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Großbritannien Margaret Thatchers neoliberale Revolution: Das brachiale Ende des Wohlfahrtsstaates

Bergarbeiterstreik in Großbritannien 1984/1985
Streikende Minenarbeiter gegen Polizisten: Nicht selten kämpfen Freunde und Verwandte gegeneinander, wie hier in South Wales 1984
© mauritius images / Robin Weaver / Alamy
Als die britische Regierung um Premierministerin Margaret Thatcher im Jahr 1984 Dutzende staatseigene Kohlegruben schließen und Zehntausende Bergarbeiter entlassen will, ruft deren mächtige Gewerkschaft zum Streik auf. Beide Kontrahenten stilisieren den Konflikt zum Entscheidungskampf über die Zukunft des Landes hoch

Es ist der 29. Mai 1984. Aus der grünen Hügellandschaft im englischen Yorkshire ragt in der Nähe der Ortschaft Orgreave wuchtig und dunkel ein Komplex aus Stein und Stahl empor: die Kokerei. Ihre Schornsteine und Rundbauten erinnern an die Wehrtürme einer mittelalterlichen Burg – einer belagerten Burg: Entlang der Zufahrtsstraßen stehen sich an diesem Tag zwei Armeen gegenüber wie Ritter und aufständisches Volk.

Auf der einen Seite haben sich mindestens 2500 Polizisten in ihren langen, blauen Mänteln und hochgewölbten Helmen formiert, ausgerüstet mit Klarsicht-Schilden und Schlagstöcken, zusammengezogen aus zehn Grafschaften. Berittene Einheiten, Hundestaffeln.

Auf der anderen Seite: mehr als 5000 Bergarbeiter in Jeans, Shirts, Lederjacken, Turnschuhen. Es sind mobile Streikposten, die aus ihren Minen angerückt sind, um zu verhindern, dass der Koks von Orgreave zur Stahlerzeugung ins nahe Scunthorpe transportiert wird; auf diese Weise wollen sie die dortigen Stahlwerke lahmlegen.

Seit das „National Coal Board“, die staatliche Verwaltung der Kohlegruben, Anfang März angekündigt hat, überall im Vereinigten Königreich unprofitable Zechen zu schließen, haben Zehntausende Kumpel die Arbeit niedergelegt, in Kent und Schottland, in Südwales und den Midlands. Es ist die größte Erhebung der jüngeren britischen Geschichte. Und ein Existenzkampf.

Die Polizisten ihre Schäferhunde von der Leine

Gegen neun Uhr kommt ein Konvoi von 35 Lastwagen in Sicht. Sie sollen den Koks in die Stahlwerke bringen. Der Anführer der Streikenden, der Gewerkschafter Arthur Scargill, ein schmaler, energischer Mittvierziger, auf dem Kopf eine Baseballkappe, versucht die Männer mit einem Megafon zu dirigieren.

Nun stürmen seine Streikposten vor, werfen Flaschen, Steine und abgerissene Zaunlatten auf den Konvoi. Die Fahrer der Lkw ducken sich in ihren Kabinen, deren Fenster mit Maschendraht gesichert sind. Polizisten stellen sich den Bergleuten in den Weg, Schlägereien brechen aus. Auch auf die Uniformierten gehen Wurfgeschosse herab: Steine, Eisenkugeln, Hölzer mit Metalldornen.

Daraufhin lassen die Polizisten ihre Schäferhunde von der Leine, die Tiere jagen in die Menge, beißen um sich. Reiter und Polizei zu Fuß greifen die Bergarbeiter an, machen Jagd auf Einzelne, knüppeln sie nieder – und gehen selber verletzt zu Boden, werden von Sanitätern unter speziellen Schutzhelmen durch den Kampflärm vom Feld geleitet. Roter Rauch von Feuerwerkskörpern weht über der Szenerie. Die Lastwagen kommen durch.

Knapp anderthalb Stunden später rollen sie beladen aus dem Tor der Kokerei. Diesmal unter völliger Stille. Eingepfercht und stumm stehen die Bergarbeiter hinter einem Kordon aus Uniformierten, die sie inzwischen von der Straße abgeschottet haben.

Als am Nachmittag ein weiterer Konvoi Orgreave ansteuert, beginnen die Kämpfe von Neuem. Insgesamt werden bis zum Abend 104 Polizisten und 28 Bergarbeiter verletzt, sie bluten aus Kopfwunden, haben Knochenbrüche; 82 Streikende sind in Haft. „Was wir jetzt in Süd-Yorkshire haben“, stellt Gewerkschaftsboss Arthur Scargill vor Reportern fest, „ist ein Polizeistaat wie in Chile oder Bolivien!“

An diesem 29. Mai dauert der Ausstand der britischen Bergleute bereits seit fast drei Monaten an. Das Ausmaß der Gewalt jedoch ist neu. Und es stellt nur den vorläufigen Höhepunkt eines Konflikts dar, der an Härte, Bitterkeit, Verzweiflung bis in den Winter und über ihn hinaus noch zunehmen wird.

Denn bei diesem Arbeitskonflikt geht es um mehr als höheren Lohn oder einzelne Gruben oder Arbeitsplätze – es ist ein Kampf um die Ordnung der Wirtschaft, ja der Gesellschaft.

Für die einen, vor allem Premierministerin Margaret Thatcher, beginnt hier ein Showdown, an dessen Ende die Wiedergeburt der Freiheit stehen soll, der Vernunft. Für die anderen, vertreten durch Arthur Scargill, ist es ein Gefecht um sozialen Ausgleich und Solidarität.

Beide Seiten haben gute Argumente und hehre Motive – und sind sich für keine Niedertracht zu schade. Beide Seiten verfügen über charismatische Anführer – deren Stärke allerdings kombiniert ist mit verheerender Borniertheit.

Und beide Seiten glauben fest daran, dass dies der Moment ist, an dem sich die Geschichte entscheidet. Weil eine neue Denkweise angetreten ist, die Welt zu verändern: der Neoliberalismus.

Margaret Thatcher
Beeinflusst von neoliberalen Ideen, macht Premierministerin Margaret Thatcher zwei Grundübel der britischen Wirtschaft aus: die Staatsbetriebe und die Gewerkschaften
© mauritius images / Julio Etchart / Alamy

1. April 1947, Mont Pèlerin, Schweiz. Hier am Berghang steht das schlossähnliche „Hôtel du Parc“ und bietet von der Terrasse eine grandiose Aussicht über den Genfer See und die Savoyer Alpen.

Ein abgelegener Ort in der unversehrten Schweiz, hoch über den Niederungen des vom Weltkrieg verheerten Europa. An diesem Tag versammeln sich in dem Hotel auf Einladung des österreichisch-britischen Wirtschaftswissenschaftlers Friedrich August von Hayek etwa 40 Intellektuelle, die eine ideologische Außenseiterposition verbindet: Sie sind überzeugte Marktwirtschaftler. Die schwindende Nachhut einer überholten Idee.

Denn fast weltweit werden Arbeitslosigkeit, Not und Krieg der vorangegangenen Jahrzehnte auf die Anarchie freier Märkte zurückgeführt. Seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gilt der kaum regulierte Kapitalismus als gescheitert, als im Kern unmoralisch – und untauglich, den Menschen ein erträgliches Leben zu sichern.

Gebannt blicken viele Intellektuelle auf das planwirtschaftliche Experiment in Stalins Sowjetunion. Sowie auf die USA, deren gigantische Infrastruktur- und Rüstungsprogramme in einen Nachkriegsboom gemündet sind. Und nach Großbritannien, wo ein eben verstorbener Gelehrter zu heiligengleicher Verehrung aufgestiegen ist: John Maynard Keynes, brillanter Vordenker einer politisch gesteuerten Wirtschaft.

