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Dem Abstiegsteufel gerade so von der Schippe gesprungen

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_221110OVWEZLEI1553_1306_4c_1 © Oliver Vogler

Die Saison 2022/23 der Handball-Bundesliga ist zu Ende. Das Gute: Die HSG Wetzlar hat ihren Erstliga-Status behalten. Nun gilt es, die letzten eineinhalb Spielzeiten auf- und abzuarbeiten. Es geht zurück auf Los - auf den 19. Februar 2020.

Als Bundesliga-16. dem Abstiegsteufel gerade noch einmal von der Schippe gesprungen, gilt es letztmals einen Blick auf die Saison 2022/23 der HSG Wetzlar in der Handball-Bundesliga zu werfen. Bevor die Erstliga-Uhren wieder auf null, am besten auf alle Vorhaben vor Corona gestellt werden.

Die Trainer: Unter Benjamin Matschke ging die Formkurve bereits in der Rückrunde 2022/23 nach unten, da blieb nur der Februar-Coup bei den Rhein-Neckar Löwen (30:27) in positiver Erinnerung. Die Fragen nach dem körperlichen Zustand der Mannschaft und den Gründen für den Leistungsabfall blieben in der Saisonanalyse mit dem Hinweis auf die Cavor/Klimpke-Verletzungen weitegehend unbeantwortet. Die weiter stark verjüngte Mannschaft wurde mit Saison-Neubeginn spieltaktisch überfrachtet, Matchpläne beinahe täglich über den Haufen geworfen und mit jungen Akteuren kaum an den weiterbringenden Handball-Basics gearbeitet.

Nachfolger Hrovje Horvat machte das Team aufgrund abwehrtaktischer Umstellungen und auf die Spitze getriebener Flügellosigkeit noch orientierungsloser.

Das Interimsduo Jasmin Camdzic/Filip Mirkulovski hatte im Endspurt enorme Probleme, das Gift aus diesem existenzbedrohenden Cocktail zu filtern und zumindest noch den Status quo zu erhalten. Ihr hektisches Wechseln sorgte aber auch für keinen besseren Rhythmus, geschweige denn mehr Ruhe und Ordnung im Aufbau.

Höhen und Tiefen: Die 5:1-Punkte Ende September/Anfang Oktober gegen FA Göppingen, bei ASV Hamm-Westfalen und gegen TVB Stuttgart machten den Saison-Fehlstart zunächst vergessen, die 2:8 Punkte bis zum HSV-Match kosteten Benjamin Matschke dann aber den Job. Unter Nachfolger Horvat folgte ein 0:18-Punkte-Horror. Zwischen dem November-26:23 in Hannover interimsmäßig unter Camdzic/Mirkulovski und dem März-30:28 in Stuttgart lagen vier (!) Monate. Die zeitlich längste Negativserie in der Wetzlarer Bundesliga-Historie. Mit der Frühjahrsbelebung mit Siegen in Göppingen sowie gegen Lemgo und Hamm erfolgte zugleich die Rettung, aber bei Weitem keine Besserung. In Leipzig, in Kiel und gegen Magdeburg setze es jeweils 35 Gegentore und mehr; in 18 von 34 Spielen brachte es die HSG indes nur auf maximal 25 Treffer.

Das Personal: Die im Ansatz verfolgte Idee von sieben, acht Leistungsträgern sowie sieben, acht jungen Akteuren mit Entwicklungspotenzial als Backup dahinter muss als gescheitert betrachtet werden. Zum einen, da die vermeintlichen Führungsspieler ihre Funktion zu selten erfüllten; zum anderen, da das Gros der Akteure von der Bank spieltaktisch permanenten Verwerfungen unterworfen war. Spielmacher Magnus Fredriksen verlor unter Stress zu oft die ordnende Hand. Adam Nyfäll/Erik Schmidt versiebten am Kreis Chancen im Sekundentakt. Die Außen Mellegard/Becher bzw. Weissgerber/Novak waren im gebundenen Angriff oft das fünfte Rad am Wagen. Im Innenblock entdeckte Erik Schmidt den körperlosen »Handball-Libero« für sich. Hendrik Wagner erhielt im Angriff trotz seiner Fähigkeiten zu spät eine Chance. Stefan Cavor überdrehte nach seiner Verletzungspause ohne jeglich konzeptionelle Einbindung. Jonas Schelker steuerte nicht das Spiel von der Mitte aus, sondern forcierte ungeduldig Wildwest-Aktionen. Ganz zu schweigen von den Halbspielern Jovica Nikolic und Radojica Cepic, die für Erstliga-Ansprüche noch viel zu grün hinter ihren Handball-Ohren waren.

