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Landwirtschaft Das System Kuh

Landwirtschaft: Nur eine Nummer?
Nur eine Nummer?
© Solvin Zankl
Wachsen oder weichen? Hightech oder Bullerbü? Vor dieser Frage stehen alle Milchbauern in Deutschland. Ein Besuch in den Stallwelten der melkenden Roboter und des gesexten Spermas

Wachsen oder weichen? Das ist die Wahl, vor der jeder deutsche Milcherzeuger bereits stand, gerade steht oder bald stehen wird. Jeder dritte hat in den vergangenen Jahrzehnten hingeschmissen. Die Anzahl des Milchviehs hierzulande blieb dagegen relativ konstant. Viele der über vier Millionen Kühe tauchen jedoch in der Landschaft nicht mehr auf. Statt auf Weiden verbringen sie ihr Leben im Stall, auf Strohmehl und Komfortmatratzen.

Die Antwort auf die Frage, wie es ihnen geht, hängt auch davon ab, wem man sie stellt. Jan Gerdes, ein Aussteiger aus der Milchwirtschaft, stiefelt über seine Wiesen im nordfriesischen Butjadingen und ruft gegen den Wind: "Entweder du beginnst, die Kuh als Maschine zu sehen. Oder du wirst krank über das ganze Leid in deinem Stall." Anders Markus Hübers, 250 Kühe, 150 Hektar Land in Rees nahe Kleve. Er sagt: "Für mich gibt es nichts Schöneres als den Anblick einer grasenden Kuh. Aber, hey, wir sind kein Kuschelbauernhof! Wir wollen Leistung."

Heute ist der Bauer Herdenmanager

Hübers hat zweifellos einen guten Blick auf die Dinge. Mitten in seinem neuen Stall hat er sich einen Turm bauen lassen und oben sein Büro eingerichtet, verglast. Man sieht von hier die Kühe auf Matratzen in offenen Boxen liegen und wiederkäuen. Einige fressen, einige trinken, und andere lassen sich von rotierenden Bürsten massieren. Wenn Hübers die Aussicht aus seinem Büro erklärt, klingt er wie ein Betriebswirt. Es geht um Hoch- und Niederleistungsgruppen, um Remontierung und Management der Herde.

Es ist Mittagszeit, und Hübers blickt auf ein Display, das zum Melkroboter gehört. "Herde in Milch" steht da: "212". Darunter listet der Computer, welche Kuh zuletzt am Melkstand war und welche Menge sie gegeben hat. Stellt sich eine Kuh länger als zwölf Stunden nicht von allein ein, dann leuchtet ihr Name rot auf dem Bildschirm. Und der Rechner schickt Hübers eine SMS aufs Handy - unabhängig von der Uhrzeit.

Landwirtschaft: Mit dem "Innenmelker" fahren pro Stunde 146 Kühe am Milchbauern vorbei. So kann er zumindest einmal pro Tag jedes Tier in Augenschein nehmen
Mit dem "Innenmelker" fahren pro Stunde 146 Kühe am Milchbauern vorbei. So kann er zumindest einmal pro Tag jedes Tier in Augenschein nehmen
© Solvin Zankl

Nummer 566 ist überfällig

Hübers legt bei aller Automatisierung doch noch Wert darauf, alle Kühe beim Namen zu kennen. Die 566 heißt Zauber. In der Nacht um 00.07 Uhr hat sie zuletzt den Roboter besucht, 13,3 Liter Milch gegeben. Hübers muss sie suchen und wie anno dazumal zum Melkstand treiben.

Der Robotermelkstand besteht aus einer engen Box, die sich schließt, sobald die Kuh sie betreten hat. Anhand eines Sensors am Halsband des Tieres stellt der Automat dessen Identität und "Melkberechtigung" fest. War die Kuh bereits kurz zuvor am Stand, wird sie mit einem leichten Stromschlag vertrieben, damit sie das System nicht blockiert. Sind hingegen seit dem letzten Melkgang 300 oder mehr Minuten verstrichen, schüttet das Gerät eine nach Kuh und Leistung bemessene Menge Kraftfutter aus. Während sie frisst, legt der Roboterarm die Melkbecher an die Striche, wie im Milchwirtschaftsjargon die Zitzen heißen.