Sich selbst überlassen, so Keynes, neigen Märkte dazu, in Abwärtsspiralen zu kippen. Dann müsse der Staat eingreifen und mit öffentlichen Ausgaben den Teufelskreis von mangelnden Investitionen, steigender Arbeitslosigkeit und sinkender Nachfrage durchbrechen.

Keynes sah solche Interventionen vor allem für Krisenzeiten vor; seine Nachfolger indes verwandeln die Nachfragesteuerung in ein Mittel der täglichen Wirtschaftspolitik.
Hayeks Gäste im „Hôtel du Parc“ sehen darin einen Irrweg. Auch wenn sie zum Teil höchst unterschiedliche Auffassungen vertreten, sind sie sich im Grundsatz einig: Die Lenkung der Wirtschaft über Staatsausgaben lehnen sie ab. Auf diese Weise die Nachfrage anzukurbeln führe nicht zum Erfolg, erst recht nicht umfassende Planung und Preiskontrollen, sondern solide Haushaltspolitik der Regierungen und möglichst große Freiheit für die Unternehmen. Dazu gehöre ein offener Wettbewerb – aber auch ein starker, unparteiischer Staat, der faire Spielregeln festlegt und durchsetzt.

Dieser letzte Punkt unterscheidet ihr Credo vom klassischen Liberalismus, der die Einmischung der Obrigkeit ganz und gar verwarf. Um sich davon abzugrenzen, haben einige der Anwesenden bereits zuvor ein Schlagwort für den Neuansatz gefunden: „Neoliberalismus“.

Arthur Scargill
Der Gewerkschaftsführer Arthur Scargill ist ein überzeugter Sozialist. Den Kapitalismus hält er selbst in gezähmter Form für grundsätzlich unmoralisch
© mauritius images / ZUMA Press

Nun gründen sie eine Art Club, die Mont-Pèlerin-Gesellschaft. Sie soll den Austausch liberaler Gedanken auf wissenschaftlichem Niveau fördern und für marktwirtschaftliche Prinzipien werben.
Bald werden erste Unternehmer auf die Gesellschaft aufmerksam. Obwohl sie die zum Teil komplizierten Theorien und Auseinandersetzungen nicht immer begreifen, ihnen zuweilen gar misstrauen, unterstützen sie die Vereinigung mit Geld und Empfehlungen. Ein Netz von Kontakten beginnt zu wachsen, das Gleichgesinnte in der westlichen Welt verbindet: eine Denkgemeinschaft von Kritikern am Vormarsch der Planer und Lenker.

Ende der 1940er Jahre scheinen sich deren Ideen unaufhaltsam durchzusetzen. In Großbritannien etwa geht die Labour-Partei unter Premier Clement Attlee daran, die „Kommandohöhen“ der Wirtschaft zu erobern – ein Ausdruck, den die sozialdemokratischen Politiker von Russlands Revolutionsführer Lenin übernommen haben.

Nach und nach verstaatlichen sie die Kohlegruben, die Stahlindustrie, die Eisenbahnen, die Telekommunikation. Sie errichten ein öffentliches Gesundheitswesen und eine staatliche Unfallversicherung, fördern Wohnungsbau und Bildung. Und prägen einen Begriff dafür: „Wohlfahrtsstaat“.

Oberstes Ziel aller Politik soll die Vollbeschäftigung sein. Da auch die konservative Opposition die Reformen akzeptiert, geht das System als „Attlee- Konsens“ in die Geschichte ein.
Es ist ein Programm der Hoffnung – entworfen, so ein Regierungsbericht, um die „fünf Riesen“ der alten, kapitalistischen Welt zu „erschlagen“: Mangel, Krankheit, Unbildung, Verwahrlosung und Arbeitslosigkeit.

Freiheit, so erklären die Reformer, bedeute zuerst Freiheit von Not. Damit haben sie die Mehrheit der Bürger, aber auch der Ökonomen hinter sich. Nicht jedoch die neoliberale Minderheit. Friedrich August von Hayek etwa sieht in persönlicher Not eine natürliche Unbill des Lebens. Freiheit versteht er primär als Freiheit vom Staat, von machtvollen Politikern. Begriffe wie „Wohlfahrt“ und „soziale Gerechtigkeit“ hält er für gefährliche Parolen – und Clement Attlees Politik für die Anfänge eines Totalitarismus, wie er Osteuropa beherrscht. Düster spricht Hayek von einem „Weg zur Knechtschaft“.

Bergarbeiterstreiks in Großbritannien 1984/1985
Streikende Bergarbeiter versuchen an einer Kohlegrube, den Polizeikordon zu durchbrechen
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Juni 1984, Thurcroft, Yorkshire. Ein wenig genießen die Frauen es sogar: das Abenteuer und die Unterbrechung ihres Alltags – den Stolz, mitzukämpfen um die Zukunft des Ortes. Auch hier sind die Bergarbeiter seit 14 Wochen im Streik. Schwerer aber wiegt die Sorge um das nackte Überleben der 5500-Seelen-Gemeinde wenige Kilometer nordöstlich von Orgreave.

Thurcroft ist eine Bergarbeitersiedlung mit backsteinroten Drei-Zimmer-Reihenhäusern hinter Blumen- und Gemüsebeeten, über denen der graue Rauchschleier der Kohleheizungen liegt.

Fast jede dritte Familie lebt von der Kohlegrube. Ohne sie wären auch die Gemüsehändler, Fleischer und Bäcker im Ortszentrum am Ende, die Bastlerläden, Videotheken, das Gartencenter, die Pubs. Thurcroft würde zerfallen.

Genau das fürchten die Frauen. In der Wohlfahrtsstation treffen sie sich, um Lebensmittelpakete für jene Familien zu packen, deren Ersparnisse der Streik bereits erschöpft hat. Sie verkaufen Tee und Kaffee und Bingo-Lose, sammeln Spenden von denen, die noch etwas haben. Fahren zu Demonstrationen, gehen selbst auf Streikposten.

Bei Wortgefechten mit Polizisten müssen sie sich beschimpfen lassen – und antworten mit Flüchen, die ihnen zu Hause nie über die Lippen kämen. Denn mit jedem Tag, den der Streik dauert, wächst die Wut. Nicht nur in Yorkshire.

Mindestens 70 der knapp 200 britischen Gruben seien von den Sanierungsplänen des staatlichen Coal Board bedroht, warnt Streikführer Scargill, der Präsident der Bergarbeitergewerkschaft „National Union of Mineworkers“.

Regierung und Coal Board streiten das ab – eine Lüge, wie sich später herausstellt: Geheime Kabinettspapiere sehen vor, binnen weniger Jahre 75 Zechen stillzulegen, 70 000 von 180 000 Arbeitsplätzen zu streichen. Angesichts eines Jahresverlusts von 250 Millionen Pfund soll die Förderung auf wenige profitable Standorte konzentriert werden.

Doch die NUM ist eine der mächtigsten Gewerkschaften Großbritanniens – zum einen, weil ohne Kohle Kraftwerke und Industrie lahmliegen; zum anderen, weil die Bergleute häufig in Siedlungen wie Thurcroft fest verwurzelt sind, die Loyalität zu ihrer Gewerkschaft von klein auf einsaugen.