Die Nachbesserungen: Filip Kuzmanovski und Ole Klimpke ins Team geholt zu haben, war deren kämpferischer, deren Sich-nichts-gefallen-lassen-Mentalität geschuldet, brachte neben der noch immer vollkommen unverständlichen Nachverpflichtung von Drittliga-Kreisläufer Nikita Pliuto als ›Klimakleber auf der Bank‹ aber keinen qualitativen Mehrwert.

Die Fehleinschätzungen der Verantwortlichen: Bis zum besagten Februar 2022 war die Personalplanung zwar diskutabel, aber - in Abetracht des Budgets - nachvollziehbar. Kardinalfehler Nummer eins war, den unerwarteten Abgang von Olle Forsell-Schefvert nicht exakt mit gleich hoher Qualität zu kompensieren. Kardinalfehler Nummer zwei war, Stefan Cavor nach seiner Kreuzbandverletzung durch Vladan Lipovina zu ersetzen, obwohl dessen Spielweise absolut nicht mit der Handball-Philosophie von Trainer Matschke zu vereinbaren war. Kardinalfehler Nummer drei war, nach der Absage von Ian Weber als vorgesehenen Spielmacher-Backup von Magnus Fredriksen sich nicht um die durchaus möglichen Dienste (!) von Dominik Mappes bemüht zu haben. Im Falle von Forsell-Schefvert hat Trainer Matschke die Vorgabe der Clubführung mitgetragen, im Falle von Mappes persönlich sein Veto eingelegt.

Die Finanzen: Da der Vertrag von Trainer Benjamin Matschke schon im vergangenen April vorzeitig verlängert wurde und noch immer bei voller Bezahlung läuft und auch die Trainerkosten von Hrovje Horvat den Etat belasten, waren trotz extremer Abstiegsnot keine kostspieligen Nachverpflichtungen möglich. Zumal auch der Kuzmanovski-Transfer zusätzliche Kosten verursacht hat. Bezüglich eigentlich notwendiger Vertragsauflösungen für die benötigten personellen Nachbesserungen sind Geschäftsführer Björn Seipp und dem Sportlichen Leiter Jasmin Camdzic demnach die Hände gebunden.

Was nun? Die Verpflichtung des neuen Cheftrainers, der endlich kooperativ das 2020er-Vorhaben mit U 19, U 23 und TVH lebendig angeht, steht dicht bevor. Der zuletzt gehandelte Ex-Göppinger Hartmut Mayerhoffer soll sich nach dem Rückzug von Raul Alonso mit Ligarivale HC Erlangen einig sein, womit wieder alles für den Ex-Mindener Frank Carstens spräche. Die Verpflichtung eines neuen Kreisläufers, der diese Bezeichnung auf Kohlbacher-/Lindskog-Niveau auch verdient, über Qualität in Abwehr und Angriff verfügt, am besten noch in der Defensiv-Chefrolle eines Evars Klesniks, ist oberste Pflicht. Und dann bedarf es positionell noch die ein oder andere qualitative Wertsteigerung, die aber davon abhängt, welche Berater sich wie bei Radojica Cepic auf Veränderungen einlassen.

Personelle Puzzleteile, die zum Saison-Dilemma beigetragen haben: Der vorzeitig entlassene Trainer-Nachfolger von Kai Wandschneider, Benjamin Matschke (oben links). Im Sommer da, im Winter wieder weg: Cavor-Ersatz Vladan Lipovina (oben Mitte). Der abtrünnige Drei-Monate-Trainer Hrovje Horavt (oben rechts). Die überforderten Balkan-Youngster Jovica Nikolic und Radojica Cepic (unten links). Die Verzweiflungsnachverpflichtungen Nikita Pliuto (unten Mitte) und Filip Kuzmanovski (unten rechts). FOTO: VOGLER

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_230401OVWEZMIN3887_1306_4c_1 © Oliver Vogler
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