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Ethik Warum wir aufhören sollten, Tiere für dumm zu halten

Pferde haben den Spiegeltest bislang nicht bestanden. Nach Albert Schweitzer ist das noch kein Grund, sie als Sportgerät zu benutzen oder zu verwursten
Pferde haben den Spiegeltest bislang nicht bestanden. Nach Albert Schweitzer ist das noch kein Grund, sie als Sportgerät zu benutzen oder zu verwursten
© Pitopia / Lumiance / mauritius images
Forschung zu "klugen" Tieren hat Konjunktur. Doch je mehr wir über nicht-menschliche Lebewesen wissen, desto unhaltbarer wird unser Umgang mit ihnen. Zeit, dass sich etwas ändert

Es vergeht kaum eine Woche, in der die Wissenschaft nicht Frappierendes über unsere tierischen Verwandten in renommierten Fachmagazinen veröffentlicht. Nicht im Sinne von irgendwelchen erstaunlichen sensorischen Fähigkeiten. Sondern im Sinne von: Die sind ja wie wir!

Schon länger bekannt ist, dass Menschenaffen und Delfine sich selbst im Spiegel erkennen können. Abzulesen daran, dass die Tiere einen Fleck auf ihrer Stirn, den sie nur im Spiegel sehen können, an sich selbst zu entfernen versuchen. Das ist nicht so trivial, wie es sich vielleicht anhört. Immerhin verstehen menschliche Kinder bis zu einem Alter von 18 Monaten nicht, was es mit dem Fleck und dem Spiegel auf sich hat.

Der bestandene Spiegeltest ist ein Hinweis darauf, dass Individuen von ihrem reinen Da-Sein abstrahieren können, eine Vorstellung von ihrem Äußeren und ihrem In-der-Welt-Sein haben. Es ist Teil dessen, was wir Ich-Bewusstsein nennen. Der Kreis der Lebewesen, die von der Forschung in diesen Zirkel aufgenommen werden, wächst beständig. Kürzlich haben den Test (wahrscheinlich) auch Hähne bestanden. Auch Putzerlippfische erkennen ihr Spiegelbild – und sich selbst auf Fotos.

Wir müssen also immer mehr Tierspezies eine Fähigkeit zugestehen, die wir bis vor kurzem – gemessen an der Geschichte der Wissenschaft – ausschließlich uns selbst zugetraut haben. Und das gilt für viele weitere, ehemals als exklusiv human gedachte Fähigkeiten und Verhaltensweisen: Orca-Bengel lernen von ihren Großmüttern. Kraken (die uns äußerlich so fremd sind) werden für ihre Schlauheit gefeiert. Springspinnen träumen. Vogelmütter singen ihren Küken im Ei Schlaflieder. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Und sie wird absehbar fortgesetzt werden. Wir können sicher sein: Vermeintlich rein menschliche Fähigkeiten und Verhaltensweise sind im Reich des Lebendigen viel weiter verbreitet, als bislang angenommen. Was wissen wir denn über das Liebesleben der Tiefsee-Bewohner? Oder über den Schlaf der Mauersegler, eines Vogels, der (noch) überall in unseren Städten vorkommt, aber seine Nächte in den Wolken verbringt?

Zu der begrenzten Auswahl von wissenschaftlichen Fragestellungen und Spezies, die zur Untersuchung ausgewählt werden, gesellt sich bisweilen ein mangelhaftes Studiendesign. Der Asiatische Elefant etwa bestand den Spiegeltest zunächst nicht. Bis sich herausstellte, dass der verwendete Spiegel einfach zu klein und zu weit entfernt aufgestellt war. Die Dickhäuter konnten sich darin nicht richtig erkennen, das Prinzip des Spiegels nicht verstehen. Vor einem 2,50 Meter großen Spiegel dagegen bestanden die Elefanten den Test mit dem Fleck auf der Stirn mühelos.

"Leben, das leben will"

Der Arzt und Theologe Albert Schweitzer hat sich von den Scheuklappen dieser anthropozentrischen Sicht auf die Tiere befreit, indem er eine radikal ethische Perspektive einnahm: "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will", lautet einer seiner berühmtesten Sätze. Damit machte Schweitzer die Wertigkeit eines Individuums nicht von hierarchisch gedachten Graden der Selbsterkenntnis oder von besonderen intellektuellen Fähigkeiten abhängig. Sondern von einem unterstellten, grundsätzlich vorhandenen Streben und Interesse, am Leben zu bleiben. Dieses vitale Interesse hat, nach Schweitzer, eine Gewitterfliege ebenso wie ein Mensch.

Beiden Ansätzen, dem verhaltensbiologischen ebenso wie dem moralischen nach Schweitzer, ist eines gemeinsam: dass sie so gut wie keine Auswirkungen auf unseren Umgang mit Tieren haben. Egal, wie sozial, schmerzempfindlich, schlau oder selbstbewusst sie sind: Wir nutzen sie nach Strich und Faden aus.

Das Tierschutzgesetz verlangt zwar "aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen", definiert dann aber nur die Leitplanken einer Ausbeutung bis aufs Blut. Auch dass der Staat laut Artikel 20a des Grundgesetzes die Tiere "schützt", ändert an der grundlegenden menschlichen Übereinkunft gegen die Tiere nichts. Die lautet: Wir dürfen nicht-menschliche Lebewesen massenhaft fangen, züchten und töten, um sie zu essen, um damit Geld zu verdienen und Medikamente zu entwickeln.

Das muss sich dringend ändern, und das Recht muss an die Neujustierung des Mensch-Tier-Verhältnisses angepasst werden. Nicht nur, weil die Tierindustrie und die Zerstörung der Artenvielfalt in erheblichem Maß zur ökologischen Degradierung des Planeten beitragen. Sondern, weil Tiere sind wie wir.

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