Die NUM ist mehr als eine Interessenvertretung – so wie die harte, gefährliche Arbeit im Stollen mehr ist als ein Job. Beides ist Heimat, vermittelt Stolz und Geborgenheit. Zieht die Gewerkschaft in den Streik, ist das verbindlich. Streikbrecher werden als scabs geächtet, als „Schufte“. Nicht selten werden selbst deren Kinder geschnitten, müssen sie aus ihren Heimatorten fortziehen.

Arthur Scargill ist ein entschlossener, radikaler Anführer. Der Sohn eines kommunistischen Bergmanns ist in einer Siedlung nicht weit von Thurcroft aufgewachsen, anfangs in einer Hütte ohne Abort, Strom und warmes Wasser. Erst der soziale Wohnungsbau der 1950er Jahre verhalf der Familie zu einer menschenwürdigen Unterkunft.

Von der Mutter hat er den christlichen Glauben, vom Vater die Liebe zu Büchern, die politische Überzeugung – und den Beruf: Mit 15 Jahren war er das erste Mal auf Schicht; der Kohlenstaub nahm ihm die Sicht und verkrustete seine Lippen, die Arbeit war betäubend laut, neben ihm schufteten Krüppel – und das waren erst die Bedingungen über Tage. So kann, so darf die Welt nicht sein, empfand er. Scargill schloss sich den Jungkommunisten an.

Später ließ er den orthodoxen Kommunismus hinter sich, wurde Gewerkschafter, stieg in der NUM auf. Seine Grundüberzeugung aber blieb: Der Kapitalismus, selbst gezähmt, ist inakzeptabel. Wie viel sich für die Arbeiter auch verbessert haben mag, Gerechtigkeit kann allein der Sozialismus bringen.

Scargill hält Kompromisse für Verrat, das Establishment für absolut skrupellos und den Klassenkampf für ein Naturgesetz – ähnlich wie Friedrich August von Hayek die Überlegenheit des Marktes. Beide würden sich nie als Ideologen betrachten. Sondern als Männer, die illusionslos auf die Welt blicken.

Doch während Hayek sie gleichsam von oben beobachtet, aus der Perspektive des weltgewandten Wissenschaftlers, sieht Scargill sie von unten, mit den Augen eines Yorkshire-Bergmanns. Er kann reden, hat Charisma. 1981 wird er Präsident der NUM.

Margaret Thatcher wurde belächelt, auch geschnitten

Drei Jahre später, nach der Ankündigung des Coal Board, Gruben zu schließen, führt er die Gewerkschaft in den härtesten Kampf ihrer Geschichte. Um eine Zeche durch Streik lahmzulegen, reicht meist eine kleine Zahl örtlicher Posten; und wer ihre Kette quert und einfährt, macht sich zum Scab.

Um das zu verhindern, setzt die Gewerkschaft mobile Streikposten ein. Die Kommandos, 4500 Mann allein aus Yorkshire, schwärmen aus, um Belegschaften entfernter Minen oder die Arbeiter benachbarter Branchen zum Ausstand zu bewegen. Als Masse entsandt, erhöhen sie den psychologischen Druck auf die Arbeitswilligen – oder blockieren schlicht die Zufahrten zu den Werksgeländen.

Meist legt die Gewerkschaftsleitung wichtige Ziele fest, koordinieren örtliche Funktionäre die Freiwilligen, dann starten die Posten in Privatautos, Minivans oder gecharterten Bussen, um früh vor Schicht beginn in Position zu sein.

Für viele Streikende ist diese Mission zugleich die einzige Geldquelle, denn allein die aktiven Posten erhalten von der Gewerkschaft regelmäßig eine kleine Entschädigung; für mehr reicht die Streikkasse nicht.

Alle anderen sind auf ihre Ersparnisse angewiesen (die oft nur wenige Wochen vorhalten), auf die Hilfe von Freunden und Verwandten, auf Spenden und Suppenküchen. Dennoch bleiben von Beginn des Streiks an 80 Prozent der Bergarbeiter der Arbeit fern.

Ende Mai 1984 entscheidet Scargill, die Kommandos gegen die Kokerei von Orgreave einzusetzen. Doch dies ist denkbar ungünstiges Terrain, auf offenem Feld, ohne leicht zu blockierende innerstädtische Straßen. Der Kampf am 29. Mai 1984 endet mit einer Niederlage für die Streikenden. Aber Scargill ist entschlossen, in Orgreave den Sieg zu erzwingen. Später.

Bergarbeiterstreiks in Großbritannien 1984/1985
Vor der Kokerei im mittelenglischen Dorf Orgreave sind Hunderte Beamte positioniert. Als die Streikenden dort den Abtransport von Koks verhindern wollen, brechen Kämpfe aus, die als "Schlacht von Orgreave" bekannt werden
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17. Oktober 1973, Kuwait City. Seit elf Tagen führen Ägypten und Syrien Krieg gegen Israel. Nun haben sich in Kuwait die arabischen Ölminister versammelt und beraten, wie sie den beiden Bruderstaaten helfen können. Sie beschließen, ihren Ölexport als Waffe einzusetzen, um Israels westliche Verbündete zu treffen.

Nach einer sofortigen Senkung der Produktion um fünf bis zehn Prozent, je nach Land, werden sie das Ölangebot jeden Monat weiter drosseln – und manche Länder wie etwa die USA überhaupt nicht mehr beliefern.

Auf den Märkten bricht Panik aus. Zeitweilig schießt der Ölpreis um mehrere Hundert Prozent nach oben. Vor US-Tankstellen stauen sich die Autofahrer. Etliche Industrienationen rutschen in die Rezession, denn ihre Fabriken und Haushalte sind vom Öl abhängig. Der Preisschock verwandelt eine schwelende Misere in eine akute Krise. Die Krise des Wohlfahrtsstaats.

Über mehr als zwei Jahrzehnte war eine Kombination aus reguliertem Markt und aktivem Staat in den westlichen Industrieländern erfolgreich. Die Menschen hatten Arbeit, starke Gewerkschaften erkämpften wachsende Löhne und soziale Sicherheit. Familien kauften Waschmaschinen, Autos, TV-Geräte, reisten in den Urlaub, zogen in eine lichtere Wohnung, erwarben ein Haus.

Der Lebensstandard stieg auf ein Niveau, das am Ende des Weltkriegs nicht vorstellbar gewesen war. Der Keynesianismus schien sein Versprechen zu halten: Vom Staat gezähmt, brachte der Kapitalismus statt Not und Unsicherheit nun Freiheit und Überfluss.

Kaum jemand sah die Nebenwirkungen oder nahm sie ernst. Wie ein Fieber nistete die Inflation sich ein – während schleichend die Arbeitslosigkeit zurückkehrte. Denn die vielen Regulierungen und Subventionen hebelten Wettbewerb und Fortschritt aus.

Die Abgaben stiegen, später auch die öffentlichen Schulden, um den Ausbau des Wohlfahrtsstaats zu finanzieren. Die Wirtschaft verkrustete. Besonders ausgeprägt ist die Malaise in Großbritannien. Im Jahr 1973, als das Öl knapp wird, unterliegen Preise, Löhne, Dividenden staatlichen Kontrollen.

Viele Arbeitsplätze sind garantiert – so fahren beispielsweise auf Elektrolokomotiven nach wie vor Heizer mit, weil die Gewerkschaften durchgesetzt haben, dass selbst solche eindeutig überflüssigen Jobs erhalten bleiben müssen.

Viele Staatsbetriebe machen Verluste, ihre Maschinen sind im internationalen Vergleich veraltet, der Wohlstand ist geringer gewachsen, das Unternehmertum im Land in Verruf geraten.

