsozialisten zu verstecken, und „verhältnismäßig viele Frauen“ seien dabei gewesen. Eine vom Krieg gezeichnete Generation, die gemeinsam in eine neue Zeit aufbricht.

Sie alle seien nach dem Studium an der Freien Universität Berlin ihren Weg gegangen. Wurden Richter, Rechtsanwälte, Notare. Und blieben zeitlebens enge Freunde.

Hans-Ulrich Hercher promovierte zur Wahrheitspflicht der Parteien im Zivilprozess und arbeitete anschließend jahrzehntelang für verschiedene große Versicherungen. Wenn er auf sein Studium an der Freien Universität zurückblickt, ist sich Hans-Ulrich Hercher sicher: „Es war ein ziemlicher Glücksfall, dass ich mich dort beworben habe.“