Schwangerschaft und Milchproduktion

Etwa ein Drittel seiner Tiere, erzählt Hübers, habe die Umstellung auf den Melkroboter nicht mitgemacht und "schied vorzeitig aus der Produktion aus". Da waren Kühe, die nie von allein zum Stand kamen. Oder 30 Mal am Tag. Manche waren zu klein für den Melkstand oder zu fett - wie Lara, die mit 1000 Kilogramm rund 300 Kilo mehr als die Standardkuh auf die Waage brachte. Sie hatten zu kurze Striche oder waren zu zappelig, als dass der Roboter die Melkbecher hätte ansetzen können. Eine seiner Kühe fand Hübers eines Morgens tot im Melkstand, vermutlich Herzversagen.

Im Alter von 12 bis 20 Monaten wird eine Kuh erstmals besamt. Nach der Geburt werden Kuh und Kalb getrennt. Denn haben sich Mutter und Kind aneinander gewöhnt, bekommt man sie nur mit Gewalt auseinander. Die van den Bergs melken der Kuh dann zunächst die "Biestmilch" ab, das Kolostrum, um es an das Kalb zu füttern. Diese erste Milch soll das Immunsystem stärken. Während das Kalb in eine kleine Einzelbox kommt (der Saugdrang der Kleinen ist so stark, dass sie in einem gemeinsamen Stall einander die Ohren ablutschen würden), steht dessen Mutter nun erstmals in Milch. Sie laktiert. Nach einigen Wochen kommt sie in die Brunst, wird erneut besamt und idealerweise auch wieder trächtig. Denn ohne Nachwuchs gibt keine Kuh Milch. Für den Verbraucher bedeuten die auf Effizienz optimierten Höfe Milch und Butter zum Schleuderpreis. Was aber bedeutet das für die Tiere?

Auf jedem Hof gibt es eine "Troublegroup"

Landwirtschaft: Damit das automatische Melksystem die Zitzen findet, ist eine Einweisung am Eutermodell nötig
Damit das automatische Melksystem die Zitzen findet, ist eine Einweisung am Eutermodell nötig
© Solvin Zankl

Kein anderes tierisches Lebensmittel steht so für Gesundheit wie Milch. Der Ruf des Produkts scheint sich indes vom Zustand der Tiere entkoppelt zu haben. "Die hohe Leistung der Kühe ist mit dem Risiko schmerzhafter Krankheiten verbunden", sagt Ute Knierim, Professorin für Nutztierethologie in Kassel. Sterilität, Eutererkrankungen und Lahmheit, etwa durch Entzündung der Klauen, seien die häufigsten Beeinträchtigungen. "Oft liegen Stoffwechselstörungen zugrunde, und meist treten die Probleme nach der Abkalbung auf."

Rund sechs Wochen vor der Geburt eines Kalbes stellen die Bauern die Kuh trocken: Sie wird nicht mehr gemolken. Direkt nach dem Kalben beginnen die Tiere dann, schlagartig hohe Mengen an Milch zu produzieren. "Sie brauchen dafür sehr viel Energie", sagt Knierim, "haben aber oft wenig Appetit." Ergebnis: ein Energiedefizit und eine hohe Anfälligkeit für Krankheiten.