Nun nutzt die NUM den Engpass bei der Versorgung mit Öl, um drastische Lohnerhöhungen zu fordern. Die Gewerkschaft schränkt die Kohleproduktion ein, bald muss Energie rationiert werden. In Geschäften und Büros erlischt schon am frühen Abend das Licht, Fabriken dürfen nur noch an drei Tagen in der Woche arbeiten, TV-Sender nach 22.30 Uhr kein Programm mehr ausstrahlen.

Erinnerungen an den Bergarbeiterstreik zwei Jahre zuvor werden wach. Wieder bleiben die Heizungen kalt, essen die Menschen abends bei Kerzenlicht. Im Fernsehen erklärt ein Minister, wie man sich am besten im Dunkeln rasiert.

Schließlich beraumt Premierminister Edward Heath von der Konservativen Partei Anfang 1974 Wahlen an, unter der Parole: „Wer regiert Britannien?“ Die Gewerkschaften oder die Regierung? Heath verliert – faktisch gestürzt von der NUM. Damit ist die Gewerkschaft im Zenit ihrer Macht.

Zugleich ist dies das Jahr, in dem Hayek den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhält. Und in dem eine mit Edward Heath abgetretene Ministerin die Lehre vom Mont Pèlerin für sich entdeckt: Margaret Thatcher.

Die 49-Jährige hat das Zeug zum Medienstar der Konservativen Partei. Sie ist hart und zupackend, und Anfang 1975 gelingt ihr ein überraschender Coup: Die Abgeordneten der Konservativen Partei wählen sie zur Oppositionsführerin.

Während die Krise sich verschärft, die Labour-Regierung einen Notkredit des Internationalen Währungsfonds beantragen muss, die Linke in zögernde Reformer und kompromisslose Sozialisten zerfällt und im Winter 1978 eine erneute Streikwelle das Land lähmt, Schulen schließen, der Müll sich auf den Straßen türmt, in Liverpool die Toten in Sammelhallen liegen, weil nicht einmal die Bestatter arbeiten, entwirft Margaret Thatcher die Grundzüge einer radikal anderen Politik. Dabei folgt sie Hayeks Hauptargument gegen Keynes: mangelnder Realitätssinn. Hybris.

Die Annahme, Politiker, Ökonomen und Fachbeamte könnten eine komplexe Volkswirtschaft steuern, erscheint Hayek schlicht anmaßend. Denn das „Regierungswissen“ einiger Mächtiger sei zwangsläufig geringer als die Kreativität, Findigkeit sowie die Orts- und Spezialkenntnisse von Millionen Unternehmern und Konsumenten. Je mehr Entscheidungsbefugnisse die Regierungen an sich zögen, desto schlechter die Ergebnisse.

Denn Gewinner und Verlierer gebe es ohnehin immer: Doch würden nach Hayeks Ansicht in einer liberalen Marktwirtschaft die Tüchtigen belohnt – in einer vom Staat gelenkten Ökonomie hingegen die am besten organisierten Interessengruppen, etwa die Eisenbahnergewerkschaft, die die Heizer auf den E-Loks durchgesetzt hat. Konkret ins Politische übersetzt bedeutet das: weniger Subventionen, weniger Steuern, weniger Regeln – sowie die Privatisierung von Staatsbetrieben.

Als vordringlich gilt Thatcher nicht die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern der Inflation. Die mächtigste aller Interessengruppen, die Gewerkschaftsbewegung, soll eingehegt werden. Unternehmergeist hingegen ist zu belohnen, Risikobereitschaft zu fördern.

Das sind Thesen, die selbst viele ihrer vom Attlee-Konsens geprägten Parteifreunde irritieren. Mancher beruhigt sich, dass es wohl Oppositionsrhetorik ist. Und schätzt ihre Bereitschaft zum Konflikt damit völlig falsch ein.

Bergarbeiterstreiks in Großbritannien 1984/1985
"Werft das Kernkraftswerksprogramm weg!" steht auf den Bannern, die streikende Minenarbeiter durch die Straßen tragen. Sie fürchten den Niedergang der Kohlegruben
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Margaret Thatcher – geboren 1925 als Tochter eines Gemischtwarenhändlers, der Wert legte auf Disziplin, Bildung, Selbstständigkeit – war strebsam, studierte in Oxford. Während die meisten Kommilitonen links waren, engagierte sie sich bei den Konservativen. Sie wurde belächelt, auch geschnitten. Und entwickelte das ausgeprägte Bewusstsein, ein Außenseiter zu sein.

Sie heiratete einen reichen Familienunternehmer, der ihre – für eine Frau ungewöhnlichen – Ambitionen akzeptierte. 1959 zog sie ins Parlament ein, machte sich einen Namen, wurde Ministerin für Bildung und Wissenschaft.

Sie passte ihre Aussprache an die der Oberschicht an, die Kleidung, das Auftreten. Blieb im konservativen Establishment dennoch eine Fremde: das Mädchen aus der Provinz, vom unteren Ende der Mittelschicht, mit extremen Ansichten. Aber auch mit taktischem Instinkt, Mut, redebegabt und rücksichtslos. Eine eigentümliche Nähe besteht zwischen Thatcher und Scargill: Beide sehen sich als Rebellen gegen die alten Mächte.

Was sie zu Gegnern macht, sind ihre Visionen. Scargill fordert ein besseres Leben für die Arbeiterklasse. Thatcher will, dass jeder, ob Arbeiterkind oder Krämerstochter, seiner Herkunft entkommen kann, Geld machen und es behalten darf. Scargill will eine gerechte Gesellschaft. Für Thatcher gibt es überhaupt keine Gesellschaft, nur Individuen und deren Familien.

1979 stellt sie sich zur Wahl. Sie will Premierministerin werden.

18. Juni 1984, Thurcroft, 5.30 Uhr. Wie jeden Morgen versammeln sich die mobilen Streikkommandos, um zu erfahren, was die Streikleitung als Nächstes plant. Die Gewerkschaftsführer koordinieren ihre mobilen Kommandos überaus vorsichtig: Erst unmittelbar vor der Abfahrt wird das Ziel der nächsten Auseinandersetzung mit der Polizei und Streikbrechern bekannt gegeben, damit niemand die Pläne verraten kann.

Heute geht es erneut nach Orgreave. Mehrere Dutzend Bergleute setzen sich in Marsch. Als die Gruppe die Kokerei erreicht, sind bereits Hunderte versammelt, und immer mehr treffen ein, aus ganz Yorkshire, aber auch aus Schottland, Wales, aus Kent – wohl mehr als 8000 NUM-Mitglieder. Ein weiterer großer Kokstransport ist angekündigt. Und Arthur Scargill ist entschlossen, ihn mit aller Macht aufzuhalten.

Auf der Gegenseite hat die Regierung mehr als 4000 Polizisten zusammengezogen: Trotz aller Geheimhaltung der Gewerkschaft weiß die Gegenseite um die Pläne der Streikleitung.

Gegen 8.15 Uhr trifft der erste Konvoi von Lastwagen, die Koks transportieren sollen, ein. Eine Welle von Streikenden wirft sich gegen den Polizeikordon. Doch der hält stand, öffnet sich mehrmals, um Berittene herauszulassen, die die Protestierenden zurückdrängen.

Steine fliegen. Polizisten mit Schilden und Knüppeln stürmen vor, verhaften Einzelne. Als der beladene Konvoi die Kokerei gegen 9.30 Uhr verlässt, kommt es erneut zu Zusammenstößen.

