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Leseprobe: Pilgern

Einmal in großer Einsamkeit alles hinter sich lassen - auf dem Olavsweg in Norwegen

Inhaltsverzeichnis

Wenn man im Himmel säße und herabschaute auf die Wege der Christen, dann sähe man an der spanischen Atlantikküste eine Art Ameisenstraße, den Jakobsweg: ein Gewimmel aus Hunderttausenden von Wallfahrern unterwegs nach Santiago de Compostela. Und 2500 Kilometer weiter nordöstlich einen weiteren Pfad, den aber selten mehr als fünf Pilger gleichzeitig beschreiten. Den norwegischen Olavsweg.

Dieser mittelalterliche Pilgerpfad ist der Gegenentwurf zum Jakobsweg: einsam und halb vergessen, selbst sommers oft kühl. Eine rund 650 Kilometer lange Wanderung, die den Menschen quält mit Wind und Regen, mit Fels­brocken und rutschigen Planken. Die sich in Täler hinabneigt, bald brausende Straße, bald dünner Pfad; gesäumt von Birkenhainen wie von Flechtenteppichen. Die sich durch ewig nassen Sumpf zieht und über englischen Rasen.

"Der Jakobsweg lebt von der Begegnung", sagt Uwe Henschen, "der Olavsweg von der Natur." Der 53-jährige Fluglotse aus dem westfälischen Lippstadt ist viermal durch Spanien gepilgert, seit 24 Tagen wandert er nun durch Norwegen. Sein Ziel ist der Trondheimer Nidarosdom, Grab des heiligen Olav, der das Christentum in den Norden brachte.

Vor 20 Jahren wäre Henschen vermutlich als Kauz belächelt worden: Pilgern, klang das nicht nach Mittelalter, nach Vormoderne? Doch seit der Jahrtausendwende erlebt das Wandern auf religiösen Pfaden einen gewaltigen Aufschwung. Im Jahr 2006 veröffentlichte der Entertainer Hape Kerkeling ein Buch über seine Erfahrungen bei der Begehung des Jakobswegs: "Ich bin dann mal weg" führte 100 Wochen lang die Sachbuch Bestsellerliste an.

Seither ist das Pilgern unter Deutschen eine Massenbewegung. Den Jakobsweg bewandern in der Hochsaison mehr als 40.000 Menschen pro Monat. Das fördert nicht nur deren Seelenheil, sondern auch die Tourismusbranche.

Daher vermarkten die Norweger nun auch ihre eigene alte Wallfahrtsroute wieder, haben Wegmarken gesetzt und Pilgerbüros eingerichtet.

Im Mittelalter strömten Wanderer aus ganz Europa zum Grab des heiligen Olav nach Trondheim. Doch im 16. Jahrhundert setzten sich die Anhänger Martin Luthers in Norwegen durch und verboten die Wallfahrt; als Gegner des Ablasshandels lehnten sie es ab, zu Heiligtümern zu pilgern, um dort die Strafen für begangene Sünden erlassen zu bekommen. Der Olavsweg verwaiste.

Heute ist die norwegische Kirche in dieser Frage nicht mehr so streng. Außerdem wollen die Pilger längst nicht mehr dem Fegefeuer durch eine Wallfahrt entgehen – die Motive für die wochenlangen Wanderungen haben sich grundlegend verändert. Daher interessieren sich inzwischen auch Wissenschaftler für das Phänomen und fragen: Wer geht da eigentlich pilgern? Was unterscheidet das Pilgern vom Wandern? Und vor allem: Verändert es den Menschen?

Bei einer Befragung von 1100 Menschen auf dem Jakobsweg kam heraus, dass nicht einmal jeder Vierte vorrangig aus religiösen Gründen pil­gerte. Die meisten wollten vielmehr "sich selbst finden", sich "aus dem Alltag ausklinken", "die Stille" genießen – oder "die spirituelle Atmosphäre".

Auf dem Dovrefjell, einer kargen Hochebene, begegnen Pilger mitunter tagelang keiner Menschenseele. Dort kann man ungehindert die Blicke schweifen lassen - und seine Gedanken
Auf dem Dovrefjell, einer kargen Hochebene, begegnen Pilger mitunter tagelang keiner Menschenseele. Dort kann man ungehindert die Blicke schweifen lassen - und seine Gedanken
© Espen Eichhöfer/Agentur Ostkreuz

Der Hagener Sozialwissenschaftler Christian Kurrat hat die Pilger erforscht und beschreibt fünf Typen:

  • Der
  • Bilanzierer
  • ist
  • über
  • 50
  • und
  • nimmt Rückschau auf das eigene Leben.
  • Der
  • Krisenbewältiger
  • hat
  • einen
  • schweren Schicksalsschlag erlitten. Er
  • will wieder zu sich selbst finden.
  • Der
  • Auszeitnehmer
  • versucht
  • dem
  • täglichen Stress zu entkommen, will Abstand und Ruhe. Auch um zu überlegen,
  • wie er sein Leben besser gestalten und
  • mit Bedeutung füllen kann.
  • Der
  • Übergangspilger
  • steht
  • vor
  • einem neuen Lebensabschnitt, etwa dem
  • Eintritt ins Rentenalter. Er will sich über
  • die Möglichkeiten, die Vor- und Nach­teile des Kommenden klarer werden.
  • Der
  • Neustarter
  • versucht
  • ein
  • weiteres Kapitel im Leben aufzuschlagen,
  • etwa nach einer Scheidung oder einem
  • Berufswechsel. Das Durchhalten beim
  • Wandern ist ihm besonders wichtig.

"Oft stehen Pilger an einem Wendepunkt in ihrem Leben", bestätigt Morten Carlmark, ein junger Pfarrer, der vier Jahre lang Wanderer in Trondheim betreut hat. "Der Olavsweg ist bodenständig. Wer ihn läuft, beschäftigt sich nicht mit dem Himmel, sondern mit der Erde."

Noch ist man dabei meist ziemlich für sich; keine 1000 Menschen im Jahr bewandern den norwegischen Pilgerpfad. An fünf aufeinanderfolgenden Tagen im frühen September, als selbst in Norwegen noch eine Art Spätsommer herrscht, trifft Uwe Henschen auf: eine deutsche Reisegruppe, die Elche sucht, zwei polnische Turbowanderer mit Ultraleichtgepäck, drei Norweger auf Wochenendausflug sowie ein hochbetagtes Paar, das sich von einer langweiligen Hochzeitsfeier erholt.

Henschen hat die beliebteste der vielen Routen gewählt, die zum Nidarosdom führen. Er hat an einem Morgen die Ausläufer Oslos hinter sich gelassen, später Rast gemacht in hölzernen Stabkirchen und schließlich das Gudbrandsdal durchquert, auf dessen Hügeln Ziegen grasen. Jetzt steht er am Fuß des Dovrefjells: vor sich gut 80 Kilometer Hochland, über das selbst im Juli Schneestürme fegen können, ein stetes Auf und Ab, immer entlang der Baumgrenze. Noch heute gibt es an der Wanderroute keine Siedlungen und Geschäfte. Es ist der größtmögliche Gegensatz zur Großstadt am Ende des Weges.

"Ich liebe die Weite", sagt Henschen, kinderlos, ungebunden. "Ich bin ganz froh, wenn ich niemanden treffe." 400 Kilometer hat er bereits hinter sich.

Nun liegt die zentrale Etappe des Olavswegs vor ihm – das Dovrefjell mit seiner Tundralandschaft, 190 Kilometer vor dem Ziel.

Drei weiße Häuser strahlen zwischen Heidekraut und Flechten, 1000 Meter über dem Meer. Ein wortkarger Mann hütet Schafe, eine rastlose Frau kocht Rentierhack mit Preiselbeeren. Die Gebäude gehören zum Hof von Christiane und Laurits Fokstugu, in dem Pilger übernachten können. Morgens, mittags und abends läutet Laurits die Glocke auf der Scheune – auch dann, wenn keine Gäste bei ihnen sind. Oder wenn Schneewehen den Hof von der Außenwelt abschneiden.

Die kleine, aus Holzplanken selbst gezimmerte Kapelle mit dem grasbewachsenen Dach, in der die beiden mit ihren Gästen beten, ist kaum mehr als ein Verschlag, aber sie bietet Zuflucht.

Die Pilger trügen oft mehr mit sich herum als ihre Rucksäcke, sagt Chris­tiane Fokstugu: Auch ihre Seelen seien belastet. Viele hätten eine ernste Krankheit überwunden oder einen Angehörigen verloren. Hier aber leerten sich die Rucksäcke, ebneten sich Unterschiede zwischen Armen und Reichen, Gesunden und Kranken, Jungen und Alten ein.

Denn die Pilger bräuchten all ihre Energie für den mühsamen Weg durchs Hochland. Da bleibe schlicht keine Kraft, sagt Christiane, um sich zu verstellen, sich zu belügen. "Das Fjell kleidet dich ab."

Den gesamten Text lesen Sie in der neuen Ausgabe von GEO WISSEN "Was gibt dem Leben Sinn?".

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GEO WISSEN Nr. 53 - 05/14 - Was gibt dem Leben Sinn?

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