Der erste Eindruck: ganz schön kitschig! Eng umschlungen stehen die Figuren unter einem Regenschirm, von dem unablässig das Wasser plätschert. Seit gut 20 Jahren nimmt Mati Karmins Brunnenskulptur »Küssende Studenten« den wohl wichtigsten Raum ein, den die Stadt zu vergeben hat: den kopfsteingepflasterten Platz vor dem neobarocken, babyrosafarbenen Rathaus.
Was einiges über Estlands »Second City« sagt, wie ich finde: Zum Beispiel, dass sie eine Studentenstadt ist, im Alter jung geworden und aufgeschlossen für alle Begleiterschei- nungen des studentischen Lebens. Die vielen Cafés mit ihren erstaunlichen Tortensortimenten liefern offenbar den Treibstoff für die jungen Hirne. Passenderweise ist die größte Sehenswürdigkeit Tartus ein Hort der Naturwissenschaft: das alte Observatorium, das auf einem kleinen Hügel über der Altstadt thront.
Die Dorfstadt Tartu
Der zweite Eindruck: Dass Tartu mit seinen knapp 100000 Einwohnern im Grunde eine Art Dorfstadt ist, sieht man auch daran, wie schnell es aufhört, sich außerhalb des Zentrums stadtmäßig zu gebärden. So kommt es zu Vorstädten wie Supilinn, die noch fast komplett aus Holz gebaut und deren Straßen nach Gemüsen benannt sind. Zwischen Erbsen- und Kürbisstraße reihen sich die schnuckligsten Häuschen samt kleiner Gärten. Im 19. Jahrhundert sollten ihre Bewohner sich mit Gemüseanbau selbst versorgen. Daher auch der Name: Supilinn bedeutet »Suppenstadt«.
Das relativ zentrale Karlova dagegen, durch das ich schlendere, ist ein semiurbanes Holzhausviertel. Und mit dem Aparaaditehas ist die Kreativhochburg der Stadt nicht weit. Zu Sowjetzeiten produzierte diese Fabrik Regenschirme und Reißverschlüsse – als Tarnung für die geheimen U-Boot-Teile, die dort ebenfalls gefertigt wurden. Heute bieten zahlreiche Atelier-Shops eine schöne neue Designwelt.
Erwachen nach Ende der sowjetischen Vorherrschaft
Anderswo ist das sowjetische Erbe noch deutlich präsenter: Vor 1989 lagerte die Rote Armee Atomwaffen in den Wäldern außerhalb der Stadt, und ein gigantischer Militärflughafen machte den Vorort Raadi zu einem der wichtigsten potenziellen NATO-Angriffsziele. Ausgerechnet dort befindet sich heute das Estnische Nationalmuseum. Der lang gestreckte Bau wächst allmählich aus der ehemaligen Startbahn – eine eindrückliche architektonische Geste, die anzeigen soll, wie Estland nach Ende der sowjetischen Vorherrschaft durchgestartet ist. Der letzte Eindruck: So dörflich Tatu oft anmuten mag, hier hat es eindeutig internationales Format.
Fünf lohnenswerte Adressen in Tartu
- Tagurpidi Maja
Im umgedrehten Haus ist alles, genau: umgedreht. Für alle, die auf Reisen nach neuen Perspektiven suchen. - Café Werner
Altehrwürdige Institution, deren süße Kreationen ähnlich raffiniert sind wie die Hüte der weiblichen Kundschaft, die hier vornehm speist. - Tampere Maja
Baujahr 1737! In einem der ältesten Häuser des Zentrums haben ein Guesthouse mit sieben Zimmern und das finnische Kulturzentrum nebst Sauna Platz. Wärmstens zu empfehlen. www.tamperemaja.ee, DZ ab 40 € - Barlova
Wunderbare Nachbarschaftskneipe, deren Betreiber der Liebe wegen von Apulien nach Estland gezogen ist (fb.com/ karlovabarlova). Ein Gewinn für alle: Das beweist auch sein italo-estnisches Restaurant nebenan. - Pseudo-Tours
Jung, ein bisschen verrückt und kunstbegeistert – das sind die Guides, die sich unter »Pseudo- Tours« zusammengeschlossen haben. Expertise-Schwerpunkt: Street-Art.