Danach setzt eine Pause ein, Stunden der Ruhe auf dem Schlachtfeld. Während die Polizisten an diesem heißen Sommertag in ihren Uniformen schwitzen, sonnen sich die Bergleute, spielen Fußball oder kaufen sich in einem nahen Supermarkt Getränke. Doch dann werden erneut Steine geworfen, rücken Polizisten in geschlossener Formation vor, jagen Reiter los, die Knüppel gezogen, und schlagen zu.

Wo sich die Fronten auflösen, treten und prügeln Arbeiter und Polizisten aufeinander ein, Verwundete und Bewusstlose liegen auf dem Boden, Verhaftete werden weggezerrt, Streikende fliehen in Panik, schieben sich an einem Bahndamm gegenseitig aus dem Weg.

Auf einem Schrottplatz finden die Arbeiter frische Wurfgeschosse, mindestens ein Auto geht in Flammen auf, ebenso erbeutete Knüppel und Schilde.

Schließlich verlagert sich die Schlacht in das Dorf Orgreave, wo Polizisten die Streikenden bis in die Häuser von Anwohnern verfolgen, die den Arbeitern Schutz gewähren. Ein Teil der Ordnungstruppe ist längst außer Kontrolle. Noch immer werden die Beamten mit Steinen, Glasscherben, wohl auch Brandsätzen beworfen.

Erst am Nachmittag klingen die blutigsten Kämpfe des gesamten Konflikts ab. Mehr als 90 Streikende sind verhaftet, 72 Polizisten sowie Hunderte Bergleute verletzt worden, darunter Scargill, der mit einer Gehirnerschütterung im Hospital liegt. Seiner Aussage nach wurde er zusammengeschlagen, der Polizei zufolge ist er gestürzt.

Bergarbeiterstreiks in Großbritannien 1984/1985
Durch Blockaden wollen Bergarbeiter die mit Koks betriebenen Stahlwerke lahmlegen und die Regierung so zum Einlenken zwingen
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So mancher Beobachter wähnt das Land nun am Rande eines Bürgerkriegs. Doch da Scargills Versuch, bei Orgreave eine große, symbolträchtige Blockade zu inszenieren, endgültig gescheitert ist, rückt er von seiner Brechstangentaktik ab.

Zwar schickt die NUM weiterhin mobile Streikposten aus – doch niemals mehr in dieser Masse. Das für britische Verhältnisse ungewöhnlich rigorose Vorgehen der Polizei hat die Streikenden schwer getroffen.

Dennoch hat Scargill in Orgreave den Kampf um die öffentliche Meinung verloren. Ein TV-Bericht zeigt eine Szene mit Steine werfenden Arbeitern, dann die Polizei; es entsteht (zu Unrecht, wie sich später herausstellt) der Eindruck, dass die Gewalt von den Streikenden ausgegangen ist.

Auch die Zeitungen berichten zumeist einseitig von der Gewalt der Bergleute. Premierministerin Thatcher spricht von einem Kampf zwischen der „Herrschaft des Rechts“ und der „Herrschaft des Mobs“.

Arthur Scargill macht es den Gegnern der NUM leicht. Er streitet selbst dann noch ab, dass es Ausschreitungen seiner Männer gegeben hat, wenn die unübersehbar sind. Da er in Journalisten grundsätzlich Agenten der Regierung sieht, fühlen Reporter sich zwischen den Streikposten wie in Feindesland.

Und während sich das Coal Board offiziell zu Gesprächen und Kompromissen über die geplanten Schließungen bereit zeigt (oft nur, um besser dazustehen – die Regierung ist gar nicht an einem Ausgleich interessiert), bleibt der NUM-Chef starr: keinerlei Schließungen.

Führer anderer Gewerkschaften sowie Labour-Politiker suchen zu vermitteln – und verzweifeln immer wieder an Scargills Unnachgiebigkeit. „Er will einen totalen Sieg“, stöhnt der Vorsitzende der Druckergewerkschaft, „und er wird damit die NUM zerstören.“

Bis heute ist umstritten, ob Scargill eine andere Wahl hatte. Seine Verteidiger meinen, Margaret Thatcher habe von Beginn an die scheinbar übermächtige NUM zerschlagen wollen, notfalls schrittweise. Seine Gegner argumentieren, er habe ihr erst durch seine Kompromisslosigkeit die Chance dazu gegeben.

Vor allem aber lässt er unter den Bergleuten nie eine Urabstimmung über den Streik abhalten – ob aus Sorge, sie zu verlieren, oder aus Selbstgerechtigkeit, oder weil er den Moment verpasst, bleibt ungeklärt.

Auf jeden Fall kostet ihn dieses Versäumnis wichtige Unterstützer, auch in den eigenen Reihen, etwa in dem traditionell gemäßigten NUM-Gewerkschaftsbezirk Nottinghamshire.

Dort arbeiten rund 30 000 Bergleute weiter, vielleicht aus Widerwillen gegen den Konfrontationskurs oder in der Hoffnung, von den Schließungen nicht betroffen zu sein. In Thurcroft wünschen sie diesen Streikbrechern Pestizide und Unfruchtbarkeit auf den Leib.

Auch in Nottinghamshire versucht Scargill, seine mobilen Streikposten aufzustellen. Doch die Polizei riegelt die Region systematisch ab: Uniformierte halten Busse und Autos an und zwingen die Fahrer, umzukehren.

Später wird bekannt werden, dass die Regierung Agenten losschickt, die in Nottinghamshire für eine Abspaltung von der NUM werben. Polizei und Geheimdienste bestechen Funktionäre, hören Hotels und Restaurants ab, die den Gewerkschaftsführern als Treffpunkte dienen, zapfen Telefone an, senden möglicherweise gar Provokateure aus, die Streikposten zur Gewalt verleiten sollen.

Führer der Hafenarbeitergewerkschaft lassen sich anscheinend auf heimliche Deals ein, um unter der Hand Importkohle ins Land zu bringen. Und Geschäftsleute bezahlen die Anwälte für arbeitswillige Bergarbeiter, die gegen einen Streik ohne Urabstimmung klagen.

Gleichwohl strahlt Scargill ungebrochene Zuversicht aus. Drei Tage nach der Niederlage bei Orgreave kommt die Sommersonnenwende, die Nächte werden wieder länger, die kalte Jahreszeit rückt näher – und mit ihr die Monate des größten Energiebedarfs.

„Die Zeit ist jetzt auf unserer Seite!“, lautet die Parole des Gewerkschaftschefs. Schaffen die Streikenden es bis in den Winter, werden sie siegen.

Zunächst aber wächst unter den seit Monaten unbezahlten Arbeitern die Not. Eltern wissen oft nicht, woher sie den nächsten Laib Brot, ein Glas Milch für ihre Kinder nehmen sollen. Ehen zerbrechen unter dem Druck. Mancher geht zurück an die Arbeit und ist lieber ein Streikbrecher, als zu hungern.

Derweil nehmen die Kohlehalden ab. Beide Seiten spielen auf Zeit: Geht zuerst der Regierung die Energiereserve aus – oder den Bergleuten die Durchhaltekraft?

5. Mai 1979, London, 10 Downing Street. Im blauen Kostüm und gemusterter Bluse mit Schleife steht Margaret Thatcher vor dem Amtssitz der britischen Premierminister, umringt von Journalisten. Am Tag zuvor hat sie die Unterhauswahl gewonnen – weil viele Briten einfach einen Neuanfang wollten.