Statistisch sind die Dinge klar: Während die Leistungskurve in den vergangenen Jahrzehnten stetig stieg, sank die Lebensdauer der Kühe. Im Schnitt scheidet eine Milchkuh heute nach drei Laktationen aus der Produktion aus, im Alter von rund fünf Jahren. Aus der Hochleistungskuh wird dann eine Wurstkuh. Der häufigste Grund dafür sind Fruchtbarkeitsstörungen. Zwar kann auch ein unfruchtbares Tier alt werden - generell können Kühe ein Alter von etwa 25 Jahren erreichen -, aber sie stellt für den Bauern nur noch einen Kostenfaktor dar. Lange rumgedoktert wird deshalb nicht. Nach drei erfolglosen Besamungen werden die Tiere in der Regel getötet.

Das moralische Grunddilemma

Doch diese Statistik sagt nur bedingt etwas über einzelne Betriebe aus. "Mit dem heutigen Leistungspotenzial der Kühe ist der durchschnittliche Milchviehhalter häufig überfordert", sagt Ute Knierim. Aber einigen wenigen gelinge es, ihre Tiere so zu managen, dass deren Leistung nicht zwangsläufig auf Kosten der Gesundheit gehe. Und so gibt es zwar bei Hübers auf dem Hof eine Gruppe von Kühen, die sie trouble group nennen: Sorgengruppe. Kühe mit entzündeten Eutern, humpelnde Kühe, Kühe mit von Koliken aufgedunsenen Mägen. Aber während im bundesweiten Schnitt jede dritte Kuh im Laufe eines Jahres ausgewechselt wird, ist es bei ihm jede fünfte.

Die Kuh, so viel ist klar, ist nicht nur ein Tier, sondern ein System. Ein Geflecht von Interessen, unter denen der Tierschutz nur eine marginale Rolle spielt. Denn Gradmesser dafür, ob das System Kuh funktioniert, ist nicht die Gesundheit des Viehs, sondern die Menge an Milch, die es gibt. Jan Gerdes hat sich entschieden, aus dem System auszusteigen. Er sitzt in dem kleinen Esszimmer seines Hofes, Butenland. Zum Kaffee hat er drei Sorten Milch auf den Tisch gestellt: Reismilch, Hafermilch, Sojamilch.

1981 übernahm Gerdes den charmanten alten Backsteinhof mit den himmelblauen Holztüren auf der Nordsee-Halbinsel Butjadingen von seinem Vater. Statt zu modernisieren und zu vergrößern, stellte er den Betrieb auf Bio um. Seine Kühe hatten regelmäßig Weidegang, er ließ große Fenster in den dunklen Stall einbauen, streute großzügig Stroh ein. "Aber das alles änderte nichts an dem Grunddilemma", sagt Gerdes. Um Milch zu gewinnen, musste er die Kälber von der Mutter entfernen. Einige Wochen lang ließ er sie stets mitlaufen. Damit ermöglichte er den Kälbern die Bindung an die Mutter und den Kühen wiederum die Erfahrung des Mutterseins. Nur: Der Trennungsschmerz war danach umso größer. "Das Geschrei auf dem Hof, Tag und Nacht, ich hielt das nicht mehr aus."

2001 gab er auf. "Dann kam der Transporter, um die Tiere abzuholen. Ich sah meine Herde vom Hof fahren, zweistöckig." Zehn Jungkühe passten nicht mehr drauf, und Gerdes brachte es nicht übers Herz, sie später abholen zu lassen. Er lernte damals seine jetzige Lebensgefährtin kennen, Karin Mück. Von ihr stammt die Idee, Butenland in einen Tierschutzhof zu verwandeln.

Über 30 Rinder leben heute auf Butenland. Ehemalige Versuchstiere wie Manuela oder Alma. Kühe wie Uschi und Frieda, die nicht mehr viel Milch gaben und geschlachtet werden sollten. Oft seien es die Bauern selbst, die ihre Lieblingskühe vor dem Tod bewahren wollten und zu ihm brächten, erzählt Gerdes. Auf den saftigen Weiden von Hof Butenland grast heute nur eine Kuh, die auch Milch gibt, Dina. Sie säugt seit 25 Monaten ihr Kalb, den Ochsen Mattis.

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