Die neue Regierungschefin macht sich mit nahezu religiösem Eifer an ihre Mission. Das Kabinett senkt den Höchstsatz der Einkommensteuer von 83 auf 60 Prozent, den Eingangssteuersatz von 33 auf 30 Prozent – zum Ausgleich wird die Mehrwertsteuer angehoben. Um die Inflation zu bekämpfen, werden die Staatsausgaben reduziert. Enge Getreue von Margaret Thatcher erhalten strategische Posten; ein Mentor wird Minister für Industrie, ein ideologischer Mitstreiter Minister für Energie.

Dessen Auftrag lautet, das Netz von Kernkraftwerken auszubauen: ausdrücklich mit dem Ziel, Großbritannien weniger abhängig von der Kohle zu machen – und somit von der NUM.

Der Industrieminister soll die Privatisierung von Staatsbetrieben vorbereiten. Er heuert einen Investmentbanker an und setzt ihn an die Spitze des staatlichen Stahlkonglomerats British Steel: den fast 70-jährigen Ian MacGregor.

Zu der Zeit beschäftigt British Steel 166 000 Menschen und macht einen Jahresverlust von mehreren Hundert Millionen Pfund. MacGregors Lösung ist kompromisslos: Unprofitable Fabriken müssen schließen, die verbleibenden werden modernisiert. Innerhalb weniger Jahre drückt er die Belegschaft auf 71 000 Arbeiter – und schafft so einen der konkurrenzfähigsten Stahlkonzerne Europas.

Allerdings ist dies nur möglich, weil die Gewerkschaften der Stahlarbeiter bereits zuvor in einen Tausch eingewilligt hatten: Entlassungen gegen höhere Löhne für den Rest.

Ohne Kohle droht Großbritannien ein kalter Winter

Ermutigt von diesem Erfolg, kürzt der Energieminister Anfang 1981 die Subventionen für das National Coal Board, um so die Schließung unwirtschaftlicher Zechen zu erzwingen.

Doch anders als die Vertretung der Stahlarbeiter ist die NUM kompromisslos – und zudem siegessicher, seit sie Edward Heath aus dem Amt getrieben hat. Binnen weniger Tage legt rund die Hälfte der Kumpel die Arbeit nieder: ohne Urabstimmung und damit illegal.

Eine offene Provokation. Ohne Nachschub aber reichen die Kohlevorräte nicht aus, das Land über den Winter mit Strom zu versorgen. Regierung und das Coal Board lenken ein. Wieder haben die Bergarbeiter gesiegt.

Zugleich aber verschärft sich in Großbritannien die Rezession. Im Frühling veröffentlichen 364 Wirtschaftswissenschaftler eine Erklärung, die mit der Regierung abrechnet: Sie mache buchstäblich alles falsch und steuere das Land in eine Katastrophe. Mehrere Innenstädte in verarmten Regionen werden von Unruhen und Plünderungen erschüttert.

Während ihre Kritiker ein Ende der Einschnitte fordern und auf eine keynesianische Rettungspolitik drängen, bleibt Margaret Thatcher stur: Subventionierte Industriearbeitsplätze müssten verschwinden, damit langfristig wirtschaftliche „Jobs von morgen“ im Dienstleistungssektor entstehen könnten. Auch wenn die Rosskur härter ausfalle als erwartet, sei sie doch „ohne Alternative“.

Längst gilt sie selbst einigen ihrer Minister als verbohrte Ideologin, deren Festhalten an neoliberalen Rezepten weltfremd sei. Verächtlich sprechen etablierte Konservative von „dieser Frau“.

Ende 1981 ist sie so unpopulär wie kein Premier seit Einführung der Meinungsumfragen. Die Industrieproduktion ist um ein Viertel gefallen, das Bruttosozialprodukt geschrumpft, die Arbeitslosigkeit steigt rasant, die Inflation erreicht zeitweilig 22 Prozent.

Thatchers neoliberale Revolution scheint gescheitert, ihr Sturz und das Ende des Experiments nur eine Frage der Zeit. Da verschafft ihr eine Fehlkalkulation im Südatlantik eine Chance.

2. April 1982, Falkland-Inseln. Der karge Archipel 600 Kilometer vor der Küste Argentiniens (das die Inselgruppe für sich beansprucht) ist ein winziger Restposten des ehemaligen britischen Empire. 1800 Menschen leben hier sowie mehrere Hunderttausend Schafe. Um Geld zu sparen, hat London entschieden, das letzte Patrouillenschiff abzuziehen.

Das deutet die Militärjunta in Buenos Aires als Signal, dass die Briten ihre Rechte aufgeben. Innerhalb weniger Stunden besetzen argentinische Truppen die Inseln und hissen über dem wellblechgedeckten Hauptort Port Stanley ihre hellblau-weiße Flagge.

Einen Tag später steht Thatcher vor dem empörten Parlament der gedemütigten Nation. Und gibt eine unerwartet rabiate Antwort: Binnen 48 Stunden werde eine Vorhut der Royal Navy zur Rückeroberung der Inseln auslaufen.

Es ist ein aberwitziges Hasardspiel. Ohne Vorbereitung bringt das Militär eine Armada von 100 Schiffen und 26 000 Mann zusammen, um sie über fast 13 000 Kilometer in den südatlantischen Winter zu schicken und dort ein Landemanöver unter Feuer zu wagen.

Doch es geht um mehr als ein paar Felsen und abgelebtes Prestige. Es geht um Thatchers politische Zukunft – und damit um alles, an das sie glaubt. Anfang Mai beginnen die Kämpfe zur See, drei Wochen später an Land. Am 14. Juni kapitulieren die Argentinier auf den Falklands.

Mehr als 250 Briten sind gefallen und mehr als 650 Argentinier. Viele weitere wurden verwundet, verstümmelt, traumatisiert. Alles für einen Flaggenmast am anderen Ende der Welt.

Doch es macht aus der unbeliebten Reformerin eine Volksheldin: Der Falklandkrieg verleiht Margaret Thatcher eine Gewinner- Aura. Als sie sich im Jahr dar auf zur Wahl stellt, erlangt sie einen Erdrutschsieg.

Und sie ist nicht mehr allein. Auch anderswo sind wirtschaftsliberale Ideen auf dem Vormarsch. In den USA folgt Präsident Ronald Reagan diesem Konzept und senkt massiv die Steuern, in der Bundesrepublik regiert eine bürgerliche Koalition unter Helmut Kohl – und im fernen China hat Staatsführer Deng Xiaoping den Wechsel der Volksrepublik zum Kapitalismus eingeleitet.

Margaret Thatcher kann sich als Vorreiterin einer Bewegung fühlen. Mehr denn je ist sie entschlossen, mit den beiden Erzübeln der britischen Wirtschaft aufzuräumen, wie sie es sieht: den Staatsbetrieben und den Gewerkschaften.

Längst arbeitet ein geheimer Kabinettsausschuss daran, eine Strategie gegen die Bergarbeiter zu entwickeln: den „inneren Feind“, wie die Premierministerin in Anspielung auf den argentinischen Angriff bald sagen wird.

Der 25. Oktober bringt die Wende – zugunsten Thatchers

29. September 1984, London. Für die Regierung ist die Nachricht ein Schock: Die 16 000 Mitglieder der moderaten Steigergewerkschaft, also der Interessenvertretung der Grubenaufseher, haben mit großer Mehrheit dafür gestimmt, sich dem Streik der NUM anzuschließen; der Beginn des Ausstands wird auf den 25. Oktober festgelegt. Sind die Steiger nicht vor Ort, verbieten Sicherheitsvorschriften den Förderbetrieb. Auch die Minen in Nottinghamshire, in denen die meisten Kumpel trotz des Streiks ja weiterarbeiten, lägen dann still.

Die Schuld trägt Ian MacGregor. Der Mann, der innerhalb von drei Jahren British Steel saniert hat, ist anschließend an die Spitze des Coal Board berufen worden. Und setzt abermals auf Härte: Steiger, die sich von NUM-Streikposten aufhalten lassen, sollen ihren Lohn verlieren. Worauf die Grubenaufseher nun mit Widerstand reagieren.

Erbost verlangt Thatcher von Ian MacGregor, das Problem zu lösen.

Denn inzwischen breitet sich in einigen Kabinettressorts Untergangsstimmung aus. Die Kohlevorräte gehen bedenklich zurück. Mobile Streikkommandos verhindern immer wieder, dass Reserven dorthin gelangen, wo sie gebraucht werden. Beamte warnen, dass etliche Schulen bald mangels Heizmaterials schließen müssten – und dass wie zehn Jahre zuvor die Stromversorgung einbrechen könnte.

Im kleinen Kreis überlegt die Premierministerin, das Militär einzusetzen, um die Kohle zu transportieren. Unter dem massiven Druck der Regierung einigt sich MacGregor am 24. Oktober, einen Tag vor Streikbeginn, mit den Vertretern der Steiger: Er sichert unter anderem eine Überprüfung der angekündigten Grubenschließungen zu.

In der Annahme, einen Sieg für alle Bergleute errungen zu haben, sagen die Steiger ihren Ausstand ab. Für Scargill ist das Verrat: Er glaubt MacGregor kein Wort. (Zu Recht, die Zusage rettet nicht eine Zeche; dafür kommt der Verdacht auf, die Unterhändler der Steiger seien gekauft worden.)

Dennoch bringt der 25. Oktober die Wende – zugunsten Thatchers. Zum einen nimmt an diesem Tag ein TV-Team in Nordafrika eine Szene auf, die zwei Männer beim Bruderkuss zeigt. Der eine ist Libyens Diktator Muammar Gaddafi, als Förderer des internationalen Terrorismus im Westen gehasst wie kaum ein zweiter Staatschef. Der andere ist Roger Windsor, NUM-Geschäftsführer und Arthur Scargills engster Vertrauter. Vermutlich sollte er um Hilfe werben, und wahrscheinlich hat Gaddafi ihm Geld zugesagt. Das Bild wird zum Skandal, diskreditiert die Gewerkschaft für viele Briten endgültig, kostet sie Sympathien, Zusammenhalt.

Zum anderen entscheidet in London ein Richter, das Vermögen der NUM vorläufig zu beschlagnahmen, weil sich die Gewerkschaft geweigert hat, wegen der unterlassenen Urabstimmung eine hohe Geldstrafe zu bezahlen.

Mühsam gelingt es Scargill weiterzumachen, mithilfe von Darlehen und Spenden aus dem In- und Ausland. Britische Gewerkschaftsführer leihen ihm große Summen, in bar und auf guten Glauben. Arbeiterorganisationen aus Griechenland, Bulgarien und der Tschechoslowakei senden Dollarnoten. Besonders großzügig ist Frankreichs kommunistischer Gewerkschaftsbund CGT, der bereits zuvor Lebensmittelkonvois und Geld geschickt hat.

Streikende greifen arbeitswillige Kollegen an

Bald werden Hunderttausende Pfund dieser Spendengelder in Koffern, Plastiktüten und Pappkartons durch das Land transportiert, um Gehälter der Gewerkschafts angestellten und Strom zu bezahlen, Druckereikosten für Flugblätter, Rechtsanwälte, Sprit und Streikpostengeld sowie Hilfsleistungen für notleidende Familien.

Sowjetische Bergleute sammeln mehr als zwei Millionen Rubel, von denen zwei Schiffsladungen mit Essen und Kleidung gekauft werden – die der britische Zoll indes wegen fehlender Einfuhrlizenzen abweist.

Französische Aktivisten werfen tonnenweise für Großbritannien bestimmte Kohlelieferungen ins Meer, versenken mit im Zweiten Weltkrieg erprobten Unterwassersperren Frachter. In Australien erzwingen Bergarbeiter und Seeleute einen Ausfuhrboykott gegen das Königreich. Aus Italien erreichen lastwagenweise Spaghetti Yorkshire.

Doch schließlich beginnt der Widerstand dennoch zu bröckeln. Nach und nach kehren Tausende Bergarbeiter in die mittlerweile zum großen Teil von Polizisten geschützten Minen zurück.

Zwischen den Arbeitsbereiten und den Standhaften entstehen bittere Feindschaften, die die Gemeinschaften vergiften – und sich auch auf die jeweiligen Ehepartner übertragen.

Denn das Rückgrat der ausharrenden Mehrheit bilden nach wie vor die Frauen. Sie versorgen die im Straßenkampf zusammengeschlagenen Männer, führen Suppenküchen, protestieren, wenn wegen unbezahlter Rechnungen Strom und Gas abgestellt werden sollen. Sie lesen Kohlebrocken aus den Abraumhalden, um ihre Häuser zu heizen, und stehlen auf den Feldern Kartoffeln.

Am 13. November tritt der 90 Jahre alte Harold Macmillan, Thatchers Vorvorgänger als konservativer Premier, vor das Oberhaus. Beseelt von jenem klassenübergreifenden Patriotismus, der das Fundament des Attlee-Konsenses gebildet hatte, ruft er verzweifelt nach einer Einigung mit „den besten Männern der Welt, die die Armee des Kaisers und Hitlers Armee besiegt haben“.

Margaret Thatcher aber will davon nichts wissen. Für sie sind Männer wie Macmillan mitschuldig am Niedergang des Landes, an seinen Verkrustungen und sozialistischen Fieberträumen. Denn der lähmende Konsens sei den alten Eliten ja nicht aufgezwungen, sondern von diesen bereitwillig akzeptiert worden, und Thatcher verachtet eine solche Ausgleichspolitik, hält sie für bequeme Feigheit.

Der Streik verschärft sich. Scargills Männer greifen arbeitswillige Kollegen an, werfen Scheiben ein, zerstören Autos, töten Haustiere der Scabs. Am Morgen des 30. November warten zwei junge Bergleute auf einer Straßenbrücke in Wales auf eine Polizeieskorte mit einem prominenten Streikbrecher; als der Wagen unter ihnen passiert, wuchten sie einen Betonklotz über das Geländer. Der Fahrer ist sofort tot. Der Kampf um die Zukunft des Landes beginnt die britische Gesellschaft endgültig zu zerreißen.

Thatcher wird verehrt und gehasst

5. März 1985, Thurcroft. Die 800 Bergarbeiter, Frauen und Unterstützer, die sich hinter dem Karren mit dem großen Banner der NUM formiert haben, gleichen einem Trauerzug. Angehörige, Nachbarn, Veteranen säumen die Straße. Still setzt die Prozession sich in Bewegung; hin und wieder ertönt ein Lied. Viele haben Tränen in den Augen. Sie sind geschlagen, müssen nun in die Grube zurückkehren, ohne ihre Ziele durchgesetzt zu haben.

Ähnliches spielt sich vor Dutzenden Zechen ab: Da mehr als 50 Prozent der Bergleute aus Not zu Streikbrechern geworden sind, hat die NUM die Rückkehr zur Arbeit festgelegt – ohne eine Vereinbarung mit dem Coal Board. Das ist die bedingungslose Kapitulation.

Ein Jahr hat der Streik gedauert. Rund 20.000 Menschen sind verletzt, drei getötet worden. Knapp 10.000 Streikposten hat die Polizei verhaftet, 200 sind zu Gefängnisstrafen verurteilt worden.

Und immer standen in den Gemeinden Uniformierte ihren Freunden und Verwandten gegenüber (obwohl die Regierung es durch Truppenverschiebungen zu vermeiden suchte), machte mancher junge Polizist auf der Gegenseite seinen Vater aus.

Nun sind viele der Arbeiter hoch verschuldet, nicht wenige Familien haben ihr Heim verloren. Hunderte Bergleute sind entlassen worden, ohne Aussicht auf Wiedereinstellung. Von der Macht, mit der die Gewerkschaft einst den Einzelnen schützen konnte, ist wenig geblieben. Als die Männer einfahren, stellen sie in etlichen Gruben fest, dass es keine Mäuse mehr gibt. Ohne die Krümel aus den Esspaketen sind sie verhungert.

28. November 1990, London. In 10 Downing Street steht Margaret Thatcher mühsam gefasst vor den Mikrofonen. Sie sagt: „Wir sind sehr glücklich, dass wir das Vereinigte Königreich in einem sehr, sehr viel besseren Zustand hinterlassen als vor elfeinhalb Jahren, als wir hier eingezogen sind.“ Dann verabschiedet sie sich. Sie wirkt eher wie eine Siegerin als wie eine scheidende Regierungschefin, die gerade von den eigenen Leuten gestürzt wurde. Es ist das Ende einer Ära.

Nicht aber der liberalen Revolution. Der Putsch in der Konservativen Partei galt Thatchers zunehmend herrischer Radikalität, weniger dem Programm. Ihr Nachfolger John Major denkt ebenso neoliberal wie Tony Blair aus der Labour-Partei, der ihn 1997 ablösen wird.

Auch andernorts setzt sich der Glaube an den Markt durch, die Skepsis gegenüber dem Wohlfahrtsstaat und einer politisch gelenkten Wirtschaft.

Doch hat Margaret Thatchers Revolution Großbritannien wirklich in einem besseren Zustand hinterlassen?

Ihr Sieg gegen Arthur Scargill wird der britischen Gewerkschaftsbewegung nach und nach das Rückgrat brechen. Unaufhaltsam schwindet nun deren Macht, Arbeiterinteressen zu schützen – aber auch den Staat zu erpressen.

Scargills Männer erleben, wie seine Vorhersagen allesamt eintreffen: Als 1994 die Reste der Branche privatisiert werden, sind nur noch 16 Gruben mit 8000 Bergleuten geblieben.

Auf weniger drastische Weise werden Dutzende ineffizienter Staatskonzerne verkauft, darunter Betreiber von Häfen und Flughäfen, die Strom- und Wasserversorger, später die Eisenbahn und die Post sowie British Airways, British Gas und der Autobauer Rover.

Den Auftakt macht 1984 British Telecom, die frühere Telefonsparte der Post – ein Moloch, der manchmal Monate für einen neuen Anschluss braucht, Kunden als Bittsteller behandelt und nicht einmal ein ordentliches Rechnungswesen hat, weil niemand auf die Kosten achtet. Der Industrieminister baut den Staatsbetrieb zu einem Serviceunternehmen um und bringt es auf den Markt.

Dabei geht es nicht allein um Effizienz. Margaret Thatcher hat die Vision eines „Volkskapitalismus“, einer „Demokratie der Kapitaleigentümer“; jeder soll shareholder werden können, Arbeiterkind wie Krämerstochter.

Deshalb wirbt die Regierung vor allem um Kleinanleger – mit Erfolg: Gegen den Rat ihrer Gewerkschaft wollen 95 Prozent der British-Telecom-Belegschaft und mehr als eine Million Sparer die Aktien des Unternehmens zeichnen.

Bis 1990 steigt die Zahl der Aktienbesitzer dramatisch an. Ähnlich beim Immobilienbesitz: Die Regierung verkauft staatliche Häuser und Wohnungen zu günstigen Konditionen an die Mieter und macht sie so zu Eigentümern.

Zugleich aber verlieren Millionen ihren Job; erst Mitte der 1990er Jahre beginnt die Arbeitslosenquote dauerhaft zu sinken. Wo neue Stellen entstehen, vor allem im Dienstleistungssektor, in Call-Centern, Fast-Food-Restaurants und Auslieferungslagern, sind sie oft schlecht bezahlt – indes immer noch attraktiver als die Sozialleistungen. Die alten Industriezentren veröden, sind bald gezeichnet von Armut, Verfall, Kriminalität und Drogen.

Bei der später veräußerten Eisenbahn geht die Privatisierung zulasten der Qualität. Die unpünktlichen Züge sind verschmutzt, die Bahnhöfe überfüllt – doch die Fahrkartenpreise steigen. Allerdings setzt rund um die Metro pole London auch ein mächtiger Wirtschaftsboom ein. Banken, Versicherungen und die neue Computerbranche profitieren von massiven Deregulierungen; vor allem auf dem Finanzmarkt werden Vermögen verdient.

Niedrigere Steuern, steigende Gehälter und leicht zugängliche Kredite kommen nun auch der breiten Mittelschicht zugute. Für sie beginnt eine Ära des eifrigen Konsums, des zunehmenden Wohlstands. Die britische Wirtschaft wächst. Angesichts dieser positiven wie auch negativen Effekte fällt das Urteil von Ökonomen über Margaret Thatchers Reformen ausgesprochen zwiespältig aus.

Dennoch verbreiten sich neoliberale Prinzipien nach 1990 rasch weltweit. Viele Länder privatisieren in großem Maßstab Staatsbetriebe. Der Euro wird als antiinflationäre Hartwährung konzipiert, die Teilnahme an strenge Haushaltsdisziplin gebunden. In Deutschland reformiert die Bundesregierung den Arbeitsmarkt nach Thatchers Vorbild.

Güter- und Finanzmärkte werden dereguliert. Technologischer Wandel und Globalisierung sowie die Alterung der europäischen Gesellschaften lassen den Wohlfahrtsstaat zunehmend unhaltbar erscheinen. Zugleich aber wächst das Unbehagen am wiederbelebten Kapitalismus. Er erscheint kalt, brutal und unberechenbar.

Friedrich August von Hayek, der 1992 stirbt, hat sich gefragt, woher dieser Widerwille gegen ein System rührt, das verlässlich Wohlstand schafft – und woher die Hoffnung auf eine Obrigkeit, deren Planung doch regelmäßig versagt.

Seine Erklärung: Der Mensch habe den größten Teil seiner Evolution in kleinen, gefährdeten Horden gelebt und dabei einen moralischen Instinkt entwickelt, der Gleichheit und Fürsorge schätze, auf Vorausplanung und abgestimmtes Handeln setze. Privateigentum und Handel, abstraktes Recht, offener Wettbewerb und deutliche Vermögensunterschiede widersprächen diesem Instinkt.

Margaret Thatcher wird für ihre Verehrer zu einer der größten Engländerinnen überhaupt, denn sie habe den Niedergang des Landes abgewendet, den verkrusteten Sozialismus besiegt. Ihren Gegnern gilt sie dagegen als engstirnige Fundamentalistin, die aus blanker Ideologie Industrien vernichtete, Ungleichheit und rücksichtslose Gier zu Prinzipien der Gesellschaft erhob.

Als sie 2013 stirbt, säumen Tau sende Trauernde den Weg ihres Leichenzugs durch London. Andere singen „Ding-Dong, die Hex’ ist tot